Öhringen. Das Amtsgericht Öhringen sieht im Tortenwurf auf Innenminister Gall keine Straftat. Deshalb wurde der 20-jährige Beschuldigte am 27. November der versuchten Körperverletzung, versuchten Sachbeschädigung und Nötigung freigesprochen. Allerdings war Richter Lutz Göpfert davon überzeugt, dass sich der Antifaschist der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht hat. Ein Personenschützer der Polizei hatte sich beim ungeschickten Sturm auf den Tortenwerfer kleinere Verletzungen zugezogen. Das Urteil lautete auf 1000 Euro Geldstrafe. Aus gut informierten Kreisen wird vermeldet, dass die Staatsanwaltschaft bereits Berufung eingelegt habe.
An einer antifaschistischen Protestkundgebung vor dem Amtsgericht beteiligten sich am frühen Morgen rund 50 Menschen. In einem Theaterstück flogen erneut Tortenstücke auf den „Innenminister“. Vor Ort waren nach Polizeiangaben auch ungefähr dreißig Beamte, zu erkennen außerdem fünf Justizbeamte in Uniform und mehrere Staatsschutz- und/oder Verfassungsschutzmitarbeiter in Zivil. Die rund 50 ProzessbeobachterInnen mussten alle Gegenstände abgeben, die sie dabei hatten. Ihre Ausweise wurden kopiert, und sie mussten sich durchsuchen lassen. Drei Personen ohne gültigen Personalausweis oder Reisepass wurde der Zugang verwehrt. Die Vorlage eines Führerscheins reichte dem Gericht nicht aus.
Rückblick
Der Angeklagte hat Anfang Februar 2014 den baden-württembergischen Innenminister Reinhold Gall mit einer Himbeer-Sahne-Torte beworfen. Gall war zu auf ein Podium der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg zum Thema “Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – Von Buchenwald bis zu den NSU-Morden – oder: wie gehen wir mit Diskriminierung, Hass und Gewalt um?” als Referent eingeladen. Während der Tortenwerfer vorübergehend festgenommen wurde, ließ sich Gall in einem Krankenhaus die Sahne aus dem Gehörgang entfernen. In der darauf folgenden Medienschlacht gab er sich allerdings betont humorvoll.
Kurz nach dem Tortenwurf bekannte sich eine “Heilbronner Konditorei für konsequente Aufklärung” zu der Aktion. Die Gruppe begründete sie damit, dass sich die grün-rote Landesregierung weigere, die Verbindungen der Nazi-Terror-Gruppe “Nationalsozialistischer Untergrund” (NSU) in den Südwesten wirksam aufzuklären. Der Tortenwerfer lehnte einen Strafbefehl des Amtsgerichtes Öhringen über 2000 Euro ab. So musste er sich jetzt wegen versuchter Körperverletzung, fahrlässiger Körperverletzung, Nötigung und versuchter Sachbeschädigung vor Gericht verantworten.
Prozessbeginn
Nach strengen Einlasskontrollen sollte die Verhandlung um 9 Uhr beginnen – doch dazu kam es nicht. Rechtsanwalt Martin Heiming monierte, dass der Zuhörersaal der langwierigen Durchsuchungen wegen erst zur Hälfte gefüllt war. Er erreichte einen Aufschub, begonnen wurde schließlich um 9.15 Uhr – und zwar mit einem erneuten Antrag des Verteidigers: Einzelrichter Göpfert sei wegen Befangenheit abzulehnen. Zur Begründung führte Heiming an, das Gericht habe auf Zuruf die Bitte der Kripo Heilbronn erfüllt, den Verhandlungstermin möglichst früh am Morgen anzusetzen, da mehrere Demonstrationen angemeldet worden seien.
Überdies habe der Richter Sicherheitskontrollen ohne die erforderliche Begründung angeordnet und ihm als Verteidiger zu wenig Zeit eingeräumt, noch kurzfristig nachgereichte Prozessakten zu sichten. Dies alles gebe Anlass zur Besorgnis, der Richter stehe dem Angeklagten nicht unvoreingenommen gegenüber. Das Gericht dramatisiere mit seiner Sicherheitsverfügung einen Prozess, in dem es eigentlich nur um versuchte Körperverletzung geht.
Die Staatsannwältin, die „aus Sicherheitsgründen“ nicht namentlich genannt werden möchte, trat dem allem entgegen.
Nach einer Sitzungsunterbrechung wurde mitgeteilt, dass der Öhringer Amtsrichter Grosch über den Befangenheitsantrag gegen Göpfert entscheiden werde. Doch auch ihn lehnte Rechtsanwalt Heiming wegen einer Sicherheitsverfügung als möglicherweise befangen ab. Über den Befangenheitsantrag gegen Grosch musste nun das Landgericht Heilbronn entscheiden.
Kurz nach 14 Uhr verkündete Richter Göpfert die Entscheidung des Heilbronner Landgerichts: Es bestehe keinerlei Besorgnis, dass der Richter befangen wäre. Grosch durfte also über den Befangenheitsantrag gegen Richter Göpfert entscheiden. Die Entscheidung lautete ebenfalls auf „nicht befangen“. Es handle sich nicht um einen besonders frühen Termin, wie es die Kripo Heilbronn angeregt hätte, sondern um eine „ganz normale Uhrzeit“ für einen Prozessbeginn. Die polizeilichen Maßnahmen seien geeignet, die Sicherheit und Ordnung aufrecht zu erhalten.
Die Anklage
Die Staatsanwältin sprach von einem „besonderen öffentlichem Interesse“. Der Angeklagte sei „im linken Spektrum“. Er habe mit dem Tortenwurf den Innenminister lächerlich gemacht. Darüber hinaus habe er billigend in Kauf genommen, dass Gall sich verletze, da er die Torte aus circa zwei Meter Entfernung auf ihn geschleudert habe. Dadurch habe er ihn genötigt, die Veranstaltung vorzeitig zu verlassen. Es sei aber zu keinen Verletzungen und zu keinem Sachschaden durch den direkten Tortenwurf gekommen. Auch habe der Angeklagte vorhersehen können, dass Galls Personenschützer sich verletzen könnte. Er erlitt offenbar leichte Prellungen sowie eine Schramme am Bein, als er sich nach dem Tortenwurf auf den Angeklagten warf.
Der Angeklagte
Der junge Antifaschist machte keine Angaben zur Person oder Sache. Es gibt keine Einträge über Vorstrafen. Er verlas eine Erklärung, in der er betonte, er habe im Februar eine Torte auf den Innenminister geworfen, um Aufmerksamkeit über die Verstrickungen des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) im Südwesten zu erregen. Schließlich habe Gall maßgeblich dazu beigetragen, dass bis dato kein Untersuchungsausschuss zu diesem Thema zustande gekommen sei. Am Ende seiner Einlassung erhielt er starken Applaus aus dem Zuschauerraum.
Die vollständige Einlassung des Angeklagten kann hier nachgelesen werden.
Die Zeugen
„Heutige Erinnerungen besser, als damalige Wahrnehmungen“
Der 37-jährige Personenschützer – Polizeikommissar aus Göppingen – berichtete, er sei nach der Attacke auf Gall vom Stuhl aufgesprungen und habe sich dabei an einem neben ihm stehenden Lautsprecher am Bein verletzt. Auch seine Hose sei zerrissen. Beim Umstoßen des Täters habe er sich den Finger umgeknickt. Es habe vom Täter keine Gegenwehr gegeben. „Später kam dann ein Kollege dazu, als er am Boden lag“, beschrieb der Bodyguard die Situation. Er sei eine Woche dienstunfähig gewesen. Laut Attest soll er eine Kapselprellung erlitten haben.
Er gab an, er hätte einen Strafantrag gestellt. In der Ermittlungsakte steht jedoch, dass der Personenschützer keinen Strafantrag gestellt habe. An die Form des Strafantrags will sich der Zeuge nicht erinnern können. Warum dies nicht in seinem Gedächtnisprotokoll steht, konnte er nicht erklären. Der Mann will den Wurf gesehen haben. Der Aufforderung des Rechtsanwalts, den Tortenwurf nachzumachen, verweigerte er als Zeuge jedoch. Der Tathergang soll angeblich von ihm aufgeschrieben worden sein. Die Aufzeichnungen stehen aber unter dem Briefkopf eines anderen Polizeibeamten und liegen nur ohne Unterzeichnung vor.
Auf Nachfrage von Rechtsanwalt Heiming gab er an, er habe vor Prozessbeginn seine Aufzeichnungen nochmals durchgelesen. Er sei aber davon überzeugt, dass seine heutigen Erinnerungen an den Tatvorgang besser seien als seine damaligen Wahrnehmungen. Deshalb wichen seine Angaben heute von den damaligen Angaben ab. Damals erklärte er, sich nur am Angeklagten direkt verletzt zu haben.
„Er legte sich aus freien Stücken auf den Boden“
Eine 55-jährige Zeugin, die dem Veranstalter der Podiumsdiskussion zuzuordnen ist, gab an, dass sie in der vierten Reihe saß, als sie plötzlich einen Schlag gehört habe. Den Wurf selbst habe sie nicht gesehen. Gall habe plötzlich Torte im Gesicht gehabt. Der Angeklagte stand mit verschränkten Händen hinter dem Kopf da. Das habe im Publikum Angst ausgelöst. Auf Nachfrage von Rechtsanwalt Heiming gab sie an, die Angst sei dadurch entstanden, dass die Personenschützer die Polizei riefen. Bei ihrer ersten Vernehmung gab sie an: „Er legte sich aus freien Stücken auf den Boden“.
„Als ich wieder nach vorne schaute, sah der Minister verändert aus“
Eine weitere Zeugin erklärte, sie habe in der ersten Reihe gesessen und mit Gall ein paar Worte gewechselt. Der Minister sei dann zum Podium gegangen. Neben ihr habe der Täter gesessen. Es kam aus dem Publikum ein Zwischenruf und sie hätte sich deshalb umgedreht. „Als ich wieder nach vorne schaute, sah der Minister verändert aus“. Sie habe gesehen, wie eine Person den Täter zu Boden brachte. Angst habe sie nicht empfunden.
Die Jugendgerichtshilfe
Die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe sagte, der zur Tatzeit 19-jährige Angeklagte sei zum Gesprächstermin nicht erschienen. Es sei bekannt, dass er Auszubildender sei. Er mache einen klaren Eindruck und sei sich der Tat bewusst gewesen. Er sei einem Erwachsenen gleichzustellen, die Anwendung des Jugendstrafrechts nicht angesagt.
Das Plädoyer der Staatsanwältin
Sie führte aus, der Tortenwurf habe zu Recht ein strafrechtliches Nachspiel. Dreist sei der Täter gewesen – und gewaltausübend. Der Angeklagte habe den Minister lächerlich machen wollen. Er habe die Tat ja auch gestanden. Er habe den Minister zwar nicht ernsthaft verletzen wollen, aber er habe ihn in seiner körperlichen Mobilität beeinträchtigen wollen. Es hätte zu Hörbeeinträchtigungen kommen können und zumindest zu leichten Verletzungen. Daher sei von einem „bedingten Verletzungsvorsatz“ auszugehen. Die Oberbekleidung des Ministers sei gefährdet gewesen, daher sei die versuchte Sachbeschädigung nachgewiesen. Der Angeklagte habe gewollt, dass der Minister nicht redet. Deshalb kam es zur „Gewaltanwendung durch Tortenwurf“. Der Minister habe die Veranstaltung nach der Tat auch verlassen. „Das war klar eine Nötigung“, so die Staatsanwältin, die ihren Namen nicht veröffentlicht haben will.
Der Personenschützer sei zunächst ohne Verletzung und mit unbeschädigter Hose dagesessen. Nach dem Angriff sei er verletzt gewesen und seine Hose sei beschädigt gewesen. Das Verhalten des Angeklagten führte zur Verletzung des Personenschützers.
Die Staatsanwältin forderte schließlich eine Verwarnung mit Bewährungsauflagen. Eine Geldbuße in Höhe von 80 Tagessätzen à 25 Euro – somit 2000 Euro. Die Tatwerkzeuge – Rucksack, Tortenschachtel und –deckel – seien einzuziehen.
Das Plädoyer des Rechtsanwalts
Rechtsanwalt Martin Heiming zeigte sich überrascht über den moderaten Strafantrag der Staatsanwaltschaft. Auch beim Strafbefehl sei er schon misstrauisch gewesen. „Warum das?“, stellte er in den Raum. „Es ist nämlich nicht strafbar, was da geschah!“ Und deshalb sei die geringste Strafe ein Fehler.
Er gab der Staatsanwältin recht darin, dass der Angeklagte den Minister nicht habe verletzen wollen. Deshalb habe er auch nicht mit der Dose geworfen, sondern nur mit der Torte. Alles, was der Angeklagte gewollt habe, habe funktioniert. „Torte ins Gesicht. Keine Verletzung. Kein Sachschaden“, führte er aus. Gall selbst habe kurz nach der Tat folgendes „getwittert“:
Kaum zu glauben, dass eine einzige Torte das Ohr füllt, das Auge verklebt, die Haare verschmiert und den Anzug versaut. Ansonsten alles ok.
Der Anzug sei zwar versaut gewesen, aber nicht beschädigt. Gall habe auch keinen Strafantrag gestellt. „Weil da nix strafbares war“, so Heiming. Eine versuchte Körperverletzung und eine versuchte Sachbeschädigung könne nur auf Antrag verfolgt werden. Diesen Antrag hatte es aber nicht gegeben.
Auch die Nötigung würde so nicht „funktionieren“. Es fehle die dafür notwendige Gewalt. Eine Torte ins Gesicht sei aber nun mal keine Gewalt. “Ich weiß gar nicht, wie ich es erklären soll, weil der Vorwurf so absurd ist“, führte Heiming weiter aus. „Es war keine Gewalt.“ Es sei dem Angeklagten nicht darum gegangen, dass der Minister geht, sondern um „Warum Herr Minister blockieren sie hier einen NSU-Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg?“.
Vor aller Augen hätten die NSU-Morde stattgefunden. Dass die Behörden mitgespielt hätten, das sei doch inzwischen klar. In Baden-Württemberg blockiere Herr Gall den NSU-Untersuchungsausschuss.
Herr Gall hätte nicht gehen müssen. Man hätte seinen Anzug säubern, sich wieder hinsetzen können und etwas zum Thema sagen. Dass ein Personenschützer in solch einem Falle eingreifen würde, das sei klar gewesen. Aber wie könne man denn eine Brücke schaffen zu einer Tat, die der „Schädiger“ gar nicht begangen habe, und der Personenschützer sich dabei verletzte?
Mal eben so bestrafen? Das geht nicht!
Der Personenschützer habe nicht genau sagen können, wo der Lautsprecher stand. Er habe keine klare Erinnerung gehabt und habe auch keine Beobachtung gemacht. Er sei vielleicht auch ein wenig ungeschickt gewesen. „Hätte der Angeklagte damit rechnen müssen, dass sich der Personenschützer am Lautsprecher verletzt?“ Es könne auch sein, dass der Personenschützer überreagierte. Das sei aber nicht dem Angeklagten zuzurechnen. Man könne noch nicht mal ausschließen, dass sich der Angeklagte nicht freiwillig hinlegte. Die Zeugen seien gleichermaßen glaubwürdig. Deshalb könne beides möglich sein. Die Personenschützer hätten behauptet, den Angeklagten rausgeschleift zu haben. Die anderen Zeugen sagten aber, der Täter sei gelaufen.
Der Strafantrag befinde sich nicht in der Akte. In den Akten stehe, dass Gall und der Personenschützer keinen Strafantrag stellen wollten. Heiming zweifelte daraufhin die Glaubwürdigkeit des Personenschützers grundsätzlich an.
Heiming zeigte sich erstaunt über die Tatsache, dass in diesem Fall das Landeskriminalamt und der Verfassungsschutz eingeschalten wurden.
Das Urteil des Amtsgerichts
Richter Lutz Göpfert sprach den Antifaschisten wegen fahrlässiger Körperverletzung schuldig. Strafmaß: 40 Tagessätze à 25 Euro – daher 1000 Euro zuzüglich der Gerichtskosten.
In seiner Urteilsbegründung führte er aus, dass er zunächst dachte, dass eine Beleidigung vorliege. Aber dazu fehle der Strafantrag. Was der Angeklagte gewollt habe, sei spekulativ. Offensichtlich sei die Wut gegen die Politik der Grund für den Tortenwurf gewesen. An der Tathandlung sei nicht abzuleiten, dass es beabsichtigt gewesen sei, dass der Minister die Diskussion abbrechen würde. Er hätte auch wiederkommen können. Auch von einer versuchten Körperverletzung könne man nicht ausgehen, denn es sei schwer möglich, jemanden mit einer weichen Torte zu verletzen. Es bleibe die fahrlässige Körperverletzung. Die Schramme am Bein des Personenschützers sei beim Aufspringen entstanden. Das Geständnis und die Äußerung des Tatmotivs seien positiv zu werten.
Aus gut informierten Kreisen wird vermeldet, dass die Staatsanwaltschaft bereits Berufung eingelegt habe.
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