Von Angela Berger – Stuttgart. Als sich im Oktober 2009 vier Stuttgart-21-Gegner trafen, um erstmals auf der Straße gegen das Bahn- und Immobilienprojekt zu protestieren, konnte niemand damit rechnen, dass am Montag, 8. Dezember 2015, die 250. Montagsdemo gegen den Tiefbahnhof stattfinden würde. Es kamen ungefähr 7000 Demonstrierende in der Schillerstraße vor dem Bahnhof zusammen. Die Polizei zählte lediglich 3700 Personen, aber bei einem Blick von der Bühne auf die Schillerstraße konnte man genau sehen, dass es weitaus mehr Teilnehmer waren.
Die Moderation übernahm der Lokalpolitiker Hannes Rockenbauch von der SÖS. „Das Projekt ist noch nicht fertig geplant, genehmigt, finanziert und lange noch nicht gebaut“, sagte er. Rockenbauch kritisierte auch die Versuche der Stadtverwaltung, die Demonstration in die Lautenschlagerstraße zu quetschen, weil das Konsumverhalten der Milaneo- und Gerberbesucher wichtiger sei als das Demonstrationsrecht. Musikalisch begleitet wurde die Kundgebung vom Lenkungskreis Jazz.
Scharfe Kritik an Politik und Bahn
Auch die vielen anderen Redner äußerten scharfe Kritik an Politik und Bahn. Der frühere Bahnhofsvorsteher Egon Hopfenzitz erklärte in charakteristisch schwäbischen, klaren Worten: Stuttgart 21 sei „unerledigter großer Mist“. Er warnte davor, was mit den Eichenpfählen passiert, wenn die Bahn diesen das Wasser entzieht. Und er rechnete vor, wie viele Betonpfähle für den Bahnhofstrog ins Erdreich gerammt werden müssen. Wie oft diese Pfähle und wie tief sie eingeschlagen werden müssen. Hopfenzitz kommt auf eine beeindruckende und zugleich erschreckende Zahl von über einer Million Schläge. Auch die geringere Leistungsfähigkeit des künftigen Tiefbahnhofs, die hohe Gleisneigung und den Abbruch des H7-Gebäudes spricht Hopfenzitz an.
Grossprojekte keineswegs ein Systemfehler
Anschließend sprach der „Hopfenzitz von Florenz“, Tiziano Cardosi. Er war 20 Jahre lang Bahnhofsvorsteher von Florenz und kämpft seit etwa sechs Jahren gegen die Untertunnelung der Stadt. Er erinnerte daran, dass der 8. Dezember weltweit der Protesttag gegen unnütze und aufgezwungene Großprojekte ist. Auch in Italien gebe es, gerade in der derzeitigen prekären Wirtschaftssituation, auffallend viele genehmigte Großprojekte, die keinerlei gesellschaftlichen Nutzen haben, aber die Unternehmerforderungen nach staatlich garantierten Gewinnen unterstützen.
Auch in Italien spüre man die zunehmende Armut. Dabei sei die Zunahme dieser unnützen Großprojekte keineswegs ein Systemfehler, sondern vielmehr ein „Wesenszug des herrschenden Wirtschaftssystems“. Cardosi sprach auch seine Solidarität mit den deutschen Eisenbahnern aus, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Auch in Italien werde seit Jahren das Streikrecht durch ein Gesetz unterhöhlt. Auch dort sollen die Angestellten und die Bahnfahrer für die Teilprivatisierung und das Missmanagement bezahlen.
Wenn die Bürger sich dann gegen diese unsinnigen Großprojekte wehren, fährt die Staatsmacht harte staatliche Repression dagegen auf. Im Val die Susa sind wegen des dortigen NoTav-Protests seit einem Jahr vier Jugendliche im Gefängnis. Sie wurden wegen Terrorismus angeklagt. Das sei völlig absurd, denn auf allen Baustellen werde zur gleichen Zeit wegen Korruption und Betrugs und wegen dem Einsickern der Mafia ermittelt.
Gesetzgebung zur Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke
Walter Sittler wünscht sich von den Bahn ein „von normal begabten Menschen durchschaubares Preissystem“, den Erhalt der Autoreisezüge, der Nachtzüge und den Ausbau des Schienennetzes. Er sei überzeugt, dass dies viele Menschen von der Straße auf die Schienen locken könne. Viele Milliarden Steuergelder flössen jährlich an die DB AG, sagte Sittler. Dafür könnten die Bürger die bestmögliche, auch mit einem kleinen Geldbeutel bezahlbare Bahn erwarten – und zwar für alle. Die DB könne sich ja in den Ländern Rat holen, wo dies sehr gut funktioniert.
Sittler plädiert für klares, mitunter auch unerbittliches Festhalten an den Zielen, aber eben vernünftig. „Beharrliche nachvollziehbare, gut informierte Argumentation“ sei dabei hilfreicher als so manche Auseinandersetzung, die in der letzten Zeit innerhalb der Bewegung, stattgefunden habe. Sittler zitierte Kurt Tucholsky: „Die Politik in diesem Lande kann man definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung.“
Eine neue Stuttgarter Touristenattraktion
Der Theaterregisseur Volker Lösch analysierte die derzeitige Situation. Die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 habe auch Fehler gemacht, aber es sei eine aktive Bürgerschaft entstanden, die hinterfragt, interveniert, aufklärt und dabei kommuniziert, ins Gespräch bringt, die vernetzt und opponiert und die auch mächtig ist. Das sei ein Großerfolg.
Das grenzenlose Vertrauen in die Politik sei durch das Projekt schon durch die sogenannte Volksabstimmung und dann noch durch das vergebliche Vertrauen in die grünen Wahlversprechen gebrochen worden. Oberbürgermeister Fritz OB Kuhn sei „inzwischen zum kritiklosen Investorenpaten mutiert“. Dabei sei auch ihm klar, dass sich nur wenige Kaltmieten zwischen 13 und 17 Euro pro Quadratmeter leisten könnten, sagte Lösch.
Statt zu schweigen schwadroniere Kuhn, dass die Stadt ein „elementares Interesse daran habe, dass es dem Milaneo gut gehe“. Selbst sein Vorgänger Wolfgang Schuster (CDU) hätte das nicht schöner formulieren können. Statt die Investoren zu kontrollieren und zu behindern, lasse Kuhn sie einfach durchmarschieren, obwohl er im Wahlkampf noch den Einkaufszentren-Bauwahn gegeißelt hatte.
Löschs Empfehlung: Man solle die Vernetzung, die durch den Protest im Land entstanden ist, weiter pflegen, damit diese Kräfte wenn notwendig wieder aktiviert werden können. Die Zusammenhänge, die den Menschen noch nicht klar geworden sind, müsse man aufklären. Und weiterhin informieren, boykotieren, solidarisieren, verbünden, blockieren, durch Kämpfe verbinden – also all das tun, was schon seit Jahren in Stuttgart stattfindet, aber vielleicht etwas nachgelassen hat.
In seiner Rede erwähnte Lösch auch den neuen Flyer der Infooffensive, der von etlichen Großprojekten berichtet, die doch noch eingestellt wurden.
Stuttgart 21 hat bisher weniger gekostet als manches andere, und Volker Lösch bleibt bei seiner Prognose, dass S21 nicht wie geplant gebaut werden wird. In das entstandene Loch könne man ja dann all das entsorgen, was man nicht mehr in der Stadt haben wolle. Das wäre dann die schwäbische Touristenattraktion: „Das Arsch-Loch von Stuttgart“.
Hier können die Redebeiträge nachgelesen werden:
Rede von Egon Hopfenzitz
Rede von Walter Sittler mit Interview
Rede von Volker Lösch
Bilder von der 250. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 von Angela Berger und Sven Kollet
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