Stuttgart. Die GegnerInnen des neuen baden-württembergischen Bildungsplans sangen vor dem Staatstheater „Großer Gott, wir loben Dich“. – „Hoch die internationale Solidarität“ hielten ihnen GegendemonstrantInnen hinter Hamburger Gittern entgegen. Mit dieser Szene endete am Nachmittag des Sonntag, 19. Oktober, am See im Stuttgarter Schlossgarten eine neuerliche „Demo für Alle“. Die Polizei war mit starken Einsatzkräften vor Ort.
Es gab Polizeiübergriffe auf GegendemonstrantInnen, jedoch nicht im von früheren Bildungsplandemonstrationen bekannten Ausmaß. Es gab auch keine ähnlich massiven Einkesselungen, dennoch nach unseren Informationen vier Festnahmen. Obwohl die Polizei auch Schlagstöcke einsetzte, mussten die Demosanitäter der Gruppe Südwest nur in zwei kleineren Fällen Hilfe leisten. Das ist insofern überraschend, als Beamte der Reiterstaffel in eine Gruppe von GegendemonstrantInnen hineinritten – verantwortungslos, wie die Demosanitäter kritisieren. Vorausgegangen war eine Festnahme aus der Gruppe heraus, die andere DemonstrantInnen verhindern wollten.
„Hetero ist keine Pflicht, Homophobie ist widerlich“, riefen GegendemonstrantInnen, als sie sich nach der Schlusskundgebung der „Demo für Alle“ unter dem Motto „Ehe und Familie vor“ spontan zu einem neuen Zug formierten. Eine Polizeikette hielt rund hundert von ihnen zunächst am See auf, ließ sie dann aber in Richtung Schlossplatz und Königstraße ziehen. Zuvor hatten sich die Beamten einen Versammlungsleiter nennen lassen.
Spontandemo durch die Königstraße
„Schützt eure Kinder vor homophoben Spinnern“, riefen die Demonstrierenden den Leuten zu, die in den Straßencafés an der Königstraße saßen. TeilnehmerInnen der vorausgehenden „Demo für Alle“ filmten und fotografierten vom Straßenrand aus die Vorüberziehenden, was die sich jedoch verbaten. Schon allein der Hinweis genügte einigen Bildungsplangegnern, um ängstlich nach der Polizei zu rufen. Die Beamten standen ohnehin in großer Zahl und mit Helmen unter dem Arm rund herum.
Es war ein strahlender Sonntagnachmittag, doch im Schlosshof, vor dem Landtag, in der ganzen Stuttgarter Innenstadt – überall standen Fahrzeuge der Polizei. Der Schillerplatz war schon am frühen Nachmittag mit Hamburger Gittern abgesperrt. Schon kurz nach dem angekündigten Beginn der Kundgebung der sich “Demo für Alle“ nennenden rechten Allianz um die baden-württembergischen Bildungsplangegner kam niemand mehr durch – auch niemand, der dem Demo-Aufruf der Allianz folgen wollte. Auf dem Schillerplatz wurden unter anderem Fahnen der Identitären und Neonazis mit Thor-Steinar-Kleidung gesichtet. Auch eine einzelne Flagge des Malteser Hilfsdiensts war zu sehen.
Auch der Heilbronner CDU-Kreisverband schloss sich an
Mit 1500 Teilnehmenden hatten die Bildungsplangegner, die regelmäßig „für Elternrecht“ und „gegen Gender-Ideologie“ auf die Straße gehen, gerechnet. Sie selbst und die Polizei zählten schließlich 1200. Im Vorfeld hatte es Diskussionen gegeben, weil sich neben mehreren evangelischen Arbeitskreisen der CDU wie Rems-Murr, Heilbronn oder Mannheim und der Arbeitskreis „Christdemokraten für das Leben“ dieses Mal auch Thomas Strobls Heilbronner Kreisverband in das Demo-Bündnis eingereiht hatte.
Das passt so gar nicht zu dem fortschrittlichen Image, das der Bundestagsabgeordnete und Landes-Chef seiner Partei verpassen möchte. SPD und Grüne verlangten dann auch von Strobl, die Rolle der CDU beim Protest gegen den Bildungsplan zu klären. Grünen-Chef Oliver Hildenbrand fragte ihn in einem offenen Brief, ob er die Meinung teile, dass die Bildungspläne eine „Umerziehung zur Homosexualität“ oder eine „Frühsexualisierung“ vorsähen.
Gegenkundgebung auf dem Schlossplatz
„100 Prozent Akzeptanz“ forderten hingegen die TeilnehmerInnen einer Gegenkundgebung auf dem Schlossplatz. Stuttgart sei eine Stadt der Vielfalt, sagte Christoph Ozasek, Vertreter der Linken in der Regionalversammlung. Alle Menschen, „egal woher sie kommen und egal woran sie glauben, wie sie lieben und Familie leben“, seien willkommen.
„Wir lassen nicht zu, dass unwidersprochen Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Trans-, Intersex- und queeren Menschen ihre Gleichwertigkeit aberkannt wird“, betonte Ozasek. Die Eiferer machten „gemeinsame Sache mit Nazis“, die ihre Demonstrationen gegen Störer abschirmten.
Polizei erteilt sechs Platzverweise
Der Gegenprotest gegen die “Demo für Alle“ rückte bis an die Hamburger Gitter heran. Die Polizei sprach von zwei Versammlungen „verschiedener linker Gruppierungen“ im Bereich Schillerplatz/Planie und Schillerplatz/Dorotheenstraße. Nach unserer Schätzung beteiligten sich ungefähr 500 Menschen – etwa 400 direkt vor den Hamburger Gittern, weitere 100 über die Stadt verteilt. Die meisten Bildungsplangegner waren mit Autos oder eigens organisierten Bussen angereist, ihre GegnerInnen zumeist mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Da am Sonntag in Stuttgart keine S-Bahnen und nur wenige Züge fuhren, litt der Gegenprotest unter dem Lokführerstreik.
Gleichwohl war die Stimmung aufgeheizt. Die Polizei kontrollierte schon am frühen Nachmittag. So wurden etwa drei Fotografen mit Kamera und Presseausweis durchsucht – unter ihnen ein Mitarbeiter der Beobachter News. Die Polizei berichtet auf ihrem Presseportal von einem Platzverweis, den sie um 14.40 Uhr gegen eine 40-jährige Frau aussprach. Sie habe „eine Amtshandlung an der Polizeiabsperrung am Schillerplatz massiv“ gestört. Später wurde sie nach unseren Informationen festgenommen. Die Polizei berichtet von fünf weiteren Platzverweisen. Nach Angaben der Beamten wurden bei „mutmaßlichen Gegnern der Bildungsplan-Demo, die aus den Räumen Tübingen/Reutlingen und Pforzheim angereist waren, Böller, Quarzhandschuhe und Vermummungsmaterial beschlagnahmt“. Später seien Polizisten angespuckt und die Personalien der Urheber festgestellt worden.
Einsatzkräfte behindern Arbeit von Pressefotografen
Um den Zug der „Demo für Alle“ von der Kundgebung auf dem Schillerplatz in Richtung Konrad-Adenauer-Straße und Charlottenplatz zu ermöglichen, zogen berittene Polizisten und BFE-Einheiten mit etwa 150 Beamten auf. Am Fronttransparent war auch AfD-Stadtrat Dr. Heinrich Fiechtner, den seine Partei neulich erst aus dem Landesvorstand geworfen hat. Fotografen der Beobachter News wurden daran gehindert, den Demo-Zug zu begleiten und zu dokumentieren. Letztendlich kamen alle Fotografen der „BN“ über Umwege zu ihrem Ziel. Wer diese Presseschikanen anordnete wird ein Geheimnis bleiben.
Die Polizeiführung habe das so bestimmt, erklärte dem Chefredakteur der Beobachter News ein Beamter des Anti-Konflikt-Teams. Als eine andere Fotografin mit einem Kollegen eine Absperrung passieren wollte, hörte sie im Polizei-Sprechfunk die Frage: „Ist das linke Presse oder normale?“ Offenbar werden da feine Unterschiede gemacht.
Auf der Demoroute der Bildungsplangegner und vor allem am Ort der Abschlusskundgebung vor dem Staatstheater roch es unangenehm. Vermutlich waren Stinkbomben mit Butter- und Essigsäure geworfen worden.
Unsere bisherigen Beitrage zum Thema „Bildungsplangegner“ gibt´s hier.
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