Von Henry Schulz / Fotos: Lisa Schulz, Henry Schulz, Peter Schmidt – Als wir in Havanna gelandet sind, brachten wir schon etwas Kuba-Erfahrung von unterschiedlichen Reisen mit. Diesmal wollten wir mehr über die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse erfahren, als bei einer „normalen“ touristischen Reise möglich ist. Ein kleiner Reiseveranstalter versprach uns Kontakte zu politischen und sozialen Einrichtungen und Gespräche mit Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen. Er hat im Großen und Ganzen Wort gehalten, was vor allem dem Improvisationstalent von Maria, unserer Reiseleiterin, zu verdanken war.
Ohne es so deutlich auszusprechen, beschäftigte doch jeden von uns die Frage: Reisen wir in eines der letztes Überbleibsel eines überholten und gescheiterten Gesellschaftsmodells – oder hat die Insel den Charakter des gallischen Dorfes, einer erdrückenden Übermacht trotzend, als verbliebenes Bollwerk einer langfristigen sozialen und kulturellen Umgestaltung?
Ja, es gibt sie noch, die beiden parallel existierenden Währungen, den Cubanischen Peso (kurz CUP) und den Convertiblen Peso (CUC) – vor vielen Jahren eingeführt, um mit dem Tourismus die dringend notwendigen Einnahmen zu erzielen. Inzwischen existieren zwei getrennte Geldkreisläufe, grob zu unterscheiden mit dem CUP für die Grundbedürfnisse und dem CUC für die meisten Dinge des gehobenen Bedarfs. Da die Löhne fast ausschließlich in CUP ausgezahlt werden, Umtausch (1: 25) völlig unsinnig ist, kommen nur Menschen mit Auslandsverwandtschaft oder im Tourismus Tätige problemlos an das begehrte Zahlungsmittel. So hat der Kofferträger im Hotel über Trinkgelder in der Regel ein vielfach höheres Einkommen als beispielsweise ein Klinikarzt.
Und ja, es gibt sie auch noch, die Libretta, ein kleines Büchlein, über das jeder Kubaner verfügt und das ihm ein bedingungsloses Grundeinkommen auf Naturalienbasis garantiert. Mit dem Büchlein können monatlich zu einem symbolischen Preis Grundnahrungsmittel wie Reis, Bohnen und Speiseöl bezogen werden, an bestimmten Tagen auch mal Hähnchen und Fisch, aber auch Hygieneartikel wie Seife und Zahnpasta. Reichte das früher für einen Monat, sollen es heute, nach etlichen Kürzungen, noch zirka 14 Tage sein.
Beides kubanische Besonderheiten, seit Jahren intensiv in der Diskussion, aber immer noch nicht abgeschafft und wichtig, um den kubanischen Alltag zu verstehen.
BEGEGNUNGEN
In der Küche von Maria sitzen wir zusammen mit Rosaura und Tomas. Sie ist ehemalige Lehrerin und immer noch aktiv in der Gewerkschaft. Außerdem soll sie uns etwas über die in Kuba allgegenwärtigen CDR (Komitees zur Verteidigung der Revolution) erzählen. Ihr Mann ist Mitglied der Kommunistischen Partei.
„Was macht ihr als Gewerkschafter, wie setzt ihr eure Forderungen durch, gibt es ein Streikrecht?“ – Ob es ein Streikrecht gibt, weiß sie nicht. Sie ist aber überzeugt, dass so etwas in Kuba nicht notwendig ist. „Es gibt genug Gremien, in denen wir unsere Forderungen vortragen können, und mit guten Argumenten kann man sich auch durchsetzen.“ Sie berichtet stolz, dass es Ihnen gerade gelungen sei, die Bezahlung der Lehrer, die bisher weit unten in der Lohnskala stand, erheblich zu verbessern. Wie ist das mit den Komitees zur Verteidigung der Revolution, allgegenwärtig in jedem Wohnblock, in jeder Straße? Mehr als 90 Prozent aller Kubaner sind Mitglied. Gegründet nach dem Überfall in der Schweinebucht, ging es um eine schnelle Mobilisierung der Bevölkerung – darum, vom CIA finanzierte Terroranschläge zu verhindern.
Doch worum kümmern sich die Komitees heute? Nachbarschaftshilfe, Kandidatenaufstellung für Kommunalwahlen, und auch mal um die Sauberkeit der Straße. Das sind Beispiele, die Rosaura aufzählt. Geht es auch manchmal um Kontrolle und Bespitzelung? Dieser Gedanke ist ihr völlig fremd. „Nein“, sagt sie, solche Fälle kenne sie nicht.
Ihren Mann fragen wir nach dem Diskussionsprozess über die Reformvorhaben. „Das ist vorbei, die Beschlüsse sind gefasst.“ Wo er engagiert ist, geht es jetzt zum Beispiel ganz pragmatisch um die effiziente Bekämpfung der gefährlichen Dengue-Fliege. Im Lauf des Gesprächs wird er doch noch einmal auf das Thema Reformen zurückkommen und schon etwas resigniert sagen: „Wenn wir diesmal wieder keinen Erfolg haben, weiß ich auch nicht, ob es lohnt, sich weiter zu engagieren.“
Dann drehen die beiden plötzlich den Spieß um. „Wie ist das mit dem Rechtsradikalismus bei euch in Deutschland?“ Jetzt ist es vorbei mit Frage und Antwort, und wir sind schnell in ein Gespräch auf Augenhöhe vertieft.
BILDUNG IST KOSTENLOS
Im Foyer eines Hotels treffen wir Deborah, Nichte unserer Reiseleiterin und Sonderpädagogin. Einige allgemeine Fakten zum kubanischen Bildungswesen sind uns bekannt: Bildung ist kostenlos von der Krippe bis zum Studium, Analphabetismus ist faktisch ausgerottet, das kubanische Bildungswesen gehört nach UNESCO-Beurteilungen zu den besten der Welt.
Da Lisa, unsere Mitreisende, im gleichen pädagogischen Bereich wie Deborah tätig ist, entwickelt sich schnell ein Fachgespräch. Wir hören, dass es flächendeckend Schulen für verhaltensauffällige, für geistig behinderte und für lernbehinderte Kinder gibt. Diese Kinder werden von interdisziplinären Teams aus Lehrern, Therapeuten und Psychologen betreut. Auch Inklusion ist in Kuba kein Fremdwort. Auf Elternwunsch ist der Besuch einer “normalen“ Schule möglich. Deborah erzählt, dass sie gerade eine psychologische Zusatzausbildung absolviert hat. Jetzt gehöre es zu ihren Aufgaben, lernbehinderte Kinder auf ihrem Weg in diese “normalen“ Schulen zu begleiten.
Von einem aktuellen Problem erzählt sie aber auch: Lehrermangel! Viele kubanische Lehrer sind im Ausland eingesetzt oder versuchen, im Tourismus unterzukommen. So werden häufig Lehrkräfte, die bereits in Rente sind, wieder eingesetzt.
DER ARZT KOMMT ROUTINEMÄSSIG
In Las Terrazas, einer kleinen Ansiedlung inmitten eines Naturschutzgebietes, begegnen wir dem Arzt auf seinem Rundgang durchs Dorf. Der Familienarzt ist bereit, uns etwas über sich und das kubanische Gesundheitswesen zu erzählen. Seine Arbeit entspricht in etwa der unserer Hausärzte. Aber einiges läuft doch ganz anders. Er ist zuständig für gerade mal 200 Familien. Es ist üblich, dass der Familienarzt sich wenig in seiner Praxis aufhält, sondern seine Patienten häufig zu Hause besucht. Er erzählt, dass er beim übergewichtigen Patienten mit hohem Blutdruck schon mal zur Abendessenszeit klopft und schaut, was da so auf dem Teller liegt. Stolz ist er auf seine Erfolge mit Heilmitteln aus der umliegenden Natur. Er zeigt seinen Patienten, wie sie Tees und Salben selbst herstellen können.
Wie steht es denn mit der Verfügbarkeit von Medikamenten? „Es gibt schon manchmal Engpässe, aber mit wirklich lebensnotwendigen Medikamenten wird jeder Patient zuverlässig versorgt.“ Wenn er der Meinung sei, dass ein Patient öfter Fisch essen sollte, werde dafür gesorgt, dass er ihn einmal pro Woche bekommt.
Einer Zeitungsnotiz hatten wir entnommen, dass Kuba zur Zeit 6000 Ärzte nach Brasilien schickt. Aber man kann sich nicht vorstellen, dass dies zu Verschlechterungen in der Versorgung führen könnte.
Das Verhältnis von individueller Freiheit und dem Druck von außen – in diesem Fall zu einem möglichst gesunden Lebensstil – war Thema einer heftigen Diskussion in unserer Reisegruppe. Die Erfolge im kubanischen Gesundheitswesen, das übrigens auch fast völlig kostenlos für die Bevölkerung ist, sind unbestreitbar. Niedrigste Säuglingssterblichkeit, höchste Lebenserwartung auf dem amerikanischen Kontinent, extrem geringe Ausbreitung von Aids – das sind nur einige Fakten. Aber wie wäre es, wenn bei uns der Doktor des Abends so ohne Vorwarnung vor der Tür stünde? Einig wurden wir uns bei diesem Punkt nicht.
EINDRÜCKE
Vieles hat sich geändert seit unserer letzten Reise. Das Angebot der Bauernmärkte zur Versorgung mit Obst und Gemüse ist reichhaltiger und vielseitiger. Trotzdem wissen wir aus Gesprächen, dass der Witz, den Fidel Castro gerne auch mal ausländischen Staatsgästen erzählte, immer noch nicht veraltet ist: „Die kubanische Revolution brachte den Menschen drei große Errungenschaften: Bildung für alle, Gesundheitsfürsorge für alle und Sportmöglichkeiten für alle. Drei kleine Nachteile müssen allerdings in Kauf genommen werden: Frühstück, Mittagessen und Abendessen.“ Hier kommt zum Ausdruck, dass der Alltag noch immer mühsam ist. Niemand hungert auf Kuba, aber die Beschaffung des Notwendigen erfordert oftmals eine gewisse „Kreativität“.
Auch Verkehr und Mobilität haben sich verändert. Moderne chinesische Omnibusse ersetzen die Ladeflächen der LKWs bei der Personenbeförderung. Aber obwohl mit Unterstützung von Venezuela die schlimmsten Energieprobleme beseitigt wurden, hat Kubas Mobilität ihren „nostalgischen Charme“ längst noch nicht verloren. Fahrräder in allen erdenklichen Variationen, Pferdefuhrwerke und die Straßenkreuzer der fünfziger Jahre bestimmen immer noch das Straßenbild.
Unverändert dagegen die großen Brachflächen, die auf unserer Fahrt durch den Westen der Insel nicht zu übersehen sind. Kuba muss fast 80 Prozent seiner Lebensmittel einführen und wendet dafür jährlich fast zwei Milliarden Dollar auf. Es lässt gleichzeitig fruchtbare Flächen im großen Ausmaß ungenutzt.
In den Städten stehen sichtbar rege Bautätigkeit dem gleichzeitigen und teilweise erschreckenden Zerfall vieler Wohngebäude gegenüber. Der Mangel an akzeptablem Wohnraum ist eines der drückendsten kubanischen Probleme.
Beim Gang durch ein Warenhaus fallen uns die vom Einkommen eines Kubaners absolut nicht bezahlbaren Preise für Fernseher und Kühlschränke auf. Da Türen und Fenster fast immer geöffnet sind, wissen wir, dass auch in den einfachsten Behausungen ein Fernseher läuft. Den Grund nennt uns Maria: „Vor Jahren konnten wir alle über unsere Arbeitsstelle einen Fernsehapparat beantragen und ihn über ganz niedrige Abzüge vom Lohn abbezahlen.“ Eine ähnliche Aktion gab es zum Beispiel auch mit energiesparenden Kühlschränken.
Wir besuchen ein kleines Museum, bestehend aus zwei Räumen. Wir sind die einzigen Besucher. Aus einer Gruppe von fünf Mitarbeitern löst sich einer und übernimmt unsere Führung. Seine vier Kollegen schauen mehr oder weniger interessiert zu. Solche und ähnliche Beobachtungen kann man in Kuba immer wieder machen. Es blieb uns leider verwehrt, einen Produktionsbetrieb kennenzulernen, aber allem Anschein nach ist dies ein Problem in allen staatlichen Wirtschaftsbereichen.
Und was sich auch nicht verändert hat seit unserem letzten Besuch, ist die Jagd nach dem CUC. Da wir Touristen ihn haben, verwenden viele Kubaner enorme Energie und Phantasie darauf, uns etwas davon abzuluchsen. Auch wenn uns dies oft lästig war, schildern wir das ohne Überheblichkeit und mit viel Verständnis, weil uns bewusst ist, welche Bedeutung dieses Geld für eine Teilhabe am kubanischen Leben hat.
REFORMEN
2011 wurde in Kuba nach langer Vorbereitung, bei der mehr als 300 Vorschläge in allen gesellschaftlichen Bereichen diskutiert wurden, ein umfangreiches Reformpaket beschlossen. Es soll in einem Zeitraum von fünf Jahren umgesetzt werden. Hier nur einige Eckpunkte. Vorgesehen ist eine stark erweiterte Autonomie der staatlichen Betriebe. Mittlere und kleine staatliche Unternehmen sollen wo möglich in Genossenschaften umgewandelt werden, wobei die Produktionsmittel vom Staat nur gepachtet werden. Die Zulassung von privatwirtschaftlichem Kleingewerbe mit bis zu drei Mitarbeitern wird stark erweitert, der Handel mit Wohnungen und Häusern wird in beschränktem Umfang erlaubt. Landwirtschaftliche Betriebe dürfen In Zukunft einen größeren Teil ihrer Überschüsse frei verkaufen, und bis zu 60 Hektar Land kann vom Staat kostenlos gepachtet und bewirtschaftet werden.
Nun gehen vielen Beobachtern die Reformvorhaben nicht weit genug, oder sie bemängeln die langsame Umsetzung. Und tatsächlich gewinnt man aus den Erzählungen und Berichten den Eindruck eines langsamen, vorsichtigen Tastens mit vielen Experimenten, abgebrochenen Versuchen und Nachbesserungen.
Die Anzahl der Selbstständigen wuchs zwar zwischen 2010 und 2012 von 160 000 auf 400 000. Das entsprach aber nicht den Erwartungen. Soll doch dieser Bereich einen beträchtlichen Teil der Menschen aufnehmen, die in den Staatsbetrieben „überflüssig“ werden. Rosaura, unsere Gewerkschafterin, erzählte uns von der bisherigen Praxis: Jedem entlassenen Kubaner werden drei gleichwertige Ersatzarbeitsplätze angeboten (von denen er allerdings einen annehmen muss). Das wird wohl in Zukunft nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. Also experimentiert man mit den Steuern. Sind sie zu hoch, schrecken sie ab und lassen Initiativen scheitern. Sind sie zu niedrig, kommt es zur nicht erwünschten Bereicherung Einzelner. Der Versuch, über kostenloses Pachtland Menschen für die Arbeit in der Landwirtschaft zu gewinnen, war anfangs erfolglos, weil man nur 10 Hektar ohne Recht auf Bebauung für zehn Jahre vorsah. Jetzt wurde nachgebessert auf 67 Hektar für 25 Jahre, mit der Möglichkeit zu bauen.
ES BLEIBT HOFFNUNG
Die Frage, in was für ein Land wir reisen, die uns am Anfang unserer Reise beschäftigte, können wir auch am Ende nicht beantworten. Zu groß sind die Gegensätze.
Ein Land, das auch in den dunkelsten Zeiten der sogenannten „Sonderperiode“ nach dem Zerfall der Sowjetunion alles getan hat, um sein Bildungs- und Gesundheitswesen aufrecht zu erhalten – zu einer Zeit, als es noch zwei Stunden Strom pro Tag gab, als die Menschen ihre Balkone vergitterten, um dort Hühner und Schweine zu halten. Ein Land, das Tausende von Lehrern und Ärzten ins Ausland schicken kann, sowohl aus humanitären Gründen als auch im Tausch gegen Rohstoffe. Ein Land, das weltweit führend ist mit seinem Frühwarn- und Evakuierungssystem bei Hurrikans, ein Land, das Spitzenleistungen in Teilbereichen der Arzneimittelforschung erbringt – das muss man bewundern.
Ein Land, in dem der Schwarzmarkt überlebenswichtig ist, in dem der Tourismus mit allen negativen Begleiterscheinungen die Haupteinnahmequelle ist, in dem Mangel, Schlendrian und Misswirtschaft unübersehbar das Leben bestimmen – das kann nicht das „gelobte Land“ sein.
Dass Kuba nicht bereit ist, den chinesischen oder vietnamesischen Weg einzuschlagen, sondern den dringend notwendigen Reformprozess behutsam, vorsichtig und mit der Bereitschaft angeht, Fehler immer wieder zu korrigieren, lässt uns doch hoffen, dass dieses bereits 54 Jahre währende Experiment eine weitere Chance erhält.
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