Gastkommentar von Petra Brixel – Stuttgart. „Habt ihr etwas anderes erwartet?“, fragten viele Prozess-Beobachter im Foyer des Landgerichts am vergangenen Mittwoch, 26. November. Kurz zuvor war von Richterin Haußmann der Beschluss zur Einstellung des „Wasserwerferprozesses“ nach § 153a StPO ergangen.
Ja, ich hätte etwas anderes erwartet. Und zwar, dass dieses Verfahren sauber bis zu Ende geführt wird. Zumindest das. Zwar hätte ich dann dem Gericht ein Urteil mit Freispruch oder einer geringen, eher symbolischen Strafe zugetraut, was schlimm genug gewesen wäre. Aber dass auf halber Strecke abgebrochen wird, weder ausstehende Zeugen gehört werden noch an einer weiteren Aufarbeitung der Vorgänge vom 30.9.2010 gearbeitet wird, dass ein himmelschreiendes Desinteresse besteht, mehr Klarheit in die Vorgänge am 30.9. zu bringen, hat mich geschockt. Die Klärung vieler Fragen hätte ich erwartet, stattdessen wurde deutlich: Die Wahrheit ist in dieser Stadt nicht erwünscht.
Erleichtert und froh
Wenn am selben Tag, wo die Beendigung des Verfahrens bekannt gegeben wird, auch noch der Ministerpräsident sagt, er sei „… erleichtert über die Einstellung und froh, nicht mehr als Zeuge aussagen zu müssen,“ dann nimmt er nicht zur Kenntnis, dass Justiz dafür da ist, Sachverhalte aufzuklären. Und zwar ohne Rücksicht auf das Wohlbefinden eines Zeugen, dem eine Aussage lästig ist, weil sie ihm gerade nicht in den Kram oder in den Terminkalender oder die Imagepflege passt.
Das MP-Argument „man könne sich nach mehr als vier Jahren nicht mehr so recht erinnern“, soll wohl bedeuten, nach vier Jahren fällt Verantwortung unter Amnesie. Wie praktisch. Es wäre schön, wenn diese Aussage auch für S21-Gegner gelte, die mit Anklagen konfrontiert werden, die vier und mehr Jahre zurückliegen. Über diesen erschreckenden Ego-Zentrismus „Wenn man nicht hin muss, ist man irgendwie froh“, lässt sich nachdenken. Passender und eines MP würdiger wäre wohl gewesen zu bedauern, dass das Verfahren nun vieles nicht mehr ans Licht gebracht hat und dass man gerne geholfen hätte, die Vorgänge aufzuklären.
„So etwas habe ich noch nie erlebt“
Am Nachmittag des 26. November gab es empörte Reaktionen im voll besetzten Gerichtssaal (100 Zuschauer, etliche mussten draußen warten) nach der Verlesung der Einstellungsverfügung. „So etwas habe ich noch nie erlebt,“ meinte Richterin Haußmann angesichts der Menschen, die sich über einen in ihren Augen stattfindenden Justizskandal empörten. Angemessen wäre wohl in den Augen der unabhängigen Justitia gewesen, hätten die Zuschauer demütig und mit gebeugtem Rücken die Einstellungsverfügung zur Kenntnis genommen und sich anschließend geräuschlos aus dem Gerichtsgebäude entfernt, danach in Luft aufgelöst.
Dass ein gewisses „Murren“ der Zuhörer vorauszusehen war, an diese Möglichkeit war auf Seiten des Gerichts aber dann doch schon gedacht worden. Warum sonst wurde eine Hundertschaft an Polizisten angefordert und im Hinterhalt bereitgestellt?
Die Polizei tritt in Aktion
Trotz der extrem peniblen Einlasskontrollen hatte eine Zuschauerin ein Transparent mit dem Text „Schämt euch“ in den Gerichtssaal verbracht, das sie nach der Verkündung der Einstellung hochhielt. Dies war ein Grund für die Richterin, die Polizei in Aktion treten zu lassen, was von den Zuschauern als Provokation empfunden wurde und womit das ausgelöst wurde, was die Zeitung als „Tumult“ bezeichnete. In Bruchteilen von Sekunden tauchten die auf Abruf wartenden Polizisten im Gerichtssaal auf und stellten sich zwischen Zuschauer und Gericht. Eine schwarze Mauer, von der sogar in der Stuttgarter Zeitung zu lesen war „Wie aus dem Nichts baut sich eine Reihe Polizeibeamter vor dem Zuschauerraum auf,…“
„Empört euch!“, hatte der französische Aktivist und Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel in einem 2010 erschienen Essay den Menschen zugerufen. An diesem Nachmittag des 26. November im Gerichtssaal des Landgerichts hatte es mehr als einen Anlass für Empörung gegeben. Deshalb wollten die Zuschauer eben nicht „schweigen wie Gold“. Sie konnten es einfach nicht, nachdem die Richterin in der ersten Stunde der Verhandlung einen Antrag der Nebenkläger nach dem anderen fast im Minutentakt vom Tisch gewischt hatte; nachdem sie mit Übereifer die Zuschauer ob ihrer Unruhe ermahnt und die Ermahnungen durchnummeriert hatte; nachdem Tage zuvor schon durchgesickert war, dass Körperverletzung im Amt mit Einstellung geahndet wird; nachdem die Anwälte der Nebenkläger auf arrogante Weise an ihrem Auftrag gehindert worden waren und nachdem man gelesen hatte, dass vom Gericht Polizeischutz angefordert worden war.
Der Geist von Ferguson ist überall
Und dann darf man nicht vergessen, einmal über den Tellerrand zu schauen und an „Ferguson“ zu erinnern, wo just einen Tag zuvor eine Jury die Ermittlungen gegen einen des Mordes verdächtigten Polizisten abgetan hatte mit dem Argument „keinen hinreichenden Verdacht für irgendwelche Anklagepunkte“ gefunden zu haben. Der Geist von Ferguson ist überall, war zu hören.
Man möchte diesen Tag im Gericht vergessen und doch möchte man ihn nicht missen, hatte doch Justitia ihre Augenbinde abgenommen und ganz genau hingeschaut, wem sie ihre Gunst zuteilt.
Der offene Brief
Nachdem also die Zuschauer ihre Zustimmung zu der richterlichen Erklärung durch gesittetes Schweigen verweigert hatten, wurden sie von einer Polizeikette aus dem Gerichtssaal gedrängt und taten im Foyer ihre Empörungen kund. Es wurde ein offener Brief an Justizminister Stickelberger vorgelesen, der die Empörung angesichts der vorzeitigen Beendigung des Prozesses enthielt. Darin wurde die Botschaft kritisiert, die diese Einstellung des Verfahrens für die Bevölkerung vermittelt: Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) gilt nicht für die Stuttgarter Polizei und ist ein geringfügiges Verschulden, das in Stuttgart nicht verfolgt wird. Und: Am Stuttgarter Landgericht gibt es keine fairen Verfahren, wenn die Polizei im Spiel ist. Weitergehende Fragen wie die, ob wir noch in einem Rechtsstaat leben oder schon in einem Polizeistaat, wurden formuliert.
Die Spontandemo formiert sich
Auch vor dem Landgericht wurde mit Unmutsäußerungen und Bannern demonstriert. Es bildete sich eine Spontandemo mit ca. 60 Teilnehmern, die unter Polizeibegleitung von der Olgastraße über die Charlottenstraße, den Charlottenplatz und die Planie bis auf den Schlossplatz ging, in den Schillerplatz abbog und vor dem Justizministerium endete. Die Demonstranten stellten sich im Halbkreis vor dem Eingang des Ministeriums auf, das vorsorglich durch eine Kette von Polizisten abgesperrt war.
Hier wurde der offene Brief an Justizminister Stickelberger nochmals vorgelesen und gebeten, dem Minister den zweiseitigen Brief übergeben zu können. Nach etwa einer halben Stunde erschien der Referent für Öffentlichkeitsarbeit des Justizministeriums, Steffen Ganninger, um das Schreiben anzunehmen. In einem Gespräch wurde thematisiert, dass die hier versammelten Demonstranten empört sind über die Vorgänge am Landgericht, d.h. die Nicht-Aufarbeitung des Schwarzen Donnerstag mittels eines sauberen Strafverfahrens. Steffen Ganninger sagte im Namen des Ministeriums eine persönliche Antwort auf den Brief zu, d.h. eine auf den Inhalt des Briefes bezogene Antwort.
Dank an alle AktivistInnen
Der Dank gilt allen, die nicht schweigen konnten und wollten angesichts des unerklärbaren und undurchsichtigen Abbruchs der Verhandlung am Landgericht. Dank an alle, die an dieser Spontandemo teilgenommen haben. Und Dank an alle, die vor dem Justizministerium ausgeharrt haben, bis sich ein Vertreter des Ministers zeigte. Empörung und Geduld sind eine ungewöhnliche, aber dennoch gute Paarung.
Der offene Brief an Justizminister Stickelberger ist hier nachzulesen.
Fotos: Petra Brixel und Petra Weiberg
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