Kobane/Berlin. „Männer, Frauen und Kinder, ganze Familien mit ihrem Vieh lagern auf syrischer Seite vor dem Stacheldraht und kommen nicht hinüber. Es ist grauenhaft, das anzusehen.“ Heike Hänsel, Bundestagsabgeordnete der Linken, kehrte am Montagnachmittag, 22. September, aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet, wo sie sich seit Samstag aufhielt, zurück nach Berlin. „Die Türkei muss die Grenze öffnen, um humanitäre Hilfe zu ermöglichen, und die internationale Gemeinschaft Beobachter schicken“, sagte sie uns unmittelbar danach am Telefon.
Es gibt seit Jahren Berichte, dass die türkische Regierung den IS unterstützt, indem sie Lastwagen mit Truppen, Waffen und Munition passieren lässt und verwundete Soldaten in Hospitälern versorgt. So schildern es Augenzeugen aus der Grenzregion. Möglicherweise stattet sie den IS auch selbst mit Waffen aus – zuletzt im Austausch mit 49 Geiseln hieß es das sogar ganz offiziell.
„Die Türkei will nicht, dass die Kurden gestärkt werden und eine autonome Region aufbauen“, sagt Heike Hänsel. „Sie lassen den IS das schmutzige Geschäft machen, die Kurden zu schwächen.“ Die türkische Regierung habe schließlich gegen die eigene Bevölkerung Krieg geführt und 20 000 Dörfer zerstört. Die Forderung der Abgeordneten an die Türkei: „Sie muss die Grenze öffnen für Flüchtlinge und sie für IS-Kämpfer und Waffen schließen.“ Von der Bundesregierung verlangt Hänsel, ihr Schweigen zu beenden, Druck auf die Türkei auszuüben und Waffenlieferungen an den Nato-Partner einzustellen.
Hänsel, Vorsitzende des Unterausschusses Vereinte Nationen des Bundestags und erfahrene Friedensaktivistin, folgte am Samstag „ziemlich spontan“ dem „dringenden Aufruf“ kurdischer Gruppen, Beobachtungsdelegationen ins türkisch-syrische Grenzgebiet zu schicken. Seit drei Tagen schon befinden sich kurdische Abgeordnete des türkischen Nationalparlaments dort in einem Sitzstreik, um die Flüchtlinge zu unterstützen. Auch Bürgermeister aus der Region sind dabei.
Kurden flüchten vor den Milizen des IS aus der syrischen Stadt Kobane, kommen aber meist nicht über die Grenze. Von 100 000 und mehr Flüchtlingen ist inzwischen in den Medien die Rede. Die Berichte widersprechen sich. Zum Teil hieß es, die türkische Regierung habe dem Druck nachgegeben und zumindest für einige Zeit die Grenzübergänge geöffnet. Offiziell meldet die Türkei, bereits 130 000 Flüchtlinge aufgenommen zu haben. „Allein in der Gegend von Kobane sollen es 50 000 sein. Aber so viele habe ich nie und nimmer gesehen“, sagt Hänsel.
Wer es auf türkisches Gebiet geschafft hat, werde auf Straßen und in Turnhallen von der kurdischen Bevölkerung versorgt. Die Abgeordnete hat weder UN-Personal noch Vertreter von Hilfsorganisationen gesehen – lediglich am Abend ein am Straßenrand parkendes Auto der UN ohne Insassen, die sie hätte befragen können.
Wo sich Heike Hänsel aufhielt, blieb die durch Stacheldraht gesicherte Grenze geschlossen. Auf deren türkischer Seite hatten kurdische Dorfbewohner Zelte aufgebaut und Lebensmittel für die Geflohenen organisiert. Hänsel erlebt mit, wie die türkische Armee Zelte zerstörte und Nahrungsmittel beschlagnahmte. Die Soldaten setzten Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Helferinnen und Helfer zu vertreiben. Zusammen mit anderen schlug sich die Abgeordnete der Linken bis zum Grenzzaun durch, wo die Armee verhinderte, dass sich die syrischen Flüchtlinge auf türkisches Gebiet retten konnten.
„Hier geht es erstmal darum, die Grenzen zu öffnen, um humanitäre Hilfe zu leisten“, sagte uns Heike Hänsel am Telefon in ihrem Berliner Büro, noch ganz unter dem Eindruck ihrer Beobachtungen. Dabei müsse die Türkei die Übergänge unbedingt dort öffnen, wo sich die Flüchtlinge auch tatsächlich befinden, damit sie nicht von IS-Milizen aufgegriffen werden. Das soll einigen jungen Männern bereits widerfahren sein, hat die Abgeordnete gehört. Die Verhafteten seien ermordet worden.
Fotos: Heike Hänsel
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