Kommentar von Anne Hilger – Stuttgart. Die jüngste „Demo für Alle“ war die bisher größte in Baden-Württemberg. Doch Grüne, SPD und Betroffene duckten sich einmal mehr weg, statt für den neuen Bildungsplan der eigenen Landesregierung und die Akzeptanz sexueller Vielfalt zu werben. Dabei sollten sie nicht tatenlos zuschauen, wenn sich auf Stuttgarts Straßen und Plätzen Rückwärtsgewandte und rechte Rattenfänger breitmachen.
Über 4000 Menschen stemmten sich am Sonntag, 21. Juni, in Stuttgart gegen die Gleichstellung von Homosexuellen. Sie werten sie aus schwer nachvollziehbaren Gründen als Angriff auf ihr eigenes Lebensmodell. Es geht ihnen gegen den Strich, dass schwule, lesbische oder transsexuelle Menschen nicht mehr diskriminiert werden sollen und Schulen den Auftrag erhalten, darüber aufzuklären, dass Menschen verschieden und dennoch gleichwertig sind, dass es unterschiedliche Neigungen und Lebensweisen gibt.
Der merkwürdigen Mischung aus „besorgten Eltern“, fundamentalistischen Christen, Rechtspopulisten, Nationalisten und Neonazis stellten sich höchstens 400 meist junge AntifaschistInnen entgegen. Wie so oft sahen sie sich einer martialisch auftretenden Polizei gegenüber und wurden sofort ausgebremst. Es hagelte Anzeigen. Kriminalisierung und Stafverfolgung dürften den Kritikern der „Demo für Alle“ erneut gewiss sein.
Der Kulturkampf lässt sich nicht ignorieren
Die Landes-Chefin der Grünen Jugend sprach bei der Auftaktkundgebung. Doch sonst waren kaum Mitglieder der Grünen oder der SPD zu sehen. Das ist erstaunlich. Schließlich richtet sich der Protest ja gegen den Bildungs- und Aktionsplan ihrer Landesregierung. Doch die beiden Koalitionsparteien scheinen fest entschlossen zu sein, den von Rechts befeuerten Kulturkampf auf Stuttgarts Straßen zu ignorieren. Auch die Betroffenen, organisiert etwa im CSD-Verein, stellen sich nicht öffentlich der Diskussion. Sie tauchen stattdessen in die Vorbereitung ihres eigenen Umzugs in bunten Kostümen durch die Stadt am 25. Juli ein.
Dabei ist durchaus brisant, was sich in Stuttgart unter dem Label „Demo für Alle“ versammelt. Da sind Menschen – wohl meist christlicher Orientierung -, die von den gesellschaftlichen Veränderungen verunsichert sind und ernsthaft schädliche Einflüsse auf ihre Kinder befürchten. Dennoch scheuen sie sich nicht, die ahnungslosen Kleinen zu ihren Demos mitzubringen und sie für ihren Protest zu instrumentalisieren.
Rechte machen sich Ängste konservativer Eltern zunutze
Transparente, Plakate und Vokabular der Bildungsplangegner offenbaren eine verstörende Weltsicht. Da ist von „Frühsexualisierung“ die Rede, da wird Homosexualität mit Pädophilie gleichgesetzt oder als Krankheit betrachtet, mit der man sich anstecken und von der man geheilt werden kann. Offenbar glauben manche Leute, Menschen könnte eine bestimmte sexuelle Orientierung anerzogen werden – und dazu, dass dies irgendwelche dunklen Mächte auch beabsichtigten. Es geht in diesem Kulturkampf weniger um Überzeugungen als um eine unterschiedliche Wahrnehmung der Realität. Welche Phantasien müssen jemanden quälen, der mit einem Transparent „Kein Shades of Gray im Unterricht“ durch die Gegend spaziert oder skandiert „Kinder brauchen Liebe, keinen Sex“.
Wehe dem jungen Menschen, der in eine solche Familie hineingeboren wird und irgendwann entdeckt, nicht heterosexuell zu sein! Doch das ist nur eines der Probleme der Demos gegen den Bildungsplan. Ebenso schlimm ist, dass sich die rechtspopulistische und nationalkonservative AfD, aber auch die NPD, PI (Politically Incorrect) oder die „Identitären“ die Ängste mancher Eltern zunutze machen und versuchen, eine neue rechte Bewegung aus der Taufe zu heben.
Landesregierung unterschätzt die Gefahr
Man muss den Kopf schütteln, dass der baden-württembergische Verfassungsschutz in seinem Jahresbericht 2014 von „vermeintlich rechten Allianzen“ spricht – aber nur, um der linken Szene den Hang zu Verschwörungstheorien zu unterstellen. Das Landesamt selbst, das weiterhin Zeitungsausschnitte über so brandgefährliche Parteien wie die DKP sammelt, scheint sich nicht die Mühe gemacht zu haben, eigene Erkenntnisse über die Bildungsplangegner und ihr Umfeld zu gewinnen. Zumindest nimmt es in seinem Jahresbericht auf die „rechten Allianzen“ inhaltlich keinen Bezug, sondern nur in seinen Betrachtungen über die linke Szene. Kein Wunder, dass der Behörde weiterhin der Ruf vorauseilt, auf dem rechten Auge sehschwach zu sein.
Dabei ist bereits eine weitere „Demo für Alle“ geplant. Am 11. Oktober wollen die Bildungsplangegner erneut durch Stuttgart marschieren. Dann gibt es wieder Gelegenheit, sich einen Eindruck von ihnen zu verschaffen. Sozialdemokraten, Grüne, Betroffene und ihre Freunde könnten an diesem Tag für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transsexuellen und Transgendern – kurz: für den Bildungs- und Aktionsplan der Landesregierung – demonstrieren. Wenn sie nicht die Sorge um das Stuttgarter Klima umtreibt, dann vielleicht wenigstens die bevorstehende Landtagswahl.
Siehe auch „Neuer Protest gegen Demo für Alle“
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