Göppingen. Dieses Mal gab es keine Polizeikessel, keine Gitter, keine Schlagstöcke, kein Pfefferspray und keine Festnahmen. Als am Samstagnachmittag, 11. Oktober, in Göppingen 330 AntifaschistInnen dem Aufruf „Wir bleiben dran!“ folgten und auf die Straße gingen, war die Stimmung gut. Die Polizei beschränkte sich anders als in den letzten zwei Jahren darauf, massiv Präsenz zu zeigen – mit Pferden, Mannschaftswagen in den Seitenstraßen und auffallend vielen Beamten in Zivil. Misstöne gab es trotzdem. Die Initiative „Kreis Göppingen nazifrei!“ und der Gemeinderat hatten ihre Kundgebung am Vormittag auf dem Marktplatz abgehalten. Ein Teil der Redner wandte sich „gegen jede Art von Extremismus“ und grenzte sich scharf von AntifaschistInnen ab.
Es gab am 11. Oktober in Göppingen zwei Arten des Protests gegen Rechts, die wenig miteinander gemein hatten. Die Spaltung hat sich im Vergleich zu den Vorjahren noch verschärft – zumal Oberbürgermeister Guido Till den städtischen „Runden Tisch gegen Rechts“ inzwischen zu einem „Runden Tisch gegen Extremismus“ umgetauft hat. „Runder Tisch hält große Reden, Antifa heißt Kontra geben!“, wurde bei der „Dranbleiben“-Demo denn auch skandiert. Eine ihrer weiteren Parolen: „Göppingen – ohne Polizei, wär‘ schon lange nazifrei.“
Polizei ging in den Vorjahren massiv vor
Neonazis ließen sich am Samstag nur vereinzelt in der Stadt blicken. Drei Jahre in Folge war Göppingen jeweils im Oktober Schauplatz von Naziaufmärschen, die von starken Einsatzkräften abgeschirmt und mit zum Teil massiver Polizeigewalt gegen bis zu 2000 GegendemonstrantInnen durchgesetzt wurden. Die Stadt befand sich zuletzt regelrecht im Belagerungszustand. Demosanitäter zählten im vergangenen Jahr 150 Verletzte, davon zehn Schwerverletzte. 500 DemonstrantInnen wurden zum Teil ganztägig in Polizeikesseln festgehalten (wir berichteten).
Dieses Mal blieb alles ruhig. Die Polizei hielt sich im Hintergrund. Die Sanitäts-Gruppe Südwest, die am Wochenende auch in Ulm und bei Aktionen gegen das Freihandelsabkommen TTIP in Stuttgart im Einsatz war, musste nicht tätig werden.
Bis ins Jahr 2020 hinein waren in Göppingen zunächst jährliche Neonazidemonstrationen angekündigt. Als Polizei und Staatsanwaltschaft im Frühjahr mit Hausdurchsuchungen und Festnahmen gegen die so genannten „Autonomen Nationalisten“ vorgingen, wurde die diesjährige Demonstration jedoch wieder abgemeldet.
Gegen Kriminalisierung des antifaschistischen Protests
Dennoch gab es immer wieder Gerüchte, Neonazis mobilisierten für den 11. Oktober in die Stadt – erst recht, nachdem am Samstag, 31. August, ungefähr 30 Anhänger der Organisation „Der Dritte Weg“ zu einer Kundgebung aufgetaucht waren. Sie war angemeldet gewesen. Das behielt Göppingens Oberbürgermeister Guido Till jedoch für sich, was ihm Kritik vom „Runden Tisch gegen Rechts“ und aus den Reihen des Gemeinderats eintrug.
Selbst am Samstagvormittag rechneten auf dem Göppinger Bahnhofsvorplatz noch viele damit, dass es einen Naziaufmarsch geben werde. Dort hielt die Initiative „Wir bleiben dran“ den ganzen Tag über eine Kundgebung mit Redebeiträgen, Infotischen, Musik und Verpflegung ab. Sie hatte sich entschieden, unabhängig von den Plänen der Rechten zum Protest gegen Nazis aufzurufen – und gegen Repression, da viele GegendemonstrantInnen der Jahre 2012 und 2013 Strafbefehle erhielten und mit Verfahren überzogen wurden, die zum Teil noch andauern.
OB verficht „Strategie der Missachtung“ gegen Rechts
Die „Dranbleiben“-Demo begann kurz nach 16 Uhr, als ein Zug mit Nazigegnern aus Stuttgart eingetroffen war. Sie hatten sich zuvor in der Landeshauptstadt am Protest gegen das geplante Freihandelsabkommen TTIP beteiligt. Eine knappe halbe Stunde zuvor war Guido Till auf dem Bahnhofsvorplatz aufgetaucht. Kundgebungs-TeilnehmerInnen konfrontierten den OB in Anspielung auf die verheimlichte Demo des „Dritten Wegs“ mit Schildern wie „Till der Schweiger“ oder „Nazis hetzen -Till bleibt still“.
Die AntifaschistInnen betrachten es als ihr eigenes Verdienst, dass sich am Samstag keine Nazis versammelten. Ein Redner hielt dem bürgerlichen Bündnis „Kreis Göppingen nazifrei!“ nicht nur vor, bei seiner Kundgebung „unheimlich krass“ die Extremismustheorie vertreten und damit Rechts und Links unzulässig gleichgesetzt zu haben. Er fand es auch unglaublich, dass es auf seiner Bühne eine Südstaatenfahne zeigte und sie auch nach Hinweisen nicht entfernte, obwohl jeder wissen müsse, dass die Südstaaten mit Rassismus zu tun hatten.
Im Vorjahr flossen „Blut und Tränen“
Der Demozug entlang der Göppinger Innenstadt wurde von Polizeireitern, einem Lautsprecher- und einem Kamerawagen der Polizei angeführt. Die Beamten unterließen es zunächst, die DemoteilnehmerInnen zu filmen. Das änderte sich aber, als gegen Ende eine bunte Fackel abgebrannt wurde – obwohl davon kaum eine Gefahr ausgegangen sein dürfte. Es gab mehrere Zwischenkundgebungen, so etwa bei der Wohnung Daniel Reuschs, einer der Hauptaktivisten bei den „Autonomen Nationalisten Göppingen“, und in der Nähe des Marktplatzes. Er war der „Dranbleiben“-Demo als Ort für eine offizielle Kundgebung verwehrt worden.
„Letztes Jahr flossen hier Blut und Tränen“ hieß es an einer anderen Stelle, an der 2013 eine Absperrung stand: „Hier hat uns die Polizei den Schädel eingeschlagen. So etwas vergessen wir nicht.“ Ein Sprecher der Roten Hilfe berichtete über die Einzelheiten des damaligen Vorgehens der Polizei: Mit Ausnahme von Wasserwerfern habe sie alle zur Verfügung stehenden Werkzeuge gegen die AntifaschistInnen eingesetzt. Nach ungefähr zwei Stunden endete die Demo am Samstag ohne Zwischenfälle vor dem Bahnhof.
Hubsteiger und Kehrmaschine auf dem Marktplatz
Zur Kundgebung der Initiative „Kreis Göppingen nazifrei!“ waren am Vormittag ungefähr 130 TeilnehmerInnen gekommen. Sie begann mit einem Gottesdienst verschiedener Religionen. Hinter dem Bühnenwagen mit den jeweiligen Oberhäuptern der Gemeinden war das vor dem Rathaus aufgespannte Transparent „Tigerente muss bleiben“ zu erkennen.
In Anlehnung an eine gegen die NPD gerichtete Aktion der Neu-Ulmer Rathausspitze im Bundestagswahlkampf 2013 hatte die Stadtverwaltung Bauhoffahrzeuge zu einer Leistungsschau auffahren lassen: Unimog, Hubsteiger oder Kehrmaschine – alle frisch geputzt und blankpoliert. Zwischendrin saßen die Leute an Biertischen und plauderten in den Straßencafés, tranken Kaffee oder aßen zu Mittag. Nur die Nazis, gegen die sich die Kehrmaschinenaktion in Neu-Ulm gerichtet hatte, fehlten.
OB lobt Göppingen als „bunte Stadt“
OB Guido Till eröffnete als erster Redner die von Alex Maier, dem Sprecher des Bündnisses „Kreis Göppingen nazifrei!“ moderierte Kundgebung. Er betonte, dass die in der Stadt lebenden Menschen aus 120 Nationen eine Bereicherung für das Zusammenleben seien. Göppingen verstehe sich als vielfältig und bunt. Ein Drittel der Einwohner der Stadt habe Migrationshintergrund.
„Extremismus – ob von Rechts, von Links oder aus religiösen Gründen – lehnen wir ab“, betonte der CDU-Mann: „Das sagen wir allen, die heute hierherkommen: Ihr seid nicht willkommen!“ Armin Roos sprach für die SPD, Christoph Weber für die Grünen und Wolfgang Berge für die Freien Wähler. „Wir stehen gegen jeden Extremismus und gegen Menschenfeindlichkeit“, sagte er. Wir in Göppingen waren stets weltoffen, sind es und bleiben es.“ In die Stadt passten keine braunen Parolen, „aber es passen auch keine gewalttätigen Aufmärsche von linksaußen“.
CDU setzt „Extremisten jeglicher Couleur“ gleich
Für Unruhe auf dem Markplatz, besonders auch bei der SPD, sorgte Christian Stähle, Stadtrat der Linken. Empört wandte er sich gegen eine Presseerklärung, in der die CDU die Verschweigetaktik von Oberbürgermeister Guido Till rechtfertigte. Stähles Fraktion der Linken und Piraten im Stadtrat wertet sie als „Beleidigung aller Antifaschisten“. Göppingen sei „erwiesenermaßen keine Wohlfühlstadt für Autonome Nationalisten“ und dürfe dies „auch nicht für Antifaschisten“ werden, heißt es darin. „Politik und Bürgerschaft“ trügen gemeinsam Verantwortung, dass Göppingen „nicht zu einer Arena für Extremisten jeglicher Couleur wird“.
Es gebe keinen schlechteren oder besseren Extremismus, so die CDU. Beide Gruppierungen hätten sich in Göppingen „gegenseitig eine riesige Bühne für ihre platten Parolen und Auseinandersetzungen geboten“, heißt es weiter. Die Erklärung mündet in der Forderung, SPD, Grüne und Linke müssten sich „endlich auch unmissverständlich gegenüber Antifaschisten abgrenzen“.
Linke und Piraten entsetzt über CDU-Erklärung
„Das werde ich als Linker nie tun – niemals“, stellte Christian Stähle am Mikrophon klar. „Sonst würde ich nicht mehr in den Spiegel schauen können. Ich bin Antifaschist, und das bleibe ich.“ Seine Fraktion sei entsetzt, schreibt sie auf einem Flugblatt, „wie hier faktisch auch die Opfer der Nazis, die sich immer als Antifaschisten verstanden haben, auf eine menschenverachtende Weise politisierend missbraucht und gedemütigt werden“. Einige Zuhörer mit SPD-Fahne riefen während Stähles Rede „Aufhören!“.
Nach den Vertretern der Fraktionen sprachen Landrat Edgar Wolff, Martin Reißmüller vom DGB und Jozo Beslic als Sprecher des städtischen Integrationsausschusses. Wegen der Entwicklung in Kobane erhielt spontan auch Melek Kandilli vom Migrantinnenverein Göppingen das Wort. Sie warnte vor einem Massaker vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Ihre Einschätzung der Rolle der Türkei und des Westens stieß jedoch nicht auf ungeteilte Zustimmung, zeigten aufgeregte Diskussionen einiger Zuhörern im Anschluss an die Kundgebung.
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