Kommentar von Anne Hilger – Thüringen. Das Desaster könnte größer nicht sein, die Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien kaum dreister. Dennoch wartet man bisher vergeblich auf einen Aufschrei der Medien. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags erhebt in seinem einstimmig verabschiedeten Abschlussbericht schwerste Vorwürfe gegen den Verfassungsschutz. Er soll die Fahndung nach dem mutmaßlichen Terror-Trio des NSU hintertrieben und die Arbeit der Polizei behindert haben. Eine solche Behörde ist nicht reformierbar, sie gehört abgeschafft – nicht nur in Thüringen, sondern überall.
Doch bisher kommt von den Bundestagsparteien nur die Linke zu diesem Schluss. Sie fordert, ein Forschungs- und Dokumentationszentrum an seine Stelle zu setzen. Schon der NSU-Ausschuss des Bundestags musste sich vom Verfassungsschutz auf der Nase herumtanzen lassen – kaum zu glauben, dass sich ein Parlament sowas ohne Konsequenzen bieten lässt. Der Inlandsgeheimdienst machte deutlich, dass seine V-Leute nicht durch Aussagen zur Aufklärung der Terrorserie beitragen werden – und das tun sie auch nicht im Prozess gegen Beate Zschäpe vor dem Oberlandesgericht in München. Vor die Verfassung, die der Inlandsgeheimdienst zu schützen vorgibt, und vor die Sicherheit der Menschen stellt er den Schutz seiner Spitzel, deren Tarnung er aufrecht erhalten will. Offenbar um jeden Preis. Schließlich geht es hier um zehnfachen Mord, zwei Sprengstoffanschläge mit einer hohen Zahl verletzter Opfer und eine Reihe von Banküberfällen.
Zumindest ein Teil dieser Verbrechen hätte der Thüringer Verfassungsschutz verhindern können. Das lässt der Abschlussbericht des NSU-Ausschusses vermuten. Bei der Fahndung nach dem in Thüringen untergetauchten mutmaßlichen Terror-Trio des NSU habe es so viele falsche Entscheidungen gegeben, dass der „Verdacht gezielter Sabotage oder des bewussten Hintertreibens des Auffindens der Flüchtigen“ nahe liege. Es erscheine dem Ausschuss „nicht mehr vertretbar“, nur von unglücklichen Umständen, Pannen oder Fehlern zu reden.
Dabei beruft sich der Ausschuss vor allem auf Aussagen früherer Ermittler der Polizei und Staatsanwälte. Eine Polizistin berichtete, sie hätten sich nicht erklären können, weshalb das Trio nicht aufzugreifen war. Der frühere Chef der Geraer Staatsanwaltschaft Arndt Koeppen wird im Bericht mit der Vermutung zitiert, die Zielfahnder der Polizei müssten immer wieder „verraten“ und die Gesuchten gewarnt worden sein.
Verfassungsschutz finanzierte rechtsextreme Strukturen
Überdies habe der Verfassungsschutz rechtsextreme Strukturen „mittelbar begünstigt“, so der Ausschuss. So seien an den Gründer des „Thüringer Heimatschutzes“ und V-Mann Tino Brandt hohe Beträge bezahlt worden. Eine Mitschuld an dem Desaster trifft dem Ausschuss zufolge aber auch die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt, die eigene Erkenntnisse nicht mit Nachdruck verfolgt hätten. Dem Innenministerium sei vorzuwerfen, dass es bis zum Jahr 2000 faktisch keine Fachaufsicht gab.
Der Abschlussbericht – mit 1800 Seiten umfangreicher als der des Bundestags – wird am Donnerstag dem Thüringer Landtag vorgelegt. Er ist der Nachrichtenagentur DPA aber bereits bekannt. Nach der Wahl am 14. September wird das Landesparlament angesichts vieler weiter offener Fragen voraussichtlich einen neuen NSU-Untersuchungsausschuss einrichten.
CDU und Linke haben dem einstimmig verabschiedeten Bericht ein Sondervotum hinzugefügt. Die Linke geht davon aus, dass es sich bei dem NSU um ein größeres Netzwerk handeln muss. Sie dankte überdies ausdrücklich der Antifa für ihre akribische Recherchearbeit.
Verurteilten V-Mann zu Nazi-Treffen kutschiert
Die Landtagsabgeordnete der Linken Katharina König erklärte in einem Interview mit der Jungen Welt, für das Thüringer Landesamt habe der Feind offenbar links gestanden: „Deren Ideologie war geprägt von absolutem Antikommunismus.“ Sie erinnerte auch daran, dass der brandenburgische Verfassungsschutz seinen V-Mann „Piatto“ im Gefängnis anwarb. Er war wegen des Mordversuchs an einem nigerianischen Asylbewerber verurteilt worden und sollte später versuchen, Waffen für das NSU-Trio zu besorgen. Er wurde von seinem V-Mann-Führer, dem heutigen Präsidenten des sächsischen Verfassungsschutzes, zu Neonazi-Treffen gefahren.
Ein Inlandsgeheimdienst, der zumindest in Teilen seine braune Vergangenheit nie hinter sich ließ und keine Skrupel zeigt, mit Leuten wie „Piatto“ zusammenzuarbeiten, hat in einem Rechtsstaat definitiv nichts verloren. Zum Schutz der Opfer des NSU trugen seine Erkenntnisse jedenfalls nicht bei.
Die Bürgerrechtsbewegung Humanistische Union ruft mit ihrer Kampagne „Ausgeschnüffelt“ zu einer Online-Petition für die Abschaffung aller Verfassungsschutzämter auf.
In Berlin ist für Samstag, 30. August2014 eine Demonstration „Freiheit statt Angst“ gegen Überwachung geplant. Sie beginnt um 14 Uhr am Brandenburger Tor.
Siehe auch unseren Bericht „Kein Terror-Trio, sondern ein Netzwerk“
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