Stuttgart. Es war bedrückend, was am Dienstagabend, 26. August, im Zentrum Lilo Herrmann in Stuttgart-Heslach zu hören war – vor allem aber alarmierend. Drei AktivistInnen aus der Ukraine schilderten die Situation in ihrem Land nach den Maidan-Protesten. Ihr Fazit: Die Ukraine ist kein faschistischer Staat, aber auf dem Weg dorthin. Rechter Terror und staatliche Unterdrückung von Oppositionellen oder unabhängigen Journalisten sind an der Tagesordnung. Die Menschen leiden unter dem Krieg in der Ostukraine. Stark kritisiert wurde, dass die Nato ein Manöver in der Ukraine plant.
Der Krieg, fordern die AktivistInnen, müsse sofort beendet werden. Er habe nach offiziellen Angaben bereits um die 3000 Tote gefordert, davon 1300 Zivilisten. Mehr als eine Million Menschen seien auf der Flucht. Zur Illustration der aktuellen Lage hatten die Referenten eine Fotoausstellung mitgebracht (siehe unten). Aus ihrer Sicht liegen die Ursachen des Krieges in einem faschistischen Putsch und der Politik der jetzigen Regierung in Kiew.
Zu dem Abend luden die Rote Hilfe und die revolutionäre Aktion Stuttgart ein. Mehr als 120 Interessierte drängten sich im großen Saal des Zentrums, es war proppenvoll. Die Referenten – zwei Frauen und ein Mann – berichteten auf Englisch. Ein Dolmetscher übersetzte ihre Ausführungen ebenso wie die Diskussionsbeiträge aus dem Publikum, wofür er anerkennenden Beifall erhielt.
Die AktivistInnen gehören zu einer 17 Mitglieder zählenden Delegation ukrainischer und russischer Linker, Kriegsgegner und AntifaschistInnen, die derzeit auf Einladung der Roten Hilfe auf Deutschlandtour ist. Sie wollen über die Lage informieren und Kontakte knüpfen. Mit der Kommunistischen Partei, gegen die ein Verbotsverfahren läuft, verschwand nach ihrer Einschätzung die letzte Kraft aus dem Parlament, die den bürgerlichen Staat und die Demokratie in der Ukraine zu retten versuchte.
Oppositionelle Kräfte gelten generell als Separatisten
„Für mich ist es ein starkes Zeichen für den Aufbau des Faschismus, dass die Leute das Vertrauen zueinander verlieren. Viele spüren diese Atmosphäre der Angst“, sagte einer der Aktivisten, die aus Furcht vor Repression anonym bleiben und auch nicht abgebildet werden möchten. Nach dem Sieg auf dem Maidan habe es in der Ostukraine ein große Protestbewegung mit bis zu 20 000 Menschen gegeben. Inzwischen trauten sich nur noch Hunderte, wenn nicht nur noch Dutzende auf die Straße.
Die Maidan-Proteste werden von den deutschen Medien zumeist als pro-europäischer, demokratischer Aufbruch gewertet. Der russische Präsident Wladimir Putin habe ihn mit einem neuen Kalten Krieg und Unterstützung für russische Separatisten in der Ostukraine beantwortet. Der Referent und die beiden Referentinnen in Heslach zeichneten ein anderes Bild.
Linke, Kommunisten, protestierende Arbeiter, Gewerkschafter und Antifaschisten seien nach dem Rechtsruck staatlicher Repression ausgesetzt und würden von rechten Schlägertrupps verfolgt. Manchmal reiche schon ein Eintrag in sozialen Netzwerken, um sich terrorverdächtig als „Separatist“ zu machen. Dieser Begriff werde von den Machthabern jetzt für alle möglichen Kräfte verwendet, die ihnen unbequem sind – unabhängig davon, ob sie jemals entsprechende Tendenzen gezeigt hätten.
Nazi-Internationale kämpft im Donbass
Menschen würden nicht nur nach geltenden Gesetzen verhaftet, sondern verschwänden auch einfach. Die meisten würden innerhalb von drei Tagen im Gefängnis oder beim Geheimdienst wiedergefunden. Es habe aber auch Fälle gegeben, in denen Oppositionelle einen ganzen Monat lang festgehalten wurden, ohne dass jemand etwas über ihren Verbleib wusste: „Viele AktivistInnen müssen jetzt aus dem Land fliehen oder sich verstecken.“
Zunächst verhaftete Neonazis seien schnell wieder freigekommen. Das Asow-Bataillon unter dem Kommando von Andrij Bilezki gelte als Nazi-Internationale. Es sei das bekannteste der Bataillone, in denen rechte Kräfte starken Einfluss haben. Sie kämen aus Italien, Schweden, Slowenien oder Russland. Hinweise auf eine Beteiligung Deutscher gebe es jedoch bislang nicht. „Nazis von überall nutzen die Gelegenheit, um im Donbass Erfahrungen zu sammeln“, so die Einschätzung eines der Aktivisten. Sie sähen den Krieg in der Ostukraine als Rassenkrieg und benutzten SS-Symbole wie die Wolfsangel oder etwa die Schwarze Sonne.
Tragödie von Odessa spaltete das Land
Die Nazi-Gruppierung habe die Hauptrolle bei der Tragödie am 2. Mai 2014 gespielt, als es im Gewerkschaftshaus von Odessa nach offiziellen Angaben 48 Tote gab. Sie starben nicht alle durch das von Molotow-Cocktails ausgelöste Feuer. Viele wurden auch im Haus oder nach dem Sprung durchs Fenster erschlagen. Die Bewertung dieser Ereignisse ist im Land jedoch kontrovers. „Ich glaube, dass sich die ukrainische Gesellschaft nach dieser Tragödie aufgespalten hat“, erklärte der Referent. „Ich bin kein Mitglied der KP der Ukraine, aber ich bin Kommunist, und in diesem Fall plädiere ich für Solidarität“, sagt er zum angestrebten Verbot der KP.
Die Redefreiheit sei auf dem Maidan immer ein großes Thema gewesen. Doch diejenigen, die sie am lautesten verlangten, bekämpften sie jetzt am entschiedensten. So gebe es offene Drohungen gegenüber Journalisten, die sich etwa nicht an die Auflage hielten, positiv über den Krieg zu berichten. Die Ukraine gehöre mittlerweile zu den gefährlichsten Regionen für Journalisten. Allein in diesem Jahr seien bereits sieben Journalisten getötet worden. Neu sei, dass die ukrainische Regierung Medien einfach ohne richterliche Anordnung schließen könne.
Auflagen des IWF treffen die Menschen hart
Der Internationale Währungsfonds IWF habe mit Krediten die Grundlage dafür geschaffen, dass die ukrainische Regierung den Krieg im Osten des Landes fortsetzen kann, berichtete eine Aktivistin. Als armes Land wäre sie sonst dazu nicht in der Lage. Die Auflagen des IWF träfen die Bevölkerung jedoch sehr hart. Sozialleistungen würden gesenkt und der Mindestlohn eingefroren, dagegen stieg der Gaspreis stark. Die Heizkosten würden im harten ukrainischen Winter wohl mehr als die Hälfte des Einkommens einer durchschnittlichen Familie betragen. Auch die Privatisierung der Minen gehöre zu den Auflagen.
In der Diskussion, die sich nach einer Pause an den Vortrag anschloss, wurde die militärische Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte durch Länder wie Kanada oder die USA stark kritisiert – ebenso das nach dem Natogipfel Anfang des nächsten Monats geplante Nato-Manöver vom 11. bis zum 28. September in der Ukraine mit 1300 Soldaten. 16 Staaten, unter ihnen fünf Nicht-Mitglieder der Nato – allesamt frühere Sowjetrepubliken – nehmen teil. Das Oberkommando hat die Eucom-Zentrale in Stuttgart. Für Donnerstag, 11. September 2014, ist dort von 18 Uhr an eine erste Mahnwache und Protestkundgebung geplant.
Interessen ukrainischer Arbeiter und des russischen Kapitalismus decken sich
Die Vorgänge in der Ukraine lösen starke Befürchtungen aus. „Der Konflikt hat das Zeug, einen Dritten Weltkrieg zu provozieren, weil er mit der Kräfteverschiebung zwischen den Kontinenten und der Ausdehnung der Nato zu tun hat“ sagte eine Frau. Differenziert fielen die Antworten auf Fragen nach der Rolle Russlands und den eigenen Zielen aus. Russland habe allen Russisch sprechenden Menschen Unterstützung zugesichert. Das komme gut an, da die Leute in der Ukraine sähen, dass gute Beziehungen zu Russland sie selbst und die Wirtschaft ihres Landes am Leben hielten.
„Vor Kriegsbeginn kämpften wir für die Interessen der Arbeiterklasse, wie es Kommunisten halt so tun“, sagte ein Aktivist. Doch jetzt herrsche nicht nur Krieg, auch wenn die Regierung das nicht zugeben wolle, sondern eine reale faschistische Gefahr. „Wir unterstützen die breite antifaschistische Bewegung und denken über die Interessen unserer Klasse nach.“ Da die Ökonomie der Ostukraine eng mit Russland verknüpft ist, unterstützten sie die Donbass-Milizen: “Ein Bruch würde die Industrie stark schädigen“ – und damit auch die Situation der arbeitenden Klasse: „Ich und meine Genossinnen sehen es in dieser Situation so, dass die Interessen der Arbeitenden in der Ostukraine sich mit denen des russischen Kapitalismus decken.
Siehe auch Flashmob zum Krieg statt Samstagseinkauf
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