Stuttgart. Gewehrsalven aus dem Lautsprecher, verletzte Menschen, notdürftig mit blutverschmierten Tüchern bedeckte Tote mitten in der dicht bevölkerten Fußgängerzone: Mit einem Flashmob erinnerte ein Bündnis linker und antifaschistischer Gruppen am Samstag, 21. Juni 2014, auf der Stuttgarter Königstraße an die Massaker in Odessa oder Mariupol. Seine Forderung: Kein (Bürger) Krieg in der Ukraine!
Die Rednerinnen und Redner bei der Kundgebung am frühen Nachmittag auf Höhe des Pusteblumenbrunnens thematisierten die Entstehungsgeschichte des Ukraine-Konflikts. Sie kritisierten die krisenverschärfende Rolle der EU und der Bundesregierung. Der Westen versuche, seinen Einflussbereich und mit ihm den der Nato immer weiter nach Osten auszudehnen. Überdies wiesen die Redner auf die faschistischen Kräfte des rechten Sektors hin, die in der Maidan-Bewegung aktiv waren und in der Übergangsregierung mitwirken. In Kiew sei jetzt statt des einen Oligarchen ein anderer an der Macht.
Kritik an der Rolle der Bundesregierung
Die Sprecher der meisten Gruppen des Bündnisses vermieden es aber, sich einseitig auf westliche oder russische Seite zu schlagen. Stattdessen thematisierten sie vor allem die Lage der unter staatlicher Repression und täglicher Gewalt leidenden Bevölkerung im Süden und Osten des Landes, deren Selbstbestimmungsrecht sie einforderten. „Zeigen wir unsere Solidarität mit den verfolgten fortschrittlichen Kräften in der Ukraine! Machen wir deutlich, dass wir mit der Rolle der Bundesrepublik nicht einverstanden sind!“ hieß es im Aufruf zu der Kundgebung.
Mehrere Sprecher warnten davor, an den Grenzen zur Atommacht Russland „weiter zu zündeln“. Zwei Stellwände mit Texten und Fotos erläuterten die Entstehung und den Verlauf des Konflikts. Die Maidan-Bewegung war die Antwort darauf, dass die Regierung Victor Janukowitschs das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU, das auch militärische Zusammenarbeit vorsah, auf Eis gelegt hatte. Deutschland mischt in dem Konflikt kräftig mit, stützte etwa die EU-freundliche Udar Vitali Klitschkos. An der Rolle der rechten Swoboda störte sich die Bundesregierung dagegen nicht.
Noch mehr Opfer im brennenden Gewerkschaftshaus
Kritisiert wurden auch die Mainstream-Medien der Bundesrepublik, die stets auf Regierungskurs berichteten. Sie heroisierten unkritisch die Maidan-Bewegung und dämonisierten Wladimir Putin mit zum Teil äußerst aggressivem Vokabular. An ihrer Darstellung hielten die Bundesregierung und die meisten Medien selbst dann noch fest, als Faschisten am 2. Mai das Gewerkschaftshaus in Odessa in Brand setzten und über vierzig Menschenleben auslöschten. Ein weiteres Massaker gab es am 9. Mai, als Truppen des Regimes in Kiew in die Stadt Mariupol vorrückten. Dabei starben bis zu dreißig Menschen. Annähernd hundert Todesopfer waren zu beklagen, als die ukrainische Armee am 27. Mai Wohngebiete in ostukrainischen Großstädten unter Beschuss nahm. Viele Übergriffe seien den bundesdeutschen Medien jedoch allenfalls eine Randnotiz wert.
Neben den Gruppen, die zu der Kundgebung aufgerufen hatten, protestierten auch einige in Stuttgart und Neu-Ulm lebende Männer und Frauen aus der Ukraine selbst mit Plakaten gegen den Krieg. Eine 68-jährige Frau aus Odessa zeigte sich im Gespräch tief besorgt und aufgrund von Berichten ihrer Freunde und Angehörigen überzeugt, dass es beim Brand des Gewerkschaftshauses weit mehr Opfer gab als offiziell bestätigt. Viele Zeugen des Massakers seien jetzt inhaftiert, damit sie nicht aussagen können.
Tausende fliehen aus der Ukraine nach Russland
Eine 46-jährige Frau aus Donezk in der Südostukraine bekräftigte den Wunsch der Bevölkerung nach Autonomie. Tausende von Menschen seien bereits vor den Angriffen der ukrainischen Regierungstruppen selbst auf Krankenhäuser oder Kindergärten nach Russland geflohen. Viele weitere seien verschwunden und vermisst gemeldet. „Die Leute aus der Ukraine kommen in Bussen“ bestätigte eine andere Frau, deren Eltern in Russland leben: „Es ist alles noch viel schlimmer, als man denkt.“
Sprecherinnen und Sprecher des OTKM (offenes Treffen gegen Krieg und Militarisierung), des AABS (Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart und Region), der Linken Stuttgart, des Arbeitskreises Internationalismus Stuttgart, der Roten Hilfe, der DKP Stuttgart, der SAV (Sozialistische Alternative Stuttgart) und der GAM (Gruppe Arbeitermacht) hielten sorgfältig ausgearbeitete Ansprachen per Megaphon. Sie erreichten das in Einkaufs- und Sommerlaune vorbeieilende Publikum jedoch kaum. Die Flyer, die verteilt wurden, und die Stellwände stießen bei den Passantinnen und Passanten eher auf Interesse.
Wir dokumentieren die Ansprache des AABS:
Der Faschismus ist in Europa auf dem Vormarsch.
„Liebe Anwesende,
in mehreren Ländern Europas sind rechte und faschistische Bewegungen am erstarken. Nach Ungarn sind nun auch in der Ukraine faschistische Gruppen Teil einer angeblich demokratisch legitimierten Regierung. Der Faschismus ist in Europa auf dem Vormarsch. Nach Ungarn läuft nun auch die Ukraine Gefahr, unter die Kontrolle faschistoider Gruppen zu fallen.
Neben der Aufwertung der bewaffneten faschistischen Gruppierungen zur Nationalgarde konnten sie sich drei Ministerposten krallen und durch ihre Straßenpräsenz zu einem nicht zu unterschätzenden Faktor im politischen Leben der Ukraine werden. Zu diesem Punkt gelangten sie vor allem durch ihr massives Auftreten in der sogenannten „Maidan-Bewegung“. RednerInnen des rechten Flügels erhielten dort erheblich mehr Applaus, als gemäßigtere PolitikerInnen und konnten sich dort eine sichere Basis aufbauen, während man Andersdenkende mit Gewalt aus den Protesten drängte.
In den Straßenschlachten an vorderster Front setzten sie zuerst Janukowitsch und später die Putschistenregierung unter Druck, in dem sie den Sturm des Parlaments androhten oder Ausweiskontrollen vor dem Parlament durchführten. Ihr erklärtes Ziel einer „Entrussifizierung“ der Ukraine sowie ihre Verehrung des Nazikollaborateurs Bandera standen für den Westen einer Zusammenarbeit nicht im Weg. Die Regierungen in der EU und den USA ignorieren diese Situation bis heute. Die Faschisten werden als treue Handlanger im Kampf für eine „europäische“ Ukraine gesehen und die von ihnen ausgehende Gefahr konsequent geleugnet.
Parallelen zur Vergangenheit werden greifbar. Der Terror auf den Straßen durch den militärisch auftretenden, faschistischen, so genannten „rechten Sektor“ wurde von der neuen Regierung nun gar legalisiert, in dem man den militärischen Arm des rechten Sektors zur Nationalgarde aufwertete. Ein schwacher Zentralstaat, welcher auf einen Militärapparat baut, der auf Faschisten basiert, sollte nicht als demokratisch legitimierter Rechtsstaat aufgefasst werden, sondern als das, was es ist: Ein Spiel mit dem Feuer!
Im Osten der Ukraine operieren neben der faschistischen Nationalgarde, dem regulärem Militär auch noch Mitglieder des „rechten Sektors“, welche teilweise durch lokale Oligarchen, für welche eine Spaltung der Ukraine ein ökonomisches Fiasko wäre, ausgerüstet werden. Ob diese Gruppen den aktuellen Waffenstillstand, wie schon zu Ostern, missachten, bleibt offen. Dass die hier erlangte Praxis vielleicht auch wieder in Kiew Entfaltung finden könnte, zeigen die Äußerungen des Vorsitzenden des rechten Sektors Jarosch, welcher auf die Frage nach den Toten eröffnete, dass diese ein Preis für die Freiheit seien und man auch bereit sei, diesen Preis nochmal zu bezahlen, sollte der neue Präsident die gleichen Fehler wie der Alte machen.
Oder wie es andere Anhänger des rechten Sektors noch deutlicher ausdrückten: „Wenn der Krieg zu Ende ist, dann ziehen wir als erstes nach Kiew und machen dort die dritte Revolution.“ Doch nicht nur die faschistischen Aktivitäten in der westlichen Ukraine bieten Anlass zur Sorge. Im Osten scheinen russische Nationalisten entscheidenden Einfluss zu haben. Beispiele sind die Seperatistenführer Strelkow und Borodai, welche beide für die russisch-nationalistische „Sawtra“ schrieben, einen positiven Zarismusbezug haben und nun die Erhebung im Osten der Ukraine unterstützen.
Zudem bieten auch die Berichte über Antisemitismus und die Unterstützung europäischer Nazigruppierungen für die Republik Donezk Anlass zur Sorge. Diese russischen Nationalisten können keine Antifaschisten sein. Die versuchte politische Aufteilung der Ukraine durch Russland in den faschistischen Westen und angeblich antifaschistischen Osten erweist sich als geopolitisches Trickspiel, welches den ernsthaften Kampf gegen die Faschisten erschwert.
Es zeigt sich, dass wir nicht mit der „Feind meines Feindes“-Logik vorgehen können, wenn Faschisten gegen Nationalisten kämpfen. Uns muss es darum gehen zu differenzieren zwischen sozialen Parolen und Problematiken, sowie ihrer nationalistischen Verdrehung. Unsere Solidarität geht weder in den Westen noch in den Osten der Ukraine, sondern an all jene Individuen, welche sich gegen Menschenfeindlichkeit zu Wehr setzen, und an all jene, welche von ihr betroffen sind.
In diesem Sinne bedeutet Antifaschismus der Kampf gegen reaktionäre Denkmuster! Während in einigen Ländern Europas Rechtspopulisten und Rechte sich etablieren, versuchen sie auch in Deutschland weiter Fuß zu fassen und an Bedeutung und Dynamik zu gewinnen. Hier in Stuttgart versuchen Konservative, Rechte und religiöse Fundamentalisten, sich bei homophoben Demonstrationen zu einer rechten Allianz zu vereinen und durch Stuttgarts Straßen zu marschieren. Das haben sie bereits vier Mal versucht und wollen es am kommenden Samstag, am 28. Juni, erneut tun.
Deshalb werden wir auch am nächsten Samstag, den 28. Juni, in Stuttgart gegen die rechten Allianzen auf die Straße gehen und die Demo der rechten Allianz blockieren. Egal wie wohlklingend sie sich nennen mögen: Der von ihnen auf die Straße getragene Inhalt ist rückwärtsgewandt und menschenverachtend. Entschieden und dementsprechend setzen wir uns zur Wehr. Lassen wir uns nicht von den Flaggen beeindrucken, sondern schauen wir nach den Inhalten!
Als Antifaschistinnen und Antifaschisten müssen wir die Rolle der Rechten in der Ukraine thematisieren und dafür sorgen, dass ihre stille Duldung durch die BRD und ihre Medien aufhört. Wir müssen solidarisch sein und dürfen uns nicht durch die Grabenkämpfe der ukrainischen Linken spalten lassen! Im Kampf gegen faschistische Angriffe kann die einzige Lösung nur die Zusammenarbeit all seiner politischen Gegner sein – Dies gilt in der BRD, sowie in der Ukraine!
In diesem Sinne fordern wir euch auf: Seid solidarisch mit allen Verfolgten in der Ukraine! Thematisiert und bekämpft die faschistische Gefahr überall! Hoch die internationale Solidarität!“
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