Von Gül Güzel – Stuttgart. Zirka 200 Teilnehmer und Teilnehmerinnen einer Demonstration gedachten am Samstag, 5. Juli, in Stuttgart des Massakers am 2. Juli 1993 an den Besuchern eines Kulturfestivals in der zentralanatolischen Stadt Sivas, die früher ein wichtiges Zentrum der Aleviten war.
Die Demonstration begann am Nachmittag in der Lautenschlagerstraße. Zur Erinnerung an die 35 Opfer des Massakers gab es große Transparente mit den Aufschriften „Vom Staat haben wir keine Hoffnung zur Gerechtigkeit, unsere Hoffnung ist das Volk“ und „Gemeinsam gegen Faschismus“. Die TeilnehmerInnen skandierten Parolen und lasen Mitteilungen an die Öffentlichkeit vor. Schließlich erreichte der Demozug den Rotebühlplatz, wo die Schlusskundgebung abgehalten wurde. Die Redner kritisierten das türkische Regime, aber auch die Rolle Deutschlands.
Die Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. erinnerte an das Massaker von Sivas vor 21 Jahren. Sie prangerte an, dass die Tatverdächtigen straffrei ausgegangen seien und mindestens neun der Attentäter in Deutschland lebten. Einer von ihnen sei sogar mit fadenscheinigen Begründungen eingebürgert worden. Überdies gebe es am Tatort noch immer keine angemessene Gedenkstäte. Dagegen komme es an jedem Jahrestag zu polizeilichen Übergriffen auf Menschen, die des Ereignisses vor Ort gedenken wollten.
Hintergrundinfos der Alevitischen Gemeinde:
Sivas Massaker!
Im Jahr 1993 trafen sich in Sivas Hunderte Menschen zu einem Kulturfestival zu Ehren des alevitischen Dichters Pir Sultan Abdal. Gemeinsam wollten sie den geschätzten Dichter feiern und sich an seinen Werken freuen. Doch der Tag endete für sie in Trauer und Entsetzen.
Während drinnen im Madımak Hotel Kulturbegeisterte und -schaffende, vorwiegend alevitischen Glaubens, friedlich feierten, versammelte sich vor dem Hotel eine religiös und politisch aufgewiegelte Menschenmenge. Sie griff das Hotel mit Brandsätzen an. In dem Holzgebäude breiteten sich die Flammen schnell aus. 33 Teilnehmende des Kultufestivals starben in dem Feuer, ebenso zwei Angestellte des Hotels und zwei Täter.
Viele konnten das brennende Hotel nicht verlassen, weil der wütende Mob rings um das Hotel ihnen den Weg versperrte. Obwohl Polizei, Militär und Feuerwehr frühzeitig alarmiert worden waren, griffen sie erst nach rund acht Stunden ein. Das türkische Staatsfernsehen berichtete gleichzeitig stundenlang live vom Ort des Geschehens und zeigte vor laufender Kamera, wie Polizisten der wütenden Menschenmenge vor dem Hotel noch halfen und eine anrückende Militäreinheit sich wieder zurückzog.
Als Alevitische Gemeinde Deutschland gedenken wir dieser grauenvollen Tat und der vielen Opfer. Unsere Gedanken sind auch bei den Hinterbliebenen, die bis heute vergebens auf Gerechtigkeit und Anerkennung ihres Leids hoffen.
Die Strafverfahren gegen die Täter und Drahtzieher hinter dem Massaker zogen sich erst über Jahrzehnte hin, dann wurde im März 2012 – am 27. Verhandlungstag des seit 19 Jahren andauernden Verfahrens – das Verfahren gegen fünf Flüchtlinge (und zwei Tote) wegen Verjährung eingestellt. Gegen drei weitere Flüchtlinge läuft das Verfahren noch.
Obwohl in dieser Zeit bereits zahlreiche Personen wegen schwerer Brandstiftung, Massenmord und dem Versuch des Umsturzes des Staatssystems rechtskräftig verurteilt wurden, gelang einigen von ihnen noch in den 1990er Jahren die Flucht, u.a. nach Deutschland. Dort leben sie bis heute unbehelligt, teils als Illegale, teils als Familiennachzügler oder anerkannte Asylbewerber. Einem Täter wurde sogar die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen. Somit betrifft das Sivas-Ereignis auch Deutschland.
Während die Hinterbliebenen der Opfer zum Teil Tag für Tag mit ihrer heutigen Armut zu kämpfen haben, weil ihnen 1993 der Ernährer ihrer Familie genommen wurde, leben einige der Täter mittlerweile gut situiert im europäischen Exil.
Als Alevitische Gemeinde Deutschland wenden wir uns gegen das Vergessen und gegen die Relativierung und Verharmlosung von (staatlichen) Gewaltverbrechen.
Wir fordern daher die offizielle Anerkennung der Leiden der Opfer so vieler Pogrome und Ausschreitungen gegen Aleviten in der Türkei und die konsequente Verfolgung und Verurteilung der Täter. In Gedenken an die vielen Toten vom 2. Juli 1993 sollte das Madımak Hotel in Sivas in ein Museum und eine Gedenkstätte umgewandelt werden.
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