Pforzheim. Die Grüne Jugend Pforzheim-Enz und die Linksjugend [’solid] Pforzheim sorgen sich über die aktuell bedrohlich steigende Zahl rechtsradikaler Aktivitäten in Pforzheim. Sie haben einen Offenen Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Gert Hager, die regionalen Medien und den Pforzheimer Gemeinderat verfasst. In ihm kritisieren sie eine passive Haltung der Stadt gegenüber Naziumtrieben und fordern unter anderem öffentliche Unterstützung für die jährliche Demonstration der Initiative gegen Rechts gegen Fackelmahnwachen der Neonazis auf dem Wartberg.
Wir dokumentieren das Schreiben im Wortlaut:
Es ist der 23. Februar 1945, 19.50 Uhr: 379 Bomber der Royal Air Force überfliegen das Stadtgebiet Pforzheims und werfen in den folgenden 22 Minuten über 1500 Tonnen aller möglichen Sprengkörper ab. 17 600 Menschen werden bei diesem Angriff ums Leben kommen. Nazideutschland bekommt mit aller Härte jenes Leid zu spüren, das es mit seinem sinnlosen Morden in den sechs Jahren zuvor in die Welt gebracht hat.
Nicht einmal drei Monate später, am 8. Mai 1945, wird das Hitler-Regime sich den Alliierten bedingungslos ergeben, auch eine Folge des Angriffes auf Pforzheim, der ein bedeutsamer Bestandteil der demoralisierenden Luftangriffe der Alliierten war und außerdem die Zerstörung kriegsrelevanter Zünderherstellung zur direkten Folge hatte.
Es ist der 2. Oktober 2014, circa 22.30 Uhr: Zwei Menschen rennen in Panik durch die Pforzheimer Nordstadt, erst in einer Bar finden sie einen sicheren Rückzugsort. Sie fliehen. Sie fliehen vor mehreren einschlägig bekannten Neonazis, einer von diesen hat bereits eine Bierflasche abgeschlagen und die Flüchtenden mit dieser bedroht.
Nicht einmal drei Wochen später, am Abend des 20. Oktobers 2014, wird die Klingel des linksalternativen Zentrums „alte Fabrik“ mittels Brandbeschleunigers angezündet, anschließend versuchen mehrere Unbekannte sich mit Schlagwerkzeugen Zutritt zu den Räumlichkeiten zu verschaffen, woran sie scheitern.
Die beiden aufgeführten sind keine Einzelfälle. Im Jahr 2014 hat die Zahl rechtsradikaler Übergriffe und provokanter Auftritte nicht nur gegenüber linken oder alternativen Räumlichkeiten sich spätestens seit der Gründung eines Kreisverbandes der Partei „Die Rechte“, deren Name für sich spricht, bedrohlich erhöht.
Eine vollständige Auflistung sämtlicher bekannter Neonazi-Aktivitäten allein in Pforzheim würde den Rahmen dieses Briefes sprengen, kann jedoch jederzeit formlos bei der Grünen Jugend Pforzheim-Enz unter der E-Mail-Adresse junge@gruene-pforzheim-enz.de angefragt werden.
Derartige Entwicklungen besorgen uns als antifaschistische Jugendorganisationen sehr, jedoch scheinen wir mit dieser Besorgnis weitgehend alleine dazustehen: Die Stadt Pforzheim äußert sich zu derartigen Vorfällen kaum einmal, und in der Regionalpresse liest man bestenfalls hin und wieder unter der Überschrift „Neonazis provozieren Autonome“ darüber.
Vermutlich gibt es nicht wenige Menschen, die nach den vorausgegangenen Informationen annehmen würden, die Bewohnerinnen und Bewohner Pforzheims hätten nichts aus ihrer Vergangenheit gelernt, erinnert es doch frappierend an die Umstände, die in Deutschland von 1933 bis 1945 herrschten, wenn Menschen auf offener Straße unter Anderem aufgrund ihrer politischen Ansichten von Neonazis gejagt werden.
Damit würde man es sich allerdings zu einfach machen, denn selbstverständlich muss man eingestehen, dass es sich glücklicherweise lediglich um eine vergleichsweise kleine Minderheit handelt, die noch immer den Idealen desDritten Reiches nachhängt und dass eine überwältigend große Mehrheit der Pforzheimerinnen und Pforzheimer sich diesen jederzeit entschlossen in den Weg stellen würde.
In diesem Zusammenhang muss allerdings auch die Frage erlaubt sein, wo die öffentliche Empörung dieser Mehrheit bleibt, wenn Neonazis beispielsweise Brandanschläge auf alternative Räumlichkeiten verüben. Warum ignorieren die regionale Medienlandschaft und Politik bis auf wenige, löbliche Ausnahmen entschlossen das strukturelle Naziproblem, das Pforzheim ganz offensichtlich hat? Weshalb findet keine organisierte Aufklärung der Bevölkerung über dieses statt?
Allem Anschein nach betrachtet die Stadt Pforzheim neonazistische Organisationen vor Ort in erster Linie als Imageschaden und unterläuft dabei dem gefährlichen Fehler, die reelle Bedrohung, die selbige für große Teile der Bevölkerung darstellen, zu übersehen.
Als antirassistische Jugendorganisationen kritisieren wir eine derart passive Haltung der Stadt – in Person von Herrn Oberbürgermeister Gert Hager – politischer Institutionen und der regionalen Medien derart menschenverachtend und geschichtsrevisionistisch agierenden Organisationen gegenüber gerade auch vor dem geschichtlichen Hintergrund und der daraus resultierenden besonderen Verantwortung Pforzheims scharf.
Wir fordern:
– Die Schaffung eines/einer „Beauftragten für Rechtsradikalismus“ durch die Stadt Pforzheim, zu dessen/deren Aufgabengebiet auch die Aufarbeitung der Geschichte der Naziherrschaft in Pforzheim gehören soll, die bislang außerhalb des 23. Februars kaum und am 23. Februar selbst hauptsächlich im Gedenken an die Opfer des Angriffes – eigentlich ja Opfer des Naziregimes – realisiert wird.
– Jährliche Berichte über rechtsradikale Vereine und Gruppierungen vor Ort, sowie deren Aktivitäten.
– Die klare Benennung von Straftaten, die in Zusammenhang mit rechtsradikalen Weltbildern stehen, in den Medien und die Unterlassung von deren Verharmlosung beispielsweise als „Dumme Jungen-Streich“.
– Die Schaffung eines regionalen Programmes zum Ausstieg aus der rechten Szene.
– Einen jährlichen Rechenschaftsbericht, welche Präventivmaßnahmen die Stadt Pforzheim ergriffen hat, um Menschen vor dem Abrutschen in die rechte Szene zu bewahren.
– Die öffentliche Unterstützung der jährlichen Demonstration der Initiative gegen Rechts, die sich gegen die geschichtsrevisionistische Fackelmahnwache des rechtsradikalen „Freundeskreis Ein Herz für Deutschland“ auf dem Pforzheimer Wartberg richtet.
– Die Unterlassung der Kriminalisierung von Menschen, die sich der Bekämpfung faschistischer Strukturen auf demokratischem Wege verschrieben haben, als sogenannte „Chaoten“, besonders im Vorfeld des 23. Februars.
Unseres Erachtens wären dies angemessene Schritte, die dunkle Vergangenheit Pforzheims aufzuarbeiten und gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt nachts wieder unbesorgt über die Straße gehen können, gleich, welche Hautfarbe, Kultur, politische, sexuelle oder religiöse Orientierung sie haben.
Dafür Sorge zu tragen, sehen wir nun die Stadt, repräsentiert durch Herrn Oberbürgermeister Gert Hager, sowie die im Gemeinderat der Stadt Pforzheim vertretenen Fraktionen, Parteien und Wähler*innengemeinschaften in der Pflicht, deren Antworten wir voller Interesse entgegensehen.
Hochachtungsvoll
die Mitglieder der Grünen Jugend Pforzheim-Enz und der linksjugend [’solid] Pforzheim
Folge uns!