Von Antonietta Ferri – Der Flohmaktfrieden war in Stuttgart nachhaltig gefährdet
Mein jüngster Sohn Jan (Name geändert, aus Rücksicht, meinem Sohn war die Geschichte peinlich), liebt Comics. So entstand die Idee, eines Samstags auf dem Flohmarkt Sachen zu verkaufen, an denen er kein Interesse mehr hat, und von dem kleinen Erlös bei den Flohmarktkollegen nebenan gebrauchte Comicheftchen zu kaufen.
Pädagogischer Nebeneffekt: Lernen loszulassen, sich von materiellen Dingen zu verabschieden, mit Erwachsenen und Kindern zu einem Konsens zu kommen. Oder auch nicht. Entscheidungen zu treffen. Bezug zu Geld zu bekommen. Und natürlich Freude am Tun.
Vorab fragte ich die Leute an den Ständen, wie das in Stuttgart gehandhabt wird. Ich erfuhr, dass um sieben Uhr morgens „Aufseher“ an einer bestimmten Stelle stehen und frau sich dort anmelden muss. Wenn es später wird, laufen diese „Aufseher“ über den Flohmarkt, und frau muss dann ein Anmeldeformular ausfüllen. Schüler zahlen keine Standgebühr.
Vor einigen Wochen war für Jan und mich Premiere. Es war herrlich. Wir hatten immer eine große Auswahl für sein kleines Campingtischchen, die Aufseherin kam irgendwann vorbei, und wir füllten das Formular aus und legten es auf das Tischchen mit dem Allerlei von Jan. Auch die nächsten Male war es schön. Wir führten Gespräche mit den Menschen, das Wetter war meistens gut. Ich las im Hintergrund meine Tageszeitung, Jan war glücklich, wenn er etwas verkaufte und nebenan sein Comicheftchen dafür kaufen konnte.
Am Samstag, 13. September, war es anders auf dem Karlsplatz. Wir standen morgens gemütlich auf und erwarteten einen entspannten schulfreien Tag. Wir packten gemeinsam den Rollkoffer und fuhren los. Ich mit einem kleinen Campingtischchen und dem Koffer, Jan mit seinem vollgepackten Rucksack.
Wie immer hatten wir eine Menge Platz zur Auswahl, wo Jan sich mit seinem Campingtischchen hinstellen konnte. Wir packten aus. Vor dem neuen Schloss gab es eine Kundgebung von Sinti und Roma, die ihre Geschichte erzählten und darüber sprachen, wie es ihnen hier in Deutschland ergeht.
Ich ging für kurze Zeit dorthin und ließ Jan eine Weile allein auf dem Flohmarkt. Mir klingen noch heute die Worte der Übersetzerin in den Ohren: „Polizisten in Uniformen dringen meistens mitten in der Nacht und am frühen Morgen in die Wohnung einer Familie mit Kindern ein. Sie müssen ihre Koffer und Taschen packen. Sie werden abgeschoben in ihre Herkunftsländer. Ihr müsst euch vorstellen – Polizisten dringen frühmorgens uniformiert in Wohnungen ein, in denen von Krieg und Flucht traumatisierte Erwachsene und Kinder sind.“
Die Befürchtungen dieses Tages wurden Wirklichkeit und diese Menschen für vogelfrei erklärt. Was bereits im Juli im Bundestag beschlossen worden war, winkte am Freitag, 20. September , der Bundesrat durch – dank der von Winfried Kretschmann (Grüne) geführten baden-württembergischen Landessregierung. Mit dem beschlossenen Gesetz wurden Mazedonien, Bosnien und Herzegowina zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Hätte der Südwesten dagegen gestimmt oder sich enthalten, wäre die erforderliche Mehrheit nicht zustande gekommen.
Warum schreibe ich das? Es geht mir um die Ermessensspielräume oder auch Entscheidungsspielräume, die jeder Mensch hat. Verordnungen , Gesetze, hin oder her. Entweder werden sie genutzt oder man/frau gehorcht. Gehorchen ist unreflektiertes Handeln, ohne die Frage: „Hat mein Handeln einen Sinn oder ist es Unsinn?“
Sie sind nicht angemeldet, sie müssen gehen
Zurück bei meinem Sohn auf dem Karlsplatz angelangt, wechselten wir den Standort. Es nieselte, und wir bauten das kleine Verkaufsständchen gegenüber unter einem Kastanienbaum auf. Seine mächtige Krone schützte uns vor dem kurzen Nieselregen.
Kurz darauf stand ein Mann uns gegenüber. Ich nenne Ihn Mustermann. „Haben sie sich angemeldet?“ Ich schaute Herrn Mustermann in die Augen, Jan und ich kannten ihn nicht. Es war immer eine Frau, die uns die vergangenen Wochen das Formular für den Flohmarkt ausgehändigt hatte. Ich erwiderte: „Nein, doch das können wir jetzt gerne tun.“ Herr Mustermann schaute mich an, mein Sohn Jan wurde verlegen und schmiegte sich nah an mich. „Sie sind nicht angemeldet“ fuhr Herr Mustermann fort, „sie müssen sich um sieben Uhr anmelden!“ – „Ja!“ erwiderte ich, „das können wir jetzt nachholen“.
Herr Mustermann schwieg, und Jan riss jetzt energisch an meinem Arm. Ich spürte, er war nervös und bekam rote Backen. Ich sah seine Verlegenheit in seinem Gesicht. Ich schaute Herrn Mustermann an. Er schwieg. Ich hatte den Eindruck, dass er gerade nachdachte. Ich unterbrach sein langes Schweigen und sagte, mit einer Befürchtung in meiner Seele, „Sie wollen doch nicht, das wir jetzt wieder einpacken und gehen?“ – „Doch“ erwiderte Herr Mustermann, „sie sind nicht angemeldet, sie müssen gehen.“ – „Warum?“ fragte ich. „Wir sind das fünfte Mal hier, und es war nie ein Problem.“
„Sie müssen sich morgens um sieben Uhr anmelden, und sie sind nicht angemeldet, so ist die Verordnung, das müssten sie wissen.“ – „Ja“ antwortete ich, „es war aber bis jetzt noch nie ein Problem, das Jan und ich später kamen, und es ist ja genügend Platz hier auf dem Flohmarkt. Es war tatsächlich nicht viel los, Platz ohne Ende. „Ja, und wissen sie, und unter der Woche hat Jan Schule, da schlafen wir gerne aus und kommen dann gemütlich auf den Flohmarkt, wo ist das Problem?“
„So ist die Verordnung“ erwiderte Herr Mustermann. In mir brodelte es. Für wenn oder was, dachte ich, herrschen diese Verordnungen, wem oder was dient diese Ordnung? „Wissen Sie was?“ sagte ich in einem ruhigen Tonfall, „hier in Deutschland, da gehorchten eine zeitlang viele Menschen vielen Verordnungen, und es hat soviel Leid auf diese Welt bis heute hinein gebracht.“
Ich dachte dabei an die Veranstaltung, die kurz darauf neben dem Friedensmahnmal am Stauffenbergplatz stattfinden sollte, bei der die Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber mit Reden und Informationsständen ihren Erfolg feiern wollte, dass sie dieses Gebäude erhalten konnte. Es soll ein Lernort für die Menschen werden. Das Wissen um diese deutsche Geschichte ist wichtig, damit sowas nicht mehr passiert.
„Sie packen jetzt ein und gehen,“ sagte Herr Mustermann. „Das ist doch Kleinkariertheit,“ antwortete ich. „Wo ist das Problem, hier ist genügend Platz, und wir können doch das Formular jetzt ausfüllen.“ Herr Mustermann wieder: „Sie müssen sich um sieben Uhr anmelden, sie sind nicht angemeldet, so ist die Verordnung hier, packen sie jetzt ein und gehen sie.“
Jan, sagte zu mir verängstigt „komm gehen wir!“ und zog an meinem Arm. Ich sagte zu meinem Sohn, „Jan, bitte, hier, nehm dein Verbundpass und gehe heim, ich möchte wissen, wie diese Geschichte ausgeht, es ist meine Entscheidung.“ Jan nahm seine Fahrkarte und fuhr nach Hause.
Waffen verkaufen ist verboten, sie müssen gehen
„Ich bleibe hier“, sagte ich zu Herrn Mustermann. „Das ist doch wirklich kleinkariert.“ Er ging, und kam nach einer kurzen Weile gemeinsam mit einer Frau. Sie kannte ich, das war die Aufseherin, die uns die letzten Male auf dem Flohmarkt das Anmeldeformular überreicht hatte. Sie sagte „füllen sie das Formular aus für heute, und nächstes Mal kommen sie um sieben Uhr“. – „Gut“ erwiderte ich, und legte das gelbe Blatt auf das Tischlein.
Beide Aufseher gingen weg. Okay, dachte ich. Es gibt immer einen Ermessensspielraum. Kaum zu Ende gedacht kamen beide Aufseher wieder und betrachteten das Tischchen mit den Gegenständen von Jan. „Die Chefin hat gesagt das sie zwei Waffen hier verkaufen, das ist verboten, sie müssen gehen!“ – „Welche Waffen?“ fragte ich. Die Aufseherin zeigte auf zwei Messer die auf dem Tischchen lagen. „Das sind Waffen, und es ist verboten hier Waffen zu verkaufen, sie müssen gehen.“ Das sind Taschenmesser für Kindergartenkinder, sie sind stumpf, damit sich die Kinder nicht verletzen und üben können, wie sie mit einem Messer umgehen sollen, ohne sich zu verletzen, sozusagen eine Attrappe. Nehmen sie doch mal das Messer aus dem Schaft.“
Da die beiden Aufseher sich nicht rührten, nahm ich ein Messer in die Hand und zog es aus dem Schaft heraus. „Sehen sie“ sprach ich, „es ist eine Attrappe, zum Üben für Kinder.“ Die beiden Aufseher sahen mich an und sagten: “Die Chefin möchte, dass sie gehen.“ Aha, dachte ich für mich, das mit den Waffen, das war nur die Suche nach dem Haar in der Suppe. „Und was passiert, wenn ich nicht gehe?“ fragte ich weiterhin höflich. „Dann rufen wir die Polizei!“ sagten die Aufseher. „Dann hole ich die Presse“, erwiderte ich.
Die Polizei greift ein
Die Aufseher gingen, und ich holte die Presse von der Veranstaltung am neuen Schloss. Ich glaubte nicht daran, dass die Polizei tatsächlich diesem Fall nachgeht. In diesem Augenblick, als ich mich entschlossen hatte zu packen und zu gehen, kamen sie doch tatsächlich. Zu viert. Mit den beiden Aufsehern des Flohmarkts.
„Guten Tag,“ begrüßte ich höflich die vier Polizisten. „Ich werde gespannt der Geschichte zuhören, die sie von den Aufsehern erzählt bekommen haben und dann erzähle ich ihnen meine.“ So fing der Polizist an, die Geschichte der Aufseherin zu erzählen, und danach erzählte ich meine, die eigentlich die selbe war. Nur mit dem Unterschied, dass ich ergänzend die Frage stellte, „wo hier ein Problem sei?“
Derselbe Polizist lächelte und sprach, einmal hingewandt zu mir und daraufhin zu den beiden Aufsehern, die seitlich hinter den Polizisten standen. “Das ist ja eine Lappalie.“ – „Eben“,“ fügte ich hinzu. Und ich stehe hier, weil ich neugierig bin wie diese Geschichte ausgeht, vor allem was jetzt die Polizei, also Sie aus dieser Lappalie machen?“
Die Polizisten wandten mir den Rücken zu und sprachen mit den Aufsehern, so das ich nichts mithören konnte. Dann gingen die Polizisten auf mich zu und sagten „die Stadt will sie nicht, sie haben jetzt einen Platzverweis, packen sie ein und gehen sie jetzt. Sie bekommen noch von der Chefin des Flohmarkts wegen Hausfriedensbruchs ein Schreiben.“
„Sie wissen“, antwortete ich, „das es sich hier um den Stand meines elfjährigen Sohnes handelt der vor ihrem Erscheinen nach Hause gegangen ist.“ „Ja!“ sagte der Polizist.“ „Ich wende mich an Sie stellvertretend.“ Und forderte meinen Personalausweis von mir.
Post von der Stadt
Am Samstag, 20. September 2014, flatterten zwei Briefe zusammen in meinem Briefkasten. Ein Brief vom Märkte Stuttgart GmbH, Langwiesenweg 30, 70327 Stuttgart, Vorsitzender Herr Föll, Geschäftsführer Axel Heger und vom Dip. Oec. Martin Rau.
Flohmarkt Karlsplatz, am Samstag, 13.09.2014, kam es durch Ihr Auftreten zu unliebsamen Vorfällen auf dem Karlsplatz. Obwohl Ihnen von unserer Aufsicht die Vergaberichtlinien und Zulassungsbedingungen für die Veranstaltung erläutert wurden, hielten Sie sich mit Drohungen und lautstarken Äußerungen nicht zurück und waren uneinsichtig. Nachdem Sie nachhaltig den Flohmarktfrieden gefährdeten, musste Amtshilfe durch die Polizei angefordert werden. Wir erteilen Ihnen hiermit ein Platzverbot auf dem Flohmarkt Karlsplatz sowie die großen Flohmärkte in der Stuttgarter Innenstadt. Mit freundlichen Grüßen, unterzeichnet im Auftrag von den zwei Aufsehern.
Post von der Polizei
Der zweite Brief ist vom Polizeipräsidium Stuttgart, Polizeirevier 1, Hauptstätter Straße 34, 70173 Stuttgart. … gegen Sie wird ein Ermittlungsverfahren geführt, das folgende Beschuldigung zum Gegenstand hat: Hausfriedensbruch, Tatzeit Samstag, 13.09.2014, 13.36 Uhr, Tatort Stuttgart Mitte, Rathaus, Karlsplatz.
Tränen und Hoffnung
Beim Schreiben dieser Zeilen, dachte ich immer wieder an Anja Röhl, die Stieftochter von Ulrike Meinhof. Sie hatte letztes Jahr eine Vorlesung in Stuttgart, und las aus ihrem Buch „Die Frau meines Vaters“ vor. Sie erzählt in ihrem Buch über ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen, es ist ein Porträt der autoritären und lebensfeindlichen Gesellschaft der frühen sechziger Jahre in Deutschland. Ihre Vorlesung berührte mich sehr. Mir kamen die Tränen.
Ich selbst bin Erzieherin von Beruf und bin Mutter dreier Kinder. Und ich dachte die ganze Zeit über, es hat sich nichts verändert, nichts, nur das die Gewalt viel „polierter“ und subtiler ist. Ich war nahe daran aus dem Raum zu gehen, als ich bemerkte das ich mit meinen Tränen nicht alleine war. Viele junge Leute waren an diesem Abend in der Vorlesung. Anja Röhl stellt dem Publikum im Saal eine Frage: „Hat sich in der Erziehung und Haltung gegenüber den Kindern heute was verändert, was meint Ihr?“ Mir war danach gleich darauf zu antworten, „nichts , nichts hat sich verändert, es ist alles nur versteckter, raffinierter.“ Es meldeten sich zwei junge Leute, die genau das sagten. „Nein, es hat sich nicht verändert, es ist nur nicht so greifbar.“
Ich war froh mich nicht als Erste gemeldet zu haben. Ich war mit meinen Erfahrungen als Erzieherin nicht alleine. Und war stolz auf unsere Jugendlichen, die mit dieser Aussage zeigen, wie aufmerksam und sensibel sie ihre Umwelt wahrnehmen.
Für mich sind sie die Hoffnung.
Post von der Staatsanwaltschaft
Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 27.10.2014: Das Ermittlungsverfahren wird gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
gez. M. Staatsanwältin.
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