Von Gül Güzel – Mit viel Glück und Erfolg endete eine Reise in die kurdischen Gebiete Syriens und des Iraks. Rechtsanwältin Brigitte Kiechle, die Journalisten Nick Brauns und Gül Güzel, der Historiker Michel Knapp und der Menschenrechtsaktivist Fuad Zindani bildeten die deutsche Delegation in die kurdischen Gebiete Syriens und des Irak.
Nach Rojava kamen wir während unserer Reise vom 5. bis zum 20. Oktober 2013 aus dem hyperkapitalistisch-neofeudal organisierten Südkurdistan der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) in Nord-Irak. Das Land Rojava ist übersät mit Ölpumpen. Das gehört zu den Gründen, aus denen Islamisten versuchen, gerade diese Region mit aller Gewalt unter ihre Kontrolle zu bringen. „Willkommen in Rojava“, begrüßt die junge kurdische Milizionärin mit der umgehängten Kalaschnikow am Ufer des Tigris die Reisenden hier bei Semalka an der Grenze zwischen dem Irak und Syrien. Rojava bedeutet auf Kurdisch „Westen“. Denn die kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien sind auf der imaginären Karte Kurdistans der westliche Teil. Sie reichen vom Irak entlang der türkischen Grenze bis zur Mittelmeerküste.
Die ganze Region von Rojava ist mit einem Netz von Checkpoints überzogen. Viele bestätigten uns dies im Laufe unsere Reise immer wieder. „Das sind unsere Kinder und sie beschützen uns“, erklärten sie. Auf dem Weg in die kurdische Stadt Dérik (Al- Malikiya) kamen wir an etlichen Checkpoints der Asayiş, der Volksverteidigungskräfte YPG und ihrer Frauenverteidigungseinheiten YPJvorbei.
Alternative Ökonomischer Aufbau
Die kurdische Bewegung in Rojava erprobt eine Politik des „dritten Weges“. Sie verbündet sich weder mit dem Regime noch mit den islamistisch Dominierten, sondern tritt für einen demokratischen Wandel in Syrien ein. Die Region war zunächst weitgehend von Auseinandersetzungen verschont geblieben, und ein Großteil der sonst zerstörten Infrastruktur ist heute noch intakt.
Das Ziel der Rojava-Revolution ist, eine basisdemokratische Gesellschaft aufzubauen. Das basisdemokratische Modell des Demokratischen Konföderalismus steht in der Tradition des kommunalistischen Anarchismus um Murray Bookchin und wurde von Abdullah Öcalan, dem Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistan, zu einem praxisorientierten System mit dem zentralen Paradigma der Frauenbefreiung weiterentwickelt. Insbesondere die multikulturelle Struktur Kurdistans wird dabei als wichtige Ressource für den Aufbau einer partizipativen Wirtschaft in Form von kommunalen Genossenschaften in der Landwirtschaft wie auch in der Wasserwirtschaft und auf dem Energiesektor gesehen.
Embargopolitik gegen Rojava
Aufgrund des Embargos der Türkei, der Regionalregierung in Südkurdistan und der syrischen Plünderungspolitik gegenüber Rojava blieb diese Region trotz allem ökonomisch schwach, aber mit einer stabilen Basis. In Rojava richtet man sich nicht gegen das Privateigentum, sondern hat zum Ziel, dieses Privateigentum für den Dienst an allen Bevölkerungsgruppen der Region einzusetzen. Es soll kein kapitalistisches System sein, das seiner Umwelt keinen Respekt zollt, und auch kein System, das die Klassenwidersprüche fortsetzt und letzten Endes nur dem Kapital dient. Es soll ein partizipatives, von vielen getragenes Modell sein, das sich auf die natürlichen Ressourcen und eine starke Infrastruktur stützt.
„Wir leben seit Tausenden Jahren mit unseren kurdischen und arabischen Brüdern zusammen und wollen uns mit voller Überzeugung an der demokratischen Selbstverwaltung beteiligen’’, erklärt der Vorsitzende der Assyrischen Einheitspartei Ishow Goriye seine Zustimmung zu diesem Projekt. Als die Kämpfe zwischen den regulären Streitkräften Syriens und der Freien Syrischen Armee (FSA) im Sommer 2012 auf Rojava überzugreifen drohten, übernahmen ab dem 19. Juli von der PYD initiierte Volksräte die Kontrolle über die Städte der Region. „Unsere Strategie setzt auf eine friedliche Wandlung. Wenn wir bewaffnet gekämpft hätten, wären unsere Städte vom Regime zerstört worden“ sagt der PYD-Vorsitzende von Amude, Hüseyn Koca.
Ein Grund für dieses wachsende Vertrauen in den Rat, der auch Aufgaben bei der Stromversorgung, dem Straßenbau und der Stadtreinigung übernommen hat, sei dessen höhere Effizienz. „Schließlich lösen unsere Komitees Probleme in drei Tagen, für die die Bürokratie manchmal Jahre brauchte.“ Die Räte haben eine eigene Gerichtsbarkeit geschaffen. Doch diese mit Berufsjuristen besetzten Volksgerichte werden nur in Ausnahmefällen angerufen. Im Vordergrund stehen außergerichtliche Schlichtungen. 600 Streitfälle von Familien wurden so von der „Kommission für soziale Probleme“ des Volksrates von Stadt Qamischli gelöst.
Bedrohte Selbstverwaltung
Nach Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien gelang es den Kurden, ihre auf die drei Enklaven Afrin, Kobani (arabischer Name Ain Al-Arab) und die Region Dschasira in der Provinz Al-Hasaka verteilten Hauptsiedlungsgebiete weitgehend aus den Kämpfen zwischen der Baath-Regierung von Präsident Baschar Al-Assad und der vom Westen, der Türkei und den Golfmonarchien unterstützten Opposition herauszuhalten.
„Wir haben unsere Revolution begonnen, um den Lauf der syrischen Revolution zu ändern“, meint Baschir, ein junger Agrarwissenschaftler aus dem Wirtschaftskomitee des Volksrates. „Es geht uns nicht um einen bloßen Regimewechsel, sondern um die Schaffung eines anderen gesellschaftlichen Systems.“ Da weder das Regime noch die Opposition bereit waren, „unsere Rechte anzuerkennen, haben wir uns zu Beginn des Aufstandes in Syrien für einen dritten Weg der demokratischen Selbstverwaltung entscheiden’’, erklärt Salih Muslim, der Vorsitzende der „Partei der Demokratischen Einheit“ (PYD).
Diese 2003 gegründete sozialistische Partei hatte bereits nach der Niederschlagung einer kurdischen Erhebung 2004 mit dem Aufbau von bewaffneten Selbstverteidigungsgruppen im Untergrund begonnen. Vor Beginn des Bürgerkrieges lebten in Syrien eine Million Angehörige der christlichen Volksgruppe, die ihre Gottesdienste in der biblischen Sprache Aramäisch abhält. Jetzt ist ein Großteil auf der Flucht.
Nachdem mehrere Gemeindemitglieder durch Banden verschleppt worden waren, haben die Assyrer in Qamischli mit dem Aufbau einer von kurdischen Kämpfern ausgebildeten Miliz zum Schutz der christlichen Viertel begonnen. Während Aramäisch unter der Baath-Herrschaft an kirchlichen Schulen unterrichtet werden durfte, war der Gebrauch der kurdischen Sprache an Schulen und am Arbeitsplatz verboten. Nun soll Kurdisch neben dem Arabischen zur offiziellen Sprache in Rojava werden.
Frauenbewegung als Vorbild
In Syrien war es Frauen nie erlaubt gewesen, zusammenzukommen und ihre eigenen Interessen zur Sprache bringen. Sie waren einem strengen islamischen Recht untergeordnet, das jegliche Organisierung von Frauen bestrafte. Die Sklavenrolle der Frau wurde als Schicksal hingenommen. Somit hatten sie nie den Raum und die Möglichkeit, für ihre Rechte und ihre Interessen einzutreten.
In Rojava blickt die kurdische Frauenbewegung auf eine dreißigjährige Erfahrung zurück. Der Freiheitskampf, der sich in allen vier Teilen Kurdistans etablieren konnte, stieß vor allem bei Frauen auf offene Ohren. Abdullah Öcalan, der die Freiheit der Frauen als Grundbedingung für die Freiheit Kurdistans sieht, hat durch seine Ausführungen zur Frauenfrage sehr vielen aus der Seele gesprochen. Darum sind die aktuellen Errungenschaften in Rojava vor allem der kurdischen Freiheitsbewegung zu verdanken. Die in Syrien entstehenden Frauenbewegungen wurden zu einem beträchtlichen Teil von kurdischen Frauen beeinflusst.
Auf der einen Seite sind solche revolutionären Entwicklungen in Rojava zu beobachten, und auf der anderen Seite nehmen im restlichen Land die Gewalt gegen Frauen und ihre Unterdrückung neue Dimensionen an. In dieser Phase sind Frauen nicht nur Opfer der Baath-Diktatur, sondern auch Opfer der Gewalt und Unterdrückung durch oppositionelle Gruppen in Syrien. Frauen, die sich gegen die Gewalt und Leugnungspolitik des Baath-Regimes zur Wehr setzen, werden zu Opfern von Baath-Gegnern, die unter dem Deckmantel des Islam Frauen verhaften, foltern und vergewaltigen.
Frauen haben innerhalb des revolutionären Prozesses in Rojava einen eigenen Willen und sind eine stabile Kraft. Sie haben überall ihre eigenen Rätestrukturen organisiert. Damit konnten soziale Probleme erkannt und in die Tagesordnung aufgenommen werden. Frauen entscheiden selbst und finden Lösungen für die Probleme. Sie haben eine Vorreiterrolle in den Serhildans (Volksaufständen), Demonstrationen und bei jeglichen anderen Aktionen eingenommen. Politisch, wirtschaftlich, aber auch militärisch entwickeln sie immer mehr ihre Selbstorganisierung.
Unter dem Namen Yekineyén Parastina Jiné (YPJ) organisieren sie ihre Selbstverteidigung. Frauen haben großes Interesse, sich zusammenzuschließen, besonders zur Selbstverteidigung. Trotz der vielen Hürden und Herausforderungen wurde in der Frauenbewegung nie ein Schritt zurück gemacht. Nie wurde die Arbeit unterbrochen, und die Motivation der Frau ist immer hoch. Denn ein Schritt zurück würde zulassen, dass das Patriarchat wieder das Leben der Frauen gestaltet.
Nicht nur Kurdinnen, sondern alle Frauen in Syrien wollen sich mobilisieren und organisieren. Sie entwickeln ein neues Selbstbewusstsein. Unter diesem Motto vereinen sich in Rojava alle Frauengruppen, Zusammenschlüsse und Organisationen auf einer gemeinsamen Basis zur gemeinsamen Arbeit. Zurzeit erstellen sie gemeinsame Programme und organisieren Veranstaltungen und Demonstrationen.
Das heißt, das sich die Frauen auf der einen Seite gegen Angriffe von außen verteidigen und kämpfen müssen. Aber auf der anderen Seite wird versucht, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung durch lokale Verwaltungseinheiten zu befriedigen.
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