Stuttgart. Die Sicherheitsvorkehrungen vor dem Gerichtssaal waren hoch. Überall stand Polizei. Publikum und Presse mussten sich durchsuchen lassen und Gegenstände wie Smartphones abgeben. Schon allein die Verlesung der Anklageschrift dauerte gut zwei Stunden: Vor der Staatsschutzkammer des Stuttgarter Landgerichts begann am heutigen Donnerstag, 15. Januar, der Prozess gegen vier Mitglieder der Autonomen Nationalisten (AN) Göppingen. Die Liste der Vorwürfe ist lang. Sie reicht von Sachbeschädigung durch Anbringen von Aufklebern bis zu schwerer Körperverletzung. Der Hauptvorwurf: Bildung einer kriminellen Vereinigung.
Gegen 16 weitere Mitglieder der AN wird gesondert ermittelt. Die im Dezember vom Stuttgarter Innenministerium verbotenen „Autonomen Nationalisten“ strebten der Staatsanwaltschaft zufolge eine nationalsozialistische Gesellschaft an, die sie nicht durch Wandel in einem demokratischen Prozess, sondern durch eine revolutionäre Veränderung des Systems erreichen wolle. Mittel sei der Kampf auf der Straße zur Machtdemonstration gewesen, Zwischenziel einke „national befreite Zone“.
Zwei Angeklagte mit Handschellen
Die vier Angeklagten sollen Rädelsführer der Vereinigung gewesen sein. Zwei von ihnen – der 34-jährige Koch Manuel M. und der 28-jährige SAP-Berater Manuel G. – sitzen seit Februar in Haft und wurden in Handschellen vorgeführt. Das begründete die Kammervorsitzende Manuela Haußmann damit, dass sie „für die Sicherheit aller“ zuständig sei und sich zum Prozessauftakt zunächst ein Bild machen wolle.
Ebenfalls angeklagt sind der 31-jährige Fliesenleger Stephan H. und Daniel Reusch. Der 22-Jährige war Landesvorsitzender der Partei „Die Rechte“, hat sich aber inzwischen nach eigenen Angaben von der Szene losgesagt. Er saß mit seinen Verteidigern Hans Steffan aus Stuttgart und Elisabeth Unger-Schnell aus Heilbronn von den anderen Angeklagten räumlich getrennt. Prozessbeobachter erwarten, dass er umfangreich aussagen wird. Das gilt möglicherweise auch für Stephan H., der von Julia Mende aus Stuttgart und Thomas Mende aus Esslingen vertreten wird.
Protestkundgebung vor dem Gericht
Als die beiden gefesselten Angeklagten den Gerichtssaal betraten, erhoben sich ihnen zu Ehren etwa zehn Anhänger aus der rechten Szene von ihren Plätzen im Zuschauerraum. Dort hatten sich neben einer beträchtlichen Zahl von Medienvertretern in einigem Abstand ungefähr dreißig weitere ZuhörerInnen eingefunden, davon viele aus dem antifaschistischen Spektrum. Das Antifaschistische Aktionsbündnis Stuttgart und Region (AABS) hatte am Morgen zu einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude aufgerufen. Etwa 20 Männer und Frauen beteiligten sich.
Das Bündnis wies darauf hin, dass es selbst jahrelang immer wieder auf die Gefahren durch die AN hingewiesen habe, ohne groß Gehör zu finden. Im Gegenteil: Antifaschisten, die sich den Autonomen Nationalisten entgegen stellten, seien kriminalisiert worden. Doch nun inszenierten sich die Strafverfolgungsbehörden als entschlossene Nazi-Gegner.
Auch ein Anhänger der Angeklagten stand vor dem Gerichtsgebäude und demonstrierte stumm mit einem Plakat. Auf gelben Zetteln, die er auf Nachfrage ausgab, forderte er „Schluß mit den politischen Schauprozessen“ und Freiheit für die beiden inhaftierten Angeklagten.
Sympathisant der Angeklagten salutiert
Zwei Sympathisanten der AN, die bei der Anklageverlesung immer wieder als Mittäter genannt wurden, mussten auf Anordnung der Kammervorsitzenden Manuela Haußmann den Saal verlassen, da sie als Zeugen geladen werden. Um 10.20 Uhr verließen auch alle anderen Sympathisanten den Zuhörerraum. Einer von ihnen machte einen etwas hilflosen Versuch zu salutieren.
Der 18. Strafkammer gehören als Berufsrichter auch Georg Böckenhoff und der Richter am Landgericht Posselt an, ebenso zwei Schöffen, und es gibt zwei Ersatzschöffen. Die Anklage wird von zwei Staatsanwälten vertreten, außerdem verfolgt ein Sachverständiger das auf zunächst fast 100 Verhandlungstage angesetzte Verfahren.
Anwalt fordert Verfahrenseinstellung
Die Vorsitzende Richterin hatte schon zuvor mehrere Zuhörer aus Göppingen hinausgeschickt, da sie als Zeugen vernommen werden sollen. Keiner von ihnen war vorab über seinen Status informiert worden, was nicht für gute Vorbereitung spricht. Auch der Chefredakteur der Beobachter News wurde des Saals verwiesen. Vor seiner Vernehmung als Zeuge darf er die Verhandlung nicht verfolgen, kann also auch nicht über sie berichten. Vermutlich soll der Journalist zu einem Vorfall in Leonberg befragt werden, über den er berichtete. Dort war ein Nazi-Aufmarsch angekündigt. Den Teilnehmern gelang es jedoch nicht, den von AntifaschistInnen umstellten Bahnhof auch nur zu verlassen.
Noch bevor Staatsanwältin Janine Kellner die Anklage verlas, beantragten die Verteidiger von Manuel G., die Rechtsanwälte Sebastian Lehr und Andreas Wölfel aus Tröstau, das Verfahren gegen ihren Mandanten einzustellen. Begründung: Die Anklageschrift sei zu wenig detailliert. Überdies hätten sich vier vorgeworfene Taten im Januar 2010 ereignet, als es noch gar keine Vereinigung der Autonomen Nationalisten gegeben habe.
Mit Farbe gefüllte Christbaumkugeln in Eierkartons
Manuela Haußmann ließ dennoch zunächst die Anklage verlesen. Den Angeklagten werden über sechzig Taten zur Last gelegt. Ein Auszug aus den Vorwürfen: Vermummung bei Versammlungen und Aufzüge in Marschformation mit einheitlich schwarzer Kleidung, zum Teil Fackeln und weißen Masken; weitere Verstöße gegen das Versammlungsrecht; Beleidigung; Zeigen verbotener Kennzeichen nationalsozialistischer Vereinigungen; Sachbeschädigung durch Anbringen von Aufklebern oder Besprühen von Fassaden und Asphalt; aber auch Widerstand gegen Polizisten, Bedrohung und schwere Körperverletzung.
Bei Durchsuchungen wurden nicht nur Fahnen, Transparente und Propagandamaterial beschlagnahmt, sondern auch mit Farbe gefüllte Christbaumkugeln und Waffen wie Reizgas und Pfefferspray, Quarzhandschuhe, Teleskopstöcke, Präzisionsschleudern oder Wurfsterne.
Verteidiger: Verfahren ist unverhältnismäßig aufwändig
Nach einer halbstündigen Pause beantragte Rechtsanwalt Steffen Wilfried Hammer aus Reutlingen, der zusammen mit Alexander Heinig aus Stuttgart Manuel M. vertritt, das Verfahren gegen seinen Mandanten einzustellen. Er begründete das mit einem für das zu erwartende Strafmaß unverhältnismäßigen Aufwand. Die Akten erstreckten sich über 19 000 Seiten. Seinem Mandanten würden zwei Beleidigungen, ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, ein Verstoß gegen das Jugendschutzgesetz und acht Sachbeschädigungen mit einem Schaden von zusammen 5357 Euro angelastet. Dem stünden Verfahrenskosten von einer Million Euro für 94 Verhandlungstage gegenüber. Vom Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung sprach er nicht.
Er beantragte überdies eine Aussetzung des Verfahrens gegen Manuel M. Der Angeklagte habe nur 39 von 72 Aktenbänden in die Haftanstalt geschickt bekommen. Aufgrund des Umfangs der Dokumente sei es unmöglich, sich parallel zur Hauptverhandlung kundig zu machen.
Publikum soll nicht über Sitze klettern
Das Gericht will seine Entscheidung über die Anträge am Freitag bekannt geben. Da einige Verteidiger andere Termine wahrnehmen mussten, unterbracht Manuela Haußmann das Verfahren bis dahin. Künftig soll montags jeweils von 10 bis 17 Uhr verhandelt werden, donnerstags von 9 bis 17 Uhr und freitags von 9 bis 16 Uhr.
Die Vorsitzende Richterin hatte nach der Pause das Publikum ermahnt: Es solle nicht wie geschehen über die Sitze klettern, das sei gefährlich. Überdies: „Immerhin ist das immer noch ein Gerichtssaal“ – jedenfalls kein Kletterparcours.
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