Tübingen. „Die Nachrichten der letzten Tage sind höchst besorgniserregend“, findet Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter der Linken. Der 51-Jährige warnt im Konflikt um die Ukraine vor einer „monströsen Konfrontation“. Er appelliert, jede politische Initiative darauf zu prüfen, „ ob sie zur weiteren Eskalation oder zur Deeskalation beiträgt“. Dabei gehe es nicht darum, ob man Wladimir Putins Politik gut oder schlecht finde, erklärte er gegenüber unserer Redaktion. Die Ängste beider Seiten müssten respektiert werden.
Andrej Hunko ist Mitglied im Europaausschuss des Bundestags und in der parlamentarischen Versammlung des Europarats. Derzeit befindet er sich in Athen, wo am Montag, 29. Dezember, die Präsidentenwahl im dritten Anlauf scheiterte. Der Bundestagsabgeordnete aus Aachen hatte damit gerechnet. Nun wird es vorgezogene Parlamentswahlen geben. Das Linksbündnis Syriza liegt derzeit in Umfragen mit drei bis fünf Prozentpunkten Vorsprung an der Spitze – doch es gibt starken Gegenwind neoliberaler Kräfte.
Hunko hat die Ukraine in jüngerer Zeit achtmal bereist – zuletzt in der zweiten Novemberhälfte mit seinem Fraktionskollegen Wolfgang Gehrcke. Wir fragten Hunko nach seiner Einschätzung der aktuellen Lage. Er übermittelte sie von unterwegs aus Griechenland. „Wenige Tage vor den Minsker Gesprächen hat das ukrainische Parlament, begleitet von martialischen Töne führender Politiker, ein Nato-Annäherungsgesetz beschlossen“, bedauert Hunko. Putin habe im Gegenzug eine neue Militärdoktrin verkündet, die den Ukraine-Konflikt und die NATO-Osterweiterung als Gefahr für die nationale Sicherheit Russlands einstuft. Die Minsker Gespräche seien bis auf einen Gefangenenaustausch ergebnislos beendet worden.
Den Dialog mit Russland wiederbeleben
Wollten die Bundesregierung und die EU nicht in eine weitere Eskalation hineinschlittern, müssten sie ihre Haltung zum Ukraine-Konflikt grundlegend ändern, fordert der Abgeordnete: „Die historisch basierten Ängste Russlands vor einer Einkreisung durch die NATO und einer von außen geschürten Politik des ‚Regime change‘ müssen ebenso respektiert werden, wie diejenigen der baltischen Staaten, Polens und der Ukraine vor dem Einfluss Russlands.“
Das Assoziierungsabkommen und eine mögliche Finanzhilfe an die Ukraine müssten an deeskalierende Schritte gebunden werden. „Die Kategorie des Terrorismus, die im April mit der ‚Anti-Terror-Operation‘ in der Ukraine eingeführt wurde und die gegenwärtig in Moldawien Einzug erhält, muss beendet werden“, so Hunko. Stattdessen müssten „die historisch bedingten Widersprüche in der Region politisch anerkannt und aufgearbeitet werden. Sämtliche Dialogformate mit Russland müssen aufrechterhalten oder wieder belebt werden“.
Dabei gehe es nicht darum, ob man die politische Ausrichtung Putins gut findet oder nicht: „Es geht darum, ob man eine monströse Konfrontation befördert oder ihr entgegen wirkt. Nur das kann gegenwärtig der Maßstab für deutsche und europäische Außenpolitik sein.“
Vom Krieg traumatisierte Kinder
Andrej Hunko sprach am 9. Dezember auf Einladung der örtlichen Linken-Abgeordneten Heike Hänsel in Tübingen über den Ukraine-Konflikt. Schon damals warnte er vor „massiven Kräften in den USA und Europa, die auf eine weitere Eskalation des Konflikts mit Russland drängten. Man müsse „die Kriegstreiber zurückdrängen“. Dabei komme Deutschland eine Schlüsselrolle zu, zumal es in der Bevölkerung eine sehr kritische Stimmung gegenüber der Russland-Politik gebe.
Diese Stimmung und die verbreitete Skepsis gegenüber der Berichterstattung vieler Medien dürften sich inzwischen eher verstärkt haben. Bei seinem letzten Besuch in der Ukraine wollte Hunko nach Donezk und Lugansk. Das war wegen der trotz des vereinbarten Waffenstillstands anhaltenden Kämpfe nicht möglich. So besuchten Hunko und Gehrcke auf russischer Seite Flüchtlingslager und sprachen in Schulen mit schwer traumatisierten Kindern. Mindestens 5000 Tote, eine halbe Million Menschen in der Ukraine auf der Flucht und ungefähr 600 000 jenseits der Grenze in Russland: Vor allem anderen müsse der Krieg gestoppt werden, fordert Hunko. Doch ein Zusammenleben könne sich nach diesem Krieg niemand mehr so einfach vorstellen, so sein Eindruck: „Selbst wenn man jetzt eine Lösung finden würde, muss man diese Traumatisierung berücksichtigen.“
Der Maidan-Protest hatte soziale Wurzeln
Als Mitglied im Europaausschuss des Bundestags und der parlamentarischen Versammlung des Europarats ist Hunko zuständig für die Ostpolitik und Assoziierungsabkommen wie jenes, das am Anfang des Ukraine-Konflikts stand. Früher war Hunko Mitarbeiter des ehemaligen Tübinger Europaabgeordneten Tobias Pflüger. „Die Proteste auf dem Maidan haben soziale Wurzeln, sind aber geopolitisch und von Rechts instrumentalisiert worden“, ist der Bundestagsabgeordnete überzeugt. Die Situation sei eskaliert, als Mitte Februar auf dem Maidan Todesschüsse fielen und um die 100 Menschen ums Leben kamen: „So etwas gab es zuvor nie in der Ukraine.“
Hunko hätte das vom deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit ausgehandelte Abkommen zwischen dem früheren Präsidenten Wiktor Janukowitsch und der Opposition durchaus als aussichtsreich angesehen. Es sah Neuwahlen, die Entlassung politischer Gefangener, die Garantie von Minderheitenrechten und die Auflösung paramilitärischer Gruppen vor. Doch noch während Steinmeier Abgeordnete und Öffentlichkeit über das Abkommen unterrichtete, wurde Janukowitsch zum Rücktritt gezwungen und floh.
Krim: Eher Sezession als Annexion
„Über diesen Umsturz wird viel diskutiert“, sagte Hunko. Der russische Botschafter sprach von einem Staatsstreich, hierzulande ist die Rede von einer friedlichen Revolution. „Klar ist: Es verstieß auf jeden Fall gegen die ukrainische Verfassung und war eindeutig rechtswidrig.“ Zwei Wochen später sei es zur Sezession der Krim gekommen – Hunko spricht bewusst nicht von einer Annexion. „Was mir wichtig ist: Hierzulande fängt die Geschichte mit dsr Annexion der Krim an. Aber es gab eine Vorgeschichte.“
Die Massenbewegung von bis zu 300 000 Menschen auf dem Maidan habe auf zwei Säulen gestanden: der „extremen Unzufriedenheit mit dem politischen System“, da es eine „unglaubliche Oligarchisierung der Politik gab“ – stärker noch als in Russland. Der zweite Motor sei gewesen, dass die Ukraine als Land zwischen der EU und Russland wirtschaftlich stagnierte und dort große Armut herrsche, während es im Baltikum oder in Ländern wie Polen eine Entwicklung gab. Das habe „jenseits der ganzen Fragen des historisch Narrativen“ dazu geführt, dass sich die Leute im Westen zur EU und im Osten zu Russland hin orientierten.
Schon im Vorfeld schrillten die Alarmglocken
„Man muss das russische Sicherheitsinteresse genauso berücksichtigen wie das der baltischen Staaten oder Polens“, fordert der Abgeordnete, der betonte, kein Freund Wladimir Putins zu sein. In Moldawien drohe eine ähnliche Situation wie in der Ukraine: Die Bevölkerung sei je zur Hälfte nach Russland und zur EU hin orientiert. Eine Brückenfunktion werde als unmöglich angesehen, da das Land wirtschaftlich absteige und verarme.
Hunko berichtete in Tübingen auch von den „Vorboten der geostrategischen Energie des Konflikts“, die er wahrnahm – so etwa, als er im Oktober 2012 als Wahlbeobachter in der Ukraine war. Sein Hinweis, dass mit der Svoboda eine neofaschistische Kraft dem Oppositionsbündnis angehörte, sei überall nur „mit eisigem Schweigen“ aufgenommen worden. Im Mai 2013 sei er dann darauf aufmerksam gemacht worden, dass die „Deutsche Welle“ einen Neonazi-Blog mit dem „User Award“ ausgezeichnet hatte. Erst auf seine Intervention hin sei der Preis zurückgenomen worden.
Schließlich sei er zwei bis drei Wochen vor der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU zu einem Symposium eingeladen gewesen, bei dem ihm der russische Botschafter „schon sehr deutlich“ machte, dass Russland seine Interessen berührt sehe. „Da gingen bei mir schon Alarmglocken hoch“, sagte Hunko.
Abrüstung nötig – auch in der Sprache
Der Abgeordnete sprach auch über die gegen Russland und die Ostukraine gerichtete Propaganda – etwa, als ihnen Medien wie der „Spiegel“ und Regierungen die Schuld am Absturz der MH 17 gaben, obwohl dessen Ursache völlig ungeklärt ist: „Trotzdem gab es eine unglaubliche Kampagne und Sanktionen. Dabei könnte kein bürgerlicher Richter jemanden auf dieser Grundlage verurteilen.“ In der Folge sei der russische Handel mit Deutschland um 25 Prozent zurückgegangen, der mit den USA hingegen leicht angestiegen.
Zu Hunkos Forderungen gehört eine Abrüstung auch in der Sprache und der Diplomatie. Die Kriegstreiber müssten gestoppt werden. Die von Horst Teltschik initiierte und von 60 Prominenten unterzeichnete Resolution „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen“ deute hin auf den Ernst der Situation.
Wer ernsthaft etwas für die Menschen in der Ukraine tun wolle, müsse die Oligarchen entmachten. „Man braucht eine neutrale, aber wohlhabende Ukraine, die keine Bedrohung für Russland ist“, so Hunkos Forderung. – Mit der Absage an die Blockfreiheit dürfte dieses Ziel jedoch noch weiter in die Ferne gerückt sein.
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