Stuttgart. „Unser Auftrag heißt: Nie wieder Faschismus und Krieg! – Domokratie, Solidarität und Frieden!“ Unter diesem Motto ruft ein Stuttgarter Bündnis für Samstag, 9. Mai, zu einer Demonstration zum Tag der Befreiung vom faschistischen Terror vor siebzig Jahren auf. Beginn ist um 13 Uhr in der Lautenschlager Straße. Die Schlusskundgebung ist für 14.30 Uhr am Mahnmal für die Opfer des Faschismus geplant.
Für die Mehrheit der Menschen in Europa bedeutete die Kapitulation der deutschen Wehrmacht die Hoffnung auf Frieden, Freiheit und Zukunft, heißt es in dem Aufruf. Nur in Westdeutschland sei das lange anders gesehen worden. Und weiter: „Zum 70. Jahrestag fordern wir, den 8. Mai endlich als Tag der Befreiung der Menschen und Völker Europas von Faschismus und Krieg angemessen zu begehen und ihn als bundesweiten gesetzlichen Feiertag einzuführen.“
Wir dokumentieren den vollständigen Aufruf im Wortlaut:
Der 8. Mai 1945 war der Tag der Befreiung vom faschistischen Terror und vom Krieg.
Die Befreiten von damals erlebten den 8. Mai als „Morgenröte der Menschheit“ wie es Peter Gingold, ein jüdischer Antifaschist und Kommunist, einst formulierte. An diesem Tag hatten die Nazis, ihre Förderer und Parteigänger den Krieg verloren. Für die Mehrheit der Menschen in Europa bedeutete er die Hoffnung auf Frieden, Freiheit und Zukunft.
Damals wurde dieser Tag überall in Europa als Freuden- und Feiertag begangen. Anders in Deutschland: in der westdeutschen Bundesrepublik war das offizielle Vokabular von Begriffen wie „Kapitulation“, „Niederlage“ und „Zusammenbruch“ geprägt. Es dauerte 40 Jahre, bis Bundespräsident Richard von Weizsäcker vom „Tag der Befreiung“ sprach und damit die Perspektive von der Sicht der Besiegten auf jene der Befreiten wechselte. Zum 70. Jahrestag fordern wir, den 8. Mai endlich als Tag der Befreiung der Menschen und Völker Europas von Faschismus und Krieg angemessen zu begehen und ihn als bundesweiten gesetzlichen Feiertag einzuführen.
Tatsächlich gibt es keinen Tag in der Geschichte Europas, der so viel Freude und Erleichterung ausgelöst hat, der gleichzeitig so teuer errungen werden musste, wie dieser 8. Mai 1945.
Mehr als 55 Millionen Menschen fielen Nazi-Terror, Holocaust und Vernichtungskrieg zum Opfer. Sie bezahlten den deutschen Griff nach der Weltherrschaft mit unvorstellbarem Leid und ihrem Leben. Die deutsche Wirtschaft, allen voran Chemie- und Rüstungsindustrie und Banken waren die Hauptgewinner von „Arisierung“, Krieg und der Ausbeutung von KZ-Häftlingen und ZwangsarbeiterInnen.
Die Hauptlast des Krieges und der Befreiung trugen die Menschen in der Sowjetunion.
Millionen alliierte Soldaten, Frauen und Männer aus dem Widerstand, PartisanInnen und Kriegsverweigerer haben für diesen Tag ihr Leben riskiert und geopfert. Sie alle kämpften als Teil der Anti-Hitler-Koalition für eine Welt ohne Kriege, Elend und Unterdrückung. Ihnen danken wir.
Ihr Einsatz hat den Menschen in Europa nach den bitteren und schmerzhaften Jahren der Verfolgung und Unterdrückung den Neuanfang, die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft, den Aufbau eines Lebens in Frieden, Freiheit und Vielfalt ermöglicht. Mit der Gründung der UNO und der Erklärung der Menschenrechte eröffneten sich weltweit neue Möglichkeiten für das friedliche und solidarische Zusammenleben der Menschen und Staaten.
Dieses Vermächtnis des 8. Mai 1945 ist heute mehr als gefährdet:
Der Frieden ist brüchiger denn je. In vielen Ländern der Welt wie in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in der Ukraine, in Libyen und anderen Ländern Afrikas toben Kriege. Während es 1945 hieß: „Nie wieder Krieg vom deutschen Boden!“ sind heute deutsche Waffen und auch wieder deutsches Militär fast überall beteiligt. Die Bereitschaft, „deutsche Interessen“ zur Sicherungen von Rohstoffen, ihren Transportwegen, Exportmärkten und Einflusssphären erneut mit militärischen Mitteln durchzusetzen, ist gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung in Regierung und Bundestag wieder politische Praxis geworden.
Regierung und Bundespräsident rufen zur Übernahme von mehr „Verantwortung“ auf und meinen damit mehr Aufrüstung und Militär.
Tatsächlich ist die konfrontative Politik gegenüber Russland, die Aufstellung einer NATO-Eingreiftruppe für Osteuropa und die Führung dieser „Speerspitze“ durch die Bundeswehr ein unverantwortliches Spiel mit dem Feuer.
Gleichzeitig erleben wir einen rasanten Aufstieg neofaschistischer Kräfte. So konnte die Naziterrorgruppe „NSU“ jahrelang unbehelligt eine blutige Spur faschistischen Terrors durch unser Land ziehen. Im Zuge der schleppenden Aufklärung dieser Verbrechen werden Hinweise auf Vertuschung und Verflechtungen mit Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden immer dichter.
Rassismus, Chauvinismus, Antisemitismus und Antiziganismus, Islamfeindlichkeit – alle möglichen Ideologien zur Begründung sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Ausgrenzung haben Konjunktur. In Parteien, sogenannten Kameradschaften und vermeintlichen Bürgerinitiativen versuchen rechte Kräfte dieses Potential zu organisieren und zu bündeln.
Die soziale Spaltung der Gesellschaft verschärft die Angst vor dem Abstieg in die Armut und ist zunehmend mit der Bereitschaft zu gesellschaftlicher Ausgrenzung und Gewalt verbunden. Wir erleben, dass Grundrechte immer weiter eingeschränkt werden und wir unsere Privatsphäre kaum noch schützen können.
Das Vermächtnis und der Auftrag des 8. Mai gebieten es, die Forderung „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!“ in den Mittelpunkt aller politischen Kämpfe zu rücken.
Die vielen Opfer, die für den Tag der Befreiung erbracht werden mußten, geben uns diesen Auftrag:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens ist unser Ziel.“ So lautete der Schwur der befreiten Häftlinge von Buchenwald.
Diesem Schwur fühlen auch wir uns weiterhin verpflichtet:
Nie wieder Faschismus und Krieg!
Die UnterzeichnerInnen:
Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart & Region (AABS) ● Antifaschistische Aktion (Aufbau) Stuttgart ● Antifaschistisches Bündnis Kreis Esslingen ● Antifaschistische Gruppe Göppingen ● Anti-faschistische Jugend Rems-Murr (AJRM) ● Arbeitskreis Asyl Stuttgart ● Backnanger Initiative für Frie-den und Abrüstung ● Bruchsaler-Friedensinitiative ● DFG – VK Baden-Württemberg ● DGB Stadtverband Stuttgart ● Die LINKE Baden Württemberg und Stuttgart ● DKP Baden Württemberg ● Freundschafts- und Solidaritätsverein Stuttgart e.V. (DIDF Stuttgart) ● Friedensnetz Baden-Württemberg ● Gesellschaft Kultur des Friedens ● Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e.V. ● IG Metall Esslingen ● IPPNW Regionalgruppe Stuttgart ● Linksjugend[´solid] Baden-Württemberg u. Ortenau ● Multicolor e.V. ●NaturFreunde Landesverband Württemberg e.V. ● Ohne Rüstung Leben ● Pax Christi Rottenburg-Stuttgart ● Rote Peperoni – sozialistische Kinderorganisation ● Stadtjugendring Stuttgart e.V. ● ver.di Jugend Stuttgart ● Ver.di Landesbezirk Baden-Württemberg ● VVN – Bund der Antifaschisten Baden-Württemberg KVs Stuttgart, Heidelberg u.a. ● Waldheim Gaisburg e.V. ● Waldheim Stuttgart e.V. – Clara-Zetkin-Haus
Das Antifaschistische Aktionsbündnisses Stuttgart und Region (AABS) gehört zu den Unterstützern, hat jedoch zusätzlich einen eigenen Aufruf verfasst, den wir hier dokumentieren:
Erinnern heißt kämpfen!
Vor 70 Jahren haben die alliierten Staaten der „Anti-Hitler-Koalition“ den deutschen Faschismus militärisch in die Knie gezwungen.
Am 8. Mai 1945 blieb den obersten Rängen der Wehrmacht nach fast sechs Jahren des Krieges nur noch die bedingungslose Kapitulation. Die faschistische Terrorherrschaft über ganz Europa, der von Deutschland ausgehende Weltkrieg, fanden ihr endgültiges Ende. Millionen von Menschen wurden bis dahin in der Vernichtungs-Maschinerie der Nazis umgebracht, Millionen mussten für die Befreiung ihr Leben lassen.
Der 8. Mai steht heute in zahlreichen Ländern für die Befreiung von Faschismus und Krieg. Der Tag lädt zum Feiern und mahnt zugleich vor der noch längst nicht gebannten Gefahr von Rechts. Wir sind heute weit davon entfernt, in einer Gesellschaft des „Friedens und der Freiheit“ zu leben, wie es sich die KZ-Häftlinge von Buchenwald in ihrem gemeinsamen Schwur einst ersehnt haben.
Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Rassismus und soziale Ausgrenzung sind nach wie vor gegeben. Solange die Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit von den Profitinteressen des Kapitals bestimmt werden, gehört die Spaltung der Menschen und die Suche nach Sündenböcken zu den unausweichlichen Folgen. Hauptsache die Verwertungsspirale läuft munter weiter. Kein Wunder, dass die junge Bundesrepublik nach dem deutschen Faschismus noch immer von Nazitätern und ehemaligen Profiteuren des Regimes durchsetzt war. „Entnazifizierung“? Fehlanzeige!
Und auch heute ist der Staat weit davon entfernt, konsequent gegen Faschisten vorzugehen. Staatlich gedeckter Naziterror wie im Falle des NSU-Netzwerks und ein Polizeiapparat, die bei rechten Umtrieben immer wieder Nachsichtigkeit zeigt, machen eines deutlich: Wenn es darum geht, Nazis zu stoppen, die regelmäßig für die geschichtliche Reinwaschung des Faschismus auf die Straße gehen, wenn den rassistischen Stimmungen gegen Flüchtlinge, oder den Aufmärschen homophober Fortschrittsfeinde wirklich etwas entgegengesetzt werden soll, kann dieser Staat kein Ansprechpartner sein. Antifaschismus geht nur selbstbestimmt und konsequent!
Es liegt an uns selbst, Bündnisse zu schmieden, um eine breite Front gegen die rechte Gefahr aufzubauen – gemeinsam mit allen, die aufrichtig für ein solidarisches Zusammenleben einstehen.
Am 8. Mai stehen wir zusammen, um an das zu erinnern, was nie vergessen werden darf. Wir schauen gemeinsam nach vorne, um den neuen Angriffen von Rechts mit gemeinsamer Stärke zu begegnen.
Heute wie damals: Kein Fußbreit dem Faschismus!
Folge uns!