Das Stuttgarter Amtsgericht verurteilte heute einen Antifaschisten wegen vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung, Verstoßes gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz, Störens von Versammlungen und des Mitführens von Waffen auf Versammlungen zu sechs Monaten Gefängnis auf zwei Jahre Bewährung und einer Geldstrafe von 800 Euro zuzüglich der Gerichtskosten. Er soll eine Tränengasgranate in eine NPD-Kundgebung geworfen haben.
Kundgebung
Zuvor hatten sich am frühen Morgen des 28. März 2014 zwanzig AntifaschistInnen in der Stuttgarter Innenstadt versammelt. An der Ecke Kronprinzen-/Büchsenstraße hielten sie eine antifaschistische Kundgebung ab. PassantInnen wurden mit Transparenten, einem Infotisch, Redebeiträgen und mit Flyern auf den Anlass aufmerksam gemacht. Die Polizei war mit drei Fahrzeugen und einigen Beamten im Einsatz. Ein Polizeibeamter filmte die AntifaschistInnen ab. Begründung: In einem Redebeitrag soll zweimal das Wort „Bullen“ gefallen sein. Die Personalien der OrdnerInnen wurden ohne eine Begründung notiert. Die Rechtsgrundlage für dieses fragwürdige polizeiliche Vorgehen liegt im Dunkeln.
Rückblick
Am 30. Juli 2012 versuchte an dieser Stelle die NPD, bei einer bundesweiten Kundgebungstour das erste Mal seit 2006 wieder eine öffentliche Veranstaltung in Stuttgart durchzuführen. Mitten in der Stuttgarter Innenstadt wollten die Faschisten eine mehrstündige Kundgebung abhalten. Mehrere hundert AntifaschistInnen belagerten die Kundgebung der Neonazis. Mit viel Lärm und faulem Obst machten sie deutlich: Nazis sind in Stuttgart nicht erwünscht. Die Polizei schützte die Nazitruppe mit rund 600 Beamten und setzte einen Teil der Nazipropaganda durch. Die Einsatzkräfte gingen brutal gegen die GegendemonstrantInnen vor und verletzten sie teils schwer. Rund 50 NazigegnerInnen wurden über mehrere Stunden hinweg ohne Angabe von Gründen in einem Polizeikessel am Rotebühlplatz festgehalten.
Prozess
Vor dem Stuttgarter Amtsgericht wurde heute ein Antifaschist angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, an jenem 30. Juli 2012 eine Tränengasgranate in die NPD-Kundgebung geworfen zu haben, so dass die Kundgebung der NPD daraufhin für mehrere Minuten unterbrochen werden musste. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft warf dem 25-jährigen Erzieher vorsätzliche gefährliche Körperverletzung, Verstoß gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz, Stören von Versammlungen und das Mitführen von Waffen auf Versammlungen vor. Drei Polizeibeamte und zwei NPD-Demonstranten sollen beeinträchtigt geworden sein. Sie klagten über ein brennendes Gefühl auf der Haut und in den Augen. Unter anderen hat ein Polizeikameramann einen Strafantrag gestellt.
Er gab vor Gericht an, nicht gesehen zu haben, wer die Gasgranate geworfen hatte. Anhand der polizeilichen Videoaufnahmen sei der Aktivist später von einem Stuttgarter Staatsschutzbeamten identifiziert worden. Auf dem Video soll zu sehen sein, wie zwei Personen ihre schwarzen Jacken auszogen und in einer Tasche verstauten. Der ermittlungseifrige Beamte wollte dem Gericht sein Beweismaterial auf seinem eigens mitgebrachten Laptop zeigen. Es blieb beim Versuch einer Vorführung. Nach minutenlangen Versuchen, das richtige Passwort einzugeben, gab der Beamte auf. Die Richterin spielte anschließend das Video auf dem gerichtseigenen PC ab. Die Öffentlichkeit hatte keinen Einblick in das Videomaterial.
Die Richterin wollte den Angeklagten erkannt haben. Zwei Kolleginnen des etwas vergesslichen, eifrigen Ermittlungsbeamten – er hatte nicht nur das Passwort für seinen PC vergessen, sondern auch die Tatsache, dass er einen Strafantrag wegen Körperverletzung gestellt hatte – sollen über einen 30 Sekunden andauernden Reizhusten geklagt haben. Es war von leichter „temporärer Atemnot“ die Rede. „Es war nicht so, dass der Kreislauf in Gefahr war“, aber halt schon sehr unangenehm.“ Geredet habe er mit seinen Kolleginnen darüber nicht, aber gesehen habe er es. Auf Nachfrage des Verteidigers, ob er wisse, wie der Wurfkörper funktioniert, antwortete der Beamte spontan mit einem Ja. „Das hatten wir in der Ausbildung“.
Er bestätigte, dass CS-Gas auch von der Polizei eingesetzt werde und er Kenntnis darüber hätte, wie es wirkt. Seine beiden verletzten Kolleginnen habe er nicht in der Nähe der NPD gesehen. Auf die rechtsanwaltliche Nachfrage, ob sich bei der Polizei jemand darüber Gedanken mache, ob der Einsatz von Pfefferspray und ähnlichen Stoffen Auswirkungen auf unbeteiligte Demonstranten hat, antwortete der Beamte, dass er darüber keine Kenntnis habe. Er gab weiter an, dass Pfefferspraysubstanzen bei Wasserwerfereinsätzen von der Polizei beigemischt würden. Der Strafverteidiger wies darauf hin, dass keine Explosion im Sinne des Sprengstoffgesetzes stattgefunden habe. Ein weiterer Polizeizeuge gab an, er habe einen fliegenden Gegenstand wahrgenommen. Wer der Werfer gewesen sei, habe er nicht gesehen.
Die Staatsanwältin Neumann sah alle Anklagepunkte als erwiesen an. Die einzige Frage sei, ob der Angeklagte der Werfer gewesen sei. „Ich habe keine Zweifel“, so ihr kurzes Plädoyer. Der Angeklagte sei klar hinter dem Transparent zu sehen gewesen. Die Auswirkungen von CS-Gas seien sehr erheblich, und es könne erhebliche Verletzungen hervorrufen. Alle Straftatbestände seien erfüllt. Der Angeklagte habe eine „erhebliche kriminelle Energie“ bewiesen. Sie beantragte eine 10-monatige Gefängnisstrafe, die auf zwei Jahre Bewährung ausgesetzt werden könne. Darüber hinaus beantragte sie eine Geldstrafe von 1300 Euro und die Auferlegung der Gerichtskosten.
Rechtsanwalt Christos Psaltiras wies in seinem Schlussplädoyer darauf hin, dass die Verletzungen im untersten Bereich blieben. Die relativ geringen Auswirkungen seien auch an dem Umstand abzulesen, dass sich ein Polizeibeamter nicht mal mehr daran erinnern konnte, einen Strafantrag gestellt zu haben. 30 Sekunden Husten, gerötete Augen, kurze Atembeschwerden, keine Arztbesuche, keine Dienstunfähigkeit, reines Unwohlsein. Allenfalls könne es sich um eine einfache Körperverletzung handeln. Tat- und schuldangemessen sei eine Geldstrafe.
Für die Schlusserklärung des Angeklagten (zum Lesen bitte anklicken!) gab es einen langanhaltenden Applaus der rund dreißig ZuhörerInnen.
Das Urteil der Richterin Reschke-Bruckmaier lautete auf „schuldig in allen Anklagepunkten“. Strafmaß: sechs Monate Gefängnis auf zwei Jahre Bewährung und eine Geldstrafe von 800 Euro zuzüglich der Gerichtskosten.
In ihrer Urteilsbegründung führte sie aus, es seien Polizisten verletzt worden, die „zum Schutz von uns allen“ im Dienst gewesen seien. Entlastend habe sie berücksichtigt, dass die Tat politisch motiviert gewesen sei. Der Angeklagte sei schon „ein bissle profimäßig vorgegangen“. Eine „kriminelle Energie will ich das aber nicht nennen.“ Das Urteil solle den Angeklagten davon abhalten, zukünftig weitere Straftaten zu begehen. Sie habe Verständnis für seine Motivation. Das gebe ihm aber nicht das Recht, andere Menschen anzugreifen.
Bilder vom 30. Juli 2012
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