Reutlingen. Die Nachttanzdemo am Samstag in Reutlingen unter dem Motto „Reclaim your City“ („Hol dir deine Stadt zurück“) war bunt, laut und lustig. Zumindest schienen sich die bis zu 450 Teilnehmerinnen und Teilnemer bei dem fünfeinhalbstündigen Zug durch die Innenstadt bei Techno und revolutionären Liedern prächtig zu amüsieren. Die Polizei, mit 170 Beamten vor Ort, verstand dagegen keinen Spaß.
Die Organisatoren der Tanz-Demo werfen der Polizei einen zahlenmäßig völlig überzogenen Einsatz vor. Rechnerisch kamen auf einen Beamten weniger als drei Demonstranten. Außerdem sei der gesamte Aufzug grundlos abgefilmt worden.
Die Polizei klagte am Sonntag in einer Pressemitteilung umgekehrt über einen zerkratzten Streifenwagen (Schaden: 500 Euro). Sie stellte nach eigenen Angaben die Personalien von acht Personen fest. Die Beamten leiteten mehrere Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung und Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz ein, weil Böller gezündet wurden. Auch prüfe die Staatsanwaltschaft den Text eines an einem Fahrzeug angebrachten Transparents auf einen möglicherweise beleidigenden Inhalt hin. Außerdem werde wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz gegen den Versammlungsleiter ermittelt, heißt es in der Pressemitteilung weiter. Mehrere Auflagen seien nicht eingehalten worden. Neben dem Zünden von Pyrotechnik unter anderem beim Abschluss auf dem Gelände der Galerie Zelle führt die Polizei auch an, dass Alkohol und Glasflaschen mitgeführt worden seien. Überdies sei die Musik aus dem Lautsprecherwagen immer wieder lauter gewesen als zulässig. Die Polizei berichtet auch von Beleidigungen der Einsatzkräfte durch mit Kreide an Gebäudewände geschriebene Parolen und Sprechchöre.
Ständige Videoaufnahmen der Polizei
Die aufgeheizte Stimmung werfen die Veranstalter der Domonstration jedoch den Beamten selbst und besonders der Einsatzleitung vor. Nachdem der Zug das Polizeipräsidium passiert hatte, hätten mit Hieb- und Schusswaffen, Pfefferspray und CS-Gas bewaffnete Einsatzkräfte die Demonstration von den Seiten her bedrängt, was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Provokation auffassten. Ständige Videoaufnahmen einer Demonstration ohne erkennbaren Grund seien ein Verstoß gegen die informationelle Selbstbestimmung und ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit. „Wer eine friedliche Tanzdemonstration abfilmt, bedrängt und im Vorfeld schikaniert, indem die TeilnemerInnen Kontrollen unterzogen werden, hat damit zu rechnen, als das bezeichnet zu werden, was er nun mal ist“, heißt es in einer Erklärung der Organisatoren.
Sie bewerteten die Demonstration dennoch als großen Erfolg: „Wir haben uns selbst gezeigt: Wir können uns die Straße und den öffentlichen Raum auch für unsere Vorstellung von Freizeitgestaltung nehmen.“ Es sei nicht nötig, immer nur kommerzielle Angebote zu nutzen. Auch das positive Interesse von PassantInnen und AnwohnerInnen an dem Geschehen sei erfreulich gewesen.
Zuletzt eine Aftershowparty
Zu der Nachttanzdemo hatte eine ganze Reihe von Organisationen aufgerufen – unter ihnen die Reutlinger Galerie Zelle, die immer wieder von Problemen mit der Stadtverwaltung und den Ordnungsbehörden berichtet. Der Umzug begann um 17 Uhr mit einer Auftaktkundgebung vor dem Hauptbahnhof. Unter mehreren Redebeiträgen, die verlesen wurden, war ein Grußwort der OrganisatorInnen, ein Beitrag des autonomen Zentrums „Café Irrlicht“ aus Schopfheim und ein Text über die prekäre Lage von Flüchtlingen in Deutschland. Außerdem wurden die Auflagen der Versammlung bekannt gegeben, was aus technischen Gründen jedoch bedauerlicherweise nur schwer zu verstehen war. Später trugen auf der Strecke verteilte Zettel mit Auszügen aus den Auflagen zur Klärung bei. Neben „Blockaden jeglicher Verkehrswege“ seien auch „Laufen und Sprinten“ untersagt. Auch seien in Rede- und Musikbeiträgen „Ironie und Spott zu unterlassen“.
Von fünf Lautsprecherwagen mit Musik begleitet – unter ihnen einer der Initiative „Recht auf Stadt – Mainz“ – zogen die DemonstrantInnen tanzend über die Eberhardstraße und das Gerberviertel auf den Reutlinger Marktplatz. Die Reden bei der Zwischenkundgebung befassten sich mit der „Stadt im Kapitalismus“ und Sexismus, den die Antifa Reutlingen/Tübingen thematisierte. Sie war auch Autorin eines Textes „Für eine radikale Polizeikritik“, der später vor dem Polizeipräsidium verlesen wurde. Der Umzug endete mit einer Aftershowparty nach 22 Uhr in der Zelle.
Bilder des Tages
- Foto: Paddyfotography
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