Waiblingen/Göppingen. Beate Zschäpe als Haupttäterin neben Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, vier als Helfer Mitangeklagte: Der Journalist Robert Andreasch ist überzeugt, dass vor dem Münchner Oberlandesgericht nur gegen einen kleinen Teil des NSU verhandelt wird. Auch das Gericht gehe inzwischen davon aus, dass es sich beim NSU nicht um ein Trio, sondern um ein weit verzweigtes Netzwerk handelt.
Die Bundesanwaltschaft spreche von 129 Namen. Tatsächlich gehe es aber um 500, sagt Robert Andreasch. Der Journalist und Rechtsextremismus-Experte verfolgt den Münchner NSU-Prozess und stellt zusammen mit anderen Protokolle von jedem einzelnen Prozesstag ins Netz. Etwa zwanzig Stunden Arbeit stecken in jedem einzelnen. Entstanden ist eine umfassende Dokumentation. Die Protokolle werden auch ins Türkische übersetzt , soweit das Spendenaufkommen für professionelle Dolmetscher reicht.
Bei Vorträgen vor 25 Zuhörerinnen und Zuhörern in Waiblingen und zirka 50 in Göppingen schilderte Andreasch den Stand nach 117 Prozesstagen. Was sich seit Beginn des Verfahrens verändert hat: Während der vorsitzende Richter Manfred Götzl zunächst nur streng auf die Anklage bezogene Fragen zuließ, thematisiert er inzwischen auch selbst den Hintergrund. Es sei eher die Bundesanwaltschaft, die verhindern wolle, dass das Verfahren ausufert. Sie verweise auf mögliche weitere NSU-Prozesse, an die Andreasch jedoch nicht glaubt. Denn „vieles, was in den Ämtern lief, war strafbar“.
Gewalt gehört zur Nazi-Ideologie
Er stellte das Vorgehen des NSU in Zusammenhang mit Werwolf-Konzepten für den Kampf im Untergrund, deren Mythos sich in der Neonazi-Szene erhalten habe. Es gab Attentate wie das von 1980 auf dem Münchner Oktoberfest und weitere weniger bekannte. Nach 1989 habe es wohl 200 bis 700 Morde und Anschläge der rechten Szene gegeben – dennoch blieb der „Mythos des Einzelkämpfers“ erhalten. Das Bundeskriminalamt prüft derzeit 760 Mordtaten auf einen möglichen rechtsextremen Hintergrund.
Solche Verbrechen wertet der Antifa-Experte nicht als Unfall der Neonazi-Szene. Sie seien vielmehr in der faschistischen Ideologie angelegt – das Kämpferische, Gewalttätige und Militaristische bildet deren Kern und wird auf CD-Covers, in Liedtexten, Youtube-Videos oder auf T-Shirts propagiert und verherrlicht:
„Es macht das Nazisein aus, dass man brutal und gewalttätig ist.“
In den 1990er Jahren lernten Neonazis überdies, dass Gewalt und Brutalität politisch erfolgreich sein können. Mindestens 500 Brandanschläge auf Flüchtlinge mit tausenden von Verletzten führten zur Abschaffung des Asylrechts in der bis dahin im Grundgesetz verankerten Form – „einer der wenigen Erfolge“ der Neonazis.
Auch die Antifa versagte
Rassismus ist der zweite Strang, der zum NSU und seinen Verbrechen führt. „Der Rassismus der Neonaziszene hat die Mordserie des NSU begründet“, sagt Andreasch: „Er koppelt die Taten des NSU an die neonazistische Szene an“ – und nicht nur das: Sie seien „angedockt auch an das sonstige Treiben der deutschen Rechten und an den gesellschaftlichen Rassismus“, wie er etwa bei Thilo Sarrazin deutlich wird.
So habe auch die Polizei nach den rassistisch begründeten Morden „aus immanentem Rassismus und anderen Gründen in eine völlig falsche Richtung ermittelt“ und die Familien der Opfer für die Schuldigen gehalten. Diesen Ansatz übernahmen die Medien, die massenhaft von „Dönermorden“ sprachen. Aber auch die Antifa hat aus Andreaschs Sicht versagt. Trotz neun Morden an Ausländern sah sie keinen Zusammenhang, und es gab auch keine solidarischen Aktionen.
Muster für den Kampf aus dem Untergrund schon lange bekannt
Der NSU, der aus dem Kameradschaftswesen des Thüringer Heimatschutzes und der Anti-Antifa Süd- und Ostthüringen hervorging, war in die deutsche Rechte eingebunden. Später zogen so viele Mitglieder in den Rhein-Neckar-Raum, dass es enge Kontakte zwischen Thüringen und Baden-Württemberg gab. Wie stark sich die Neonazi-Szene in den 1990er Jahren weiter radikalisierte, machte Andreasch an Artikeln des „Landser“ fest, dessen Parole „Mehr als Worte zählen die Taten“ später in den Bekenner-Videos des NSU verwendet wurde. 15 dieser Videos wurden später verschickt, nur eines innerhalb der rechten Szene selbst. Es ging an den „Patria“-Versand in Landshut. „Alles im NSU-Komplex hängt mit allem zusammen“, sagt Andreasch.
Der NSU sei aber auch ein Produkt übernationaler Neonazi-Netzwerke. Das hätten im Prozess zunächst nur linke Anwälte thematisiert. Inzwischen frage auch der vorsitzende Richter danach. Schon früh sei in Magazinen das Konzept des rechten Terrorismus propagiert worden: Migranten angreifen, sich und die Szene mit Banküberfällen finanzieren, keine Bekennerschreiben verfassen – das gehöre ebenso dazu wie die Einzelkämpfer- und Kleingruppenstruktur. Trotz allem hätten die Ermittler jahrzehntelang immer wieder vorgebetet, dass es keinen rechten Terror gebe, sondern nur einzelne Verwirrte.
Ermittler traumatisierten Opfer und Angehörige
Andreasch hält es für legitim, dass die Polizei nach dem ersten Mord des NSU im Jahr 2000 in Nürnberg zunächst im persönlichen Umfeld des Opfers ermittelte und von einer Beziehungstat wie bei den meisten Morden ausging. Doch nach dem zweiten Mord hätte sie ihre „rassistische Arbeitshypothese“ aufgeben müssen.
Der Journalist schilderte an Beispielen die „massive Traumatisierung der Angehörigen der Opfer“ durch die Verdächtigungen, die Ermittler bis in die Herkunftsorte der Familien trugen. So zeigten Kriminalbeamte etwa Ehefrauen von Opfern Fotos von angeblichen Geliebten ihrer Männer und frei erfundenen Kindern – allein um zu sehen, wie sie reagieren. „Das grenzt ja schon an Folter“, so ein empörter Zwischenrufer in Waiblingen. Dennoch habe sich bis heute im Prozess keiner der verantwortlichen Polizisten bei den Angehörigen entschuldigt.
Verzweigtes Netz von Hinweisgebern
Mit Ausnahme des Verbrechens in Heilbronn sei nachgewiesen, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die Morde begingen, sagte Andreasch. Dennoch:
„In der Mordserie wird deutlich, dass nicht ein Killerduo oder -trio die ganze Tatortarbeit gemacht haben kann.“
So habe der NSU den Inhaber eines Schlüsseldiensts in München nur zwei Wochen nach Eröffnung seines Geschäfts ermordet, obwohl es keinerlei öffentliche Hinweise gab, dass es sich um einen Mann ausländischer Herkunft handelte. Mundlos und Böhnhardt mussten einen Tipp erhalten haben. Auch die vielen Beschreibungen weiterer möglicher Tatorte in München oder Stuttgart deuteten auf ein Netzwerk hin. Die Staatsanwaltschaft spreche von neun oder zehn weiteren Tätern, die angeklagt werden sollen. Doch auch daran glaubt Andreasch nicht.
Im Prozess habe es dennoch „Lichtblicke“ gegeben – so etwa, als Carsten Schultze, der als einziger Angeklagter Aussagen macht und sich von der Szene losgesagt haben will, den bis dahin unbekannten Taschenlampenbomben-Anschlag in einem Lokal aufdeckte. Neben den drei bekannt gewordenen Anschlägen mit Nagelbomben – der mit den schlimmsten Folgen in der Kölner Keupstraße mit zwanzig Schwerverletzten – habe der NSU auch mindestens 15 Überfälle auf Banken und Edeka-Märkte verübt und dabei rund 600 000 Euro erbeutet.
Dubiose Vertuschungen des Verfassungsschutzes
Manche Fragen bleiben womöglich für immer ungeklärt. Warum die Polizistin Michèle Kiesewetter sterben musste – ein nicht zu den übrigen Morden passendes Verbrechen. Warum mit ihrem Tod und der Verletzung ihres schwer traumatisierten Kollegen die Serie vermutlich endete. Oder auch, weshalb Böhnhardt und Mundlos zu ihrem Banküberfall in Eisenach Beweisstücke für ihre sämtlichen Verbrechen im Wohnmobil mitnahmen.
Es stellen sich aber auch Fragen wie diese: Warum hat der hessische Verfassungsschutz so viel Energie darauf verwandt, die Rolle von Andreas Temme zu vernebeln, der beim Mord im Kasseler Internetcafé im Nebenzimmer saß – immerhin habe eine hessische Behörde die Mordermittlung einer anderen sabotiert – „skandalös genug“, findet Andreasch. Oder weshalb die Ermittler nie die Adresslisten ausgewertet haben, die sie 1998 beim Durchsuchen der Garage kurz vor dem Abtauchen des NSU-Trios fanden. Die nach Orten geordneten Listen, vorbereitet für den Fall der Flucht, hätten die Ermittler zu den Verstecken des Trios führen und vielfaches Leid verhindern können.
Behörden waren in die Aktionen verstrickt
Auch die wichtigsten V-Leute waren auf den Adresslisten verzeichnet – insgesamt 24 im engen Umfeld des Trios. Namen wie der Thomas Richters sind aufgeführt, des V-Manns „Corelli“, der vor Kurzem mit nur 39 Jahren starb – laut Obduktionsbericht an einer unbemerkten Diabetes. „Corelli“ wurde zunächst vom baden-württembergischen Verfassungsschutz und später vom Bundesverfassungsschutz geführt. Er war Herausgeber des Hefts „Der weiße Wolf“, in dem 2002 ein Dank an den NSU erschien – eine der ersten Erwähnungen. Die Naziszene wurde wohl jahrelang vom NSU finanziell unterstützt. „Corelli“ kann nun nicht mehr vernommen werden.
Die Verfassungsschutzämter, der MAD, einzelne Landeskriminalämter: Sie alle versuchten etwa in der „Operation Rennsteig“, V-Leute im engen Umfeld des NSU-Kerns zu platzieren und anzuwerben. So wurde etwa der Thüringer Neonazi-Kader und V-Mann Tino Brandt bestens mit Geld, Dienstautos und Handys ausgestattet, damit sich andere Neonazis um ihn gruppieren.
„Es gab also offenbar keine Verharmlosung der Gefahr.“
Das zieht Andreasch daraus als Schluss. Klar sei, dass staatliche Institutionen Ende der 1990er Jahre an der Stärkung der Infrastruktur der Neonazis immer beteiligt waren. Zwar hätte es die Szene auch ohne den Staat gegeben, und sie hätte auch ohne den Staat gemordet, ist Andreasch überzeugt. Aber sie hätte sonst beispielsweise nicht über ein Computer-Mailboxsystem, dessen Server mein bayerischen Verfassungsschutz stand, abhörsicher telefonieren können.
„Die 24 V-Personen haben entweder nicht berichtet, oder ihren Dienstherrn verarscht“, sagt Andreasch. Schon daran zeige sich, dass die Anwerbung der V-Leute unnütz und Geldverschwendung war. Für wahrscheinlicher hält es der Prozessbeobachter, dass sie durchaus Informationen lieferten. Offenbar sei aber vieles in den Ämtern versickert – oder bewusst unterdrückt worden. Das, sagt Andreasch, sei ein noch viel schlimmerer Schluss, der zur sofortigen Auflösung aller Inlandsgeheimdienste führen müsste.
V-Leute sagen nicht aus
Die angeworbenen Verfassungsschutz-Spitzel verweigern jedoch die Aussage oder tauchen gar nicht erst im Prozess auf. So sei es bis heute nicht gelungen, Tino Brandt zu vernehmen. Thomas Starke, der dem Trio Sprengstoff besorgt hatte, verweigerte die Aussage. „Corelli“ ist tot. Mit V-Mann Andreas Temme aus dem Kasseler Internet-Café beschäftigte sich das Gericht fünf oder sechs Tage, um schließlich zu kapitulieren. Er widersprach sich ständig. Auch von seinen vernommenen Kollegen erzählte jeder eine andere Version.
„Alles ist noch verworrener geworden“, berichtete Andreasch. Dabei sei Temme „ein potenzieller Tatzeuge“. Alle gingen davon aus, dass er den Toten und auch den Mörder gesehen hat. Die Nebenkläger wollen dennoch in dem bisher nur bis Weihnachten terminierten Prozess noch möglichst viele V-Leute befragen. Schon bisher wurden über 300 Sachverständige und Zeugen gehört. 600 Namen stehen insgesamt auf der Liste.
Verharmlosung muss aufhören
Andreasch thematisierte auch die „seltsame mediale Wahrnehmung“ von Beate Zschäpe und von Neonazi-Frauen überhaupt, die gelegentlich zu Artikeln führt, in denen es nur um ihre Kleidung geht. Ihre Verteidiger versuchten, sie „als harmlose Hausfrau“ darzustellen. Doch diese Strategie verfange wohl nicht. Nach den Erkenntnissen hatte sie immer eine Pistole bei sich und trat „super dominant, militant und aggressiv auf“, sagte Andreasch.
Als Fazit fordert er, endlich mit der Verharmlosung der Neonazi-Szene aufzuhören, die jetzt wieder Brandanschläge auf Asylunterkünfte verübt – etwa die unsägliche Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus zu stoppen, wie sie immer wieder bei CDU-Politikern zum Ausdruck kommt. Die Gewalt der Neonazis müsse ebenso ernst genommen werden wie der Rassismus in der Bevölkerung und in staatlichen Institutionen.
Andreasch verlangt auch, die Inlandsgeheimdienste sofort aufzulösen. Auch bedürfe es öffentlichen Drucks, damit die Aufklärung des NSU-Komplexes außerhalb des Gerichtssaals fortgesetzt wird – beispielsweise in einem Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags. Möglicherweise, so Andreaschs Hoffnung am Ende seines anderthalbstündigen Vortrags und vor der abschließenden Diskussion, werden sich in vielleicht zehn Jahren die einzelnen Puzzle-Teilchen zu einem Gesamtbild zusammenfügen.
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