Stuttgart. Die Stimmung bei der überregionalen Blockupy-Demo am Samstag in Stuttgart war kämpferisch, die Teilnehmerzahl aber geringer als erwartet. Die Veranstalter zählten 2500 Demonstrantinnen und Demonstranten, die Polizei sprach von 3000. Sie war mit einer übertrieben großen Zahl von Fahrzeugen und Beamten vor Ort, kontrollierte schon im Vorfeld anreisende Demoteilnehmer und begleitete den Zug zum Teil im Spalier.
Die Demonstration „Macht Europa anders – Für ein Europa von unten“ war am Samstag in den Protest in 13 europäischen Städten eingebettet – so etwa in Berlin, Hamburg und Düsseldorf. Sie richtete sich auch gegen Rechtspopulismus und Nationalismus. Aufgerufen hatte ein Bündnis, dem Verdi Stuttgart, der Landesbezirk der Gewerkschaft, Attac, die Arbeiterorganisation Didf und weitere Organisationen angehörten. Der Auftakt um die Mittagszeit verzögerte sich, da die Veranstalter nicht beginnen wollten, ehe alle Demonstrationswilligen vor Ort waren. Die Polizei hatte zwei Busse mit je dreißig Fahrgästen aus Freiburg und Mannheim am Pragsattel aufgehalten. Sie nahm Personalien auf, kontrollierte Taschen und Rucksäcke.
Ähnliches widerfuhr rund 150 mit dem Zug angereisten Demonstranten – von der Polizei dem linken Spektrum zugerechnet – direkt im Bahnhof. Die Polizei ließ den Fotoreporter der Beobachter News, der die Kontrolle dokumentieren wollte, trotz Presseausweis nicht zu und hinderte ihn so an der Berichterstattung. Die Ausbeute der Beamten, die auch zwei Platzverweise aussprachen: nach eigenem Bekunden ein Motorradhelm, in einem weiteren Fall Vermummungsgegenstände und in einem dritten einige Kieselsteine.
Rhythms of Resistance geben den Takt vor
„Wir beginnen die Demo zusammen und kommen auch zusammen an“, stellte Moderatorin Jana Seppelt, Verdi-Sekretärin des Bezirks Stuttgart für den Öffentlichen Dienst, vom Lautsprecherwagen aus klar. Die in Pink gekleidete Trommelgruppe „Rhythms of Resistance“ überbrückte die Zeit mit Samba und skandierte „Kapitalismus raus aus den Köpfen“. Attac zeigte eine Aktion zum geplanten TTIP-Abkommen zwischen der EU und den USA. Im hinteren Teil der Demo gab die Trommelgruppe „Lokomotive“ den Takt vor.
„Das Verhalten der Ordnungskräfte im Vorfeld ist jenseits von Gut und Böse“, empörte sich Cuno Hägele, Sprecher des Bündnisses „Wir zahlen nicht für eure Krise“, bei der Auftaktkundgebung. Kolleginnen und Kollegen würden daran gehindert, zu der Demonstration zu gelangen – und Fotografen der Beobachter News daran, ihre Arbeit zu machen. Deeskalation schreibe man komplett anders, kritisierte Hägele. Eine Schweigeminute für die Opfer des Bergwerksunglücks im türkischen Soma schloss sich an.
Der Kapitalismus selbst ist die Krise
Europa erlebe eine seiner schwersten Krisen, sagte Hägele. Politiker und Arbeitgeber nutzten sie für eine „neoliberale Schocktherapie“, um Arbeitnehmerrechte und Sozialstandards zu beschneiden. „Es gibt keine Konkurrenz zwischen Spaniern, Portugiesen, Griechen und uns“, betonte der Geschäftsführer des Verdi-Bezirks Stuttgart: „Nur zwischen Oben und Unten, Arm und Reich.“ Mit einer Schiedsgerichtsbarkeit, wie sie das TTIP-Abkommen vorsieht, würden überdies „sämtliche rechtsstaatlichen Prinzipien über den Haufen geworfen“.
TTIP sei nur ein weiterer Versuch, die Bedingungen für die Profitmaximierung der Konzerne zu verbessern, sagte Silke, die wie Michael für die Interventionistische Linke sprach: „Wir wollen ein gutes Leben ohne Ausbeutung.“ Der Kapitalismus selbst sei die Krise. Das habe auch die Bergwerk-Katastrophe in Soma verdeutlicht. Die über 300 Toten seien „der einkalkulierte Kolateralschaden der Privatisierung“. Die EU sei nicht Europa, sondern „ein kapitalistisches Projekt innerhalb der Grenzen Europas“.
Die Straße ist das Podium der Opposition
„Willkommen in der Nachbarschaft unserer Hauptbahnhof-Ruine“, stellte Joe Bauer, Journalist und Verdi-Mitglied, den Zusammenhang zu Stuttgart 21 her: „Wir kämpfen gegen die Vereinnahmung einer ganzen Stadt durch Investoren und ihre Lobby in der Politik.“ Der Kampf gelte nicht nur dem „Recht auf Stadt“, sondern auch der Versammlungsfreiheit, sagte Bauer, der im vergangenen Jahr bei der Blockupy-Demo in Frankfurt im Kessel festsaß, während er ein Grußwort aus Stuttgart überbringen sollte. „Die Straße ist und bleibt das Podium der Opposition“, sagte er, und Blockupy sei eine Hoffnung – „die Hoffnung, dass wir uns endlich wehren“.
Die Route der Demonstration führte von der Lautenschlagerstraße über die Schillerstraße, den Gebhard-Müller-Platz, die Planie und den Rotebühlplatz zum Marktplatz. Bei einer Zwischenkundgebung vor dem neuen Schloss beschrieben Rednerinnen aus Griechenland und Spanien die Situation in ihren Ländern. Die Spanierin Aurora erklärte, es sei für sie merkwürdig, am Mikrofon vor der Menge zu stehen, statt mit den Menschen zu reden. „Das wirkt so, als hätte ich die Lösung. Aber die habe ich nicht, die müssen wir zusammen finden“, sagte sie unter Applaus.
Rosa Qualm und Farbbeutel
Die Demonstration zog weiter durch die Bolz-Straße zur Theodor-Heuss-Straße. Auf Höhe der Deutschen Bank stieg aus einer Fackel im stattlichen revolutionären Block rosafarbener Rauch auf, und es flogen Farbbeutel in Richtung Fassade. Die starken Polizeikräfte nahmen das Geschehen auf Video auf und postierten sich vor dem Gebäude. „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank“, wurde vom Lautsprecherwagen aus Bertolt Brecht zitiert.
Trotz des Protests der Demonstrierenden schaltete die Polizei ihre Videokameras nicht ab und begleitete Teile des Demozugs im Spalier. Sie ließ sich auch vom Lautsprecherwagen aus nicht zum Rückzug und zur Deeskalation bewegen. „Ihr habt Knüppel, wir ham Sticks. Wir können Samba, ihr könnt nix“, skandierte „Rhythms of Resistance“. Von der Torstraße bog der Zug zum Marktplatz ab, wo die Schlusskundgebung gehalten wurde.
Pflege am Boden: Aktionen zivilen Ungehorsams
Nach Angaben der Veranstalter gab es nach der Demonstration in der Stuttgarter Innenstadt trotz des großen Polizeiaufgebots noch mehrere „Aktionen des zivilen Ungehorsams“. Sie machten auf Missstände in Krankenhäusern und Pflegeheimen aufmerksam und kritisierten die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie und bei der Zeitarbeit.
So legten sich 60 Pflegekräfte und UnterstützerInnen für zehn Minuten auf den Boden, um auf akute Personalnot und Überlastung aufmerksam zu machen. Etwa 50 Personen blockierten den Eingang des Bekleidungsgeschäfts H&M. Sie kritisierten miserable Arbeitsbedingungen in Billiglohnländern und erinnerten an den verheerenden Unfall in Bangladesh vor einem Jahr, bei dem mehr als 1100 Menschen starben. Auf der belebten Königstraße versammelten sich zirka 30 bis 40 Personen zu einem Flashmob gegen die Zeitarbeitsfirmen „Randstadt“ und „Diss“.
Die Aktionen wurden von einem großem Polizeiaufgebot begleitet. Im Umfeld der Demonstration und Aktionen habe die Polizei immer wieder grundlos Platzverweise erteilt, Personalien festgestellt und Menschen in Gewahrsam genommen. Doch die Protestierenden hätten sich davon nicht aufhalten lassen. „Viele Passanten zeigten Interesse an den Aktionen, es gab viel Zuspruch, dass dieser Protest notwendig ist“, sagte Michael Karrer, Pressesprecher des Blockupy-Bündnisses.
Party im Zentrum Lilo Herrmann
Ein Teil der Demonstrierenden traf sich im Anschluss noch im Zentrum Lilo Herrmann in Stuttgart-Heslach zur Volxküche und später zur Party. Dort wurden auch erste Fotos der Demonstration gezeigt. Die meisten Beteiligten waren mit dem Protesttag zufrieden, bedauerten aber, dass dem Aufruf nicht mehr Leute gefolgt waren.
Bilder des Tages von Peepovicz, Scheffel, Kumazawa, Denzinger, Berger
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