Zwei solche Aufmärsche gab es schon – mit großem Polizeiaufgebot und verstörenden Parolen wie „Kinder brauchen Liebe, keinen Sex“, „ Stoppt Pornografie an Schulen“ oder „Familientod = Volkstod.“ Die Bildungsplan-Gegner und ihre rechtslastigen Unterstützer wollen am Samstag, 5. April, ein drittes Mal auf die Straße gehen, um sich auf dem Stuttgarter Marktplatz gegen eine „Sexualisierung“ ihrer Kinder zu wenden. Sie kämpfen dagegen, dass Schülerinnen und Schüler dazu angehalten werden, sexuelle Vielfalt und unterschiedliche Lebensweisen zu akzeptieren. Insbesondere richten sie sich gegen Homosexualität.
Konservative und kirchliche Kreise verbünden sich im Kampf gegen den neuen baden-württembergischen Bildungsplan mit rechtspopulistischen und nationalistischen Strömungen wie der AfD oder der NPD. Die Linksjugend Solid ruft dagegen für Samstag zu einem „Kiss-in“ als Ausdruck des Protests gegen dieses Bündnis auf. Beide Kundgebungen beginnen um 15 Uhr. Die Organisation Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart und Region ruft ebenfalls zu Protesten auf. Am Karlsplatz neben dem Mahnmal für die Opfer des Faschismus wird es hierzu ab 14 Uhr einen permanenten Infopoint geben. Es ist erneut der Einsatz eines großen Polizeiaufgebots zu erwarten.
Eine Rückschau:
Schon bei den bisherigen Demonstrationen zeichnete sich eine zunehmend gefährliche Allianz ab. Am 1. Februar protestierten 600 Bildungsplan-Gegner auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Die Initiative „Besorgte Eltern“ hatte zu der Demonstration aufgerufen. Als Reaktion meldete die Linksjugend Solid eine Gegendemonstration auf dem Schlossplatz an, die von der Stadt jedoch auf den Schillerplatz verlegt wurde. Auf dem Weg der Bildungsplan-Gegner zum Staatstheater gab es Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und GegendemonstrantInnen. Die Beamten stellten sich zwischen beide Gruppen. Die Demonstration der Bildungsplan-Gegner musste dennoch vorzeitig abgebrochen werden. Unseren Beitrag zu den Ereignissen vom 1. Februar 2014 gibt es hier.
Anders sah es bei einer erneuten Demonstration am 1. März aus. Die Bildungsplan-Gegner konnten die Zahl ihrer Unterstützer auf rund 800 erhöhen. Die aggressiv auftretenden Ordner sprachen überwiegend osteuropäische Sprachen. Die Polizei war mit rund 400 Beamten deutlich besser aufgestellt als beim ersten Mal. Sie bildete Kessel und trieb zirka 300 Protestierende, die unter anderem die Demo-Route der Bildungsplan-Gegner vom Schlossplatz zum Staatstheater zu blockieren versuchten, vor sich her – auch mit Pferden. Insgesamt waren vier Hundertschaften im Einsatz. Martialisch auftretende, mit Helm und Schlagstock, zum Teil auch mit Beinschützern ausgerüstete und vermummte Polizisten drängten die Demonstranten ab oder rissen und schubsten sie weg (Hier geht es zu unserem Bericht vom 1. März 2014). Die Demosanitäter mussten zehn Verletzte behandeln. Die Einsatzleitung der Polizei klagte später über aggressives Auftreten der Gegendemonstranten, aber auch der Ordner der Bildungsplan-Gegner.
„Der 1. März war klar eine Niederlage für alle Menschen, die für eine offene und vielfältige Gesellschaft eintreten“, schreibt das Antifaschistische Aktionsbündnis Stuttgart und Region im Rückblick. Gefährlichen Allianzen sei „mit ihrer verlogenen Panikmache gelungen, viel zu viele Leute auf die Straße zu mobilisieren“. Überdies sei es diesen „gefährlichen Allianzen“ unter dem Begriff „Bildungsplangegner“ gelungen, als politischer Akteur anerkannt zu werden.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann kündigte für Ende März Gespräche über die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ als Einheit im Bildungsplan an – allerdings nur mit pietistischen Strömungen der Evangelischen Kirche. Das empörte jedoch die Initiatoren der Petition und der beiden Demonstrationen. Sie kritisierten, dass keine katholischen, orthodoxen und muslimischen Vertreter eingeladen wurden. Auch die GEW machte ein Kompromissangebot: den Bildungsplan auf das Schuljahr 2016/2017 zu verschieben und das Thema sexuell Vielfalt seltener zu erwähnen.
Zum Hintergrund:
Die baden-württembergische Landesregierung hat im November 2013 ein Arbeitspapier für den neuen Bildungsplan 2015 vorgelegt. In den Leitlinien ist enthalten, dass im Unterricht auch der Gesichtspunkt der Akzeptanz sexueller Vielfalt berücksichtigt werden soll. So sollen Schülerinnen und Schüler erfahren, dass es in einer sich wandelnden, globalisierten Welt verschiedene Formen des Zusammenlebens gibt, dass neben klassische Familien auch Regenbogenfamilien, das Leben als Single, Paarbeziehung, Patchworkfamilien, Ein-Eltern-Familien, Großfamilien oder Wahlfamilien ohne verwandtschaftliche Bande getreten sind. Ebenso sollen die Schülerinnen und Schüler „schwule, lesbische, transgender und soweit bekannt intersexuelle Kultur“ kennenlernen.
Diese Vorstellung löste bei einigen Lehrern und Eltern offenbar enorme Ängste aus, wie sich nicht nur an Parolen und Transparenten bei den beiden bisherigen Demonstrationen gegen den Bildungsplan zeigte. Die Petition des Realschullehrers Gabriel Stängle „Kein Bildungsplan unter der Ideologie des Regenbogens“ auf der Webseite Open Petition kam auf über 192 000 Unterzeichner, darunter 82 000 in Baden-Württemberg. Die Gegenpetition auf derselben Plattform brachte es auf über 92 000 Unterschriften, eine weitere unter dem Motto „Vielfalt gewinnt!“ auf „Campact“ auf 140 136.
Zu den Unterstützern von Stängles Petition gegen den neuen Bildungsplan zählen die Evangelische Allianz in Deutschland, aber auch der AfD. Die meisten Unterschriften erhielt sie laut Wikipedia über die rechtspopulistische Website „Politically Incorrect“ und über ein Mitglied der christlichen Prisma-Gemeinschaft.
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