Stuttgart. Jochen Gewecke ist ein zugewandter Mensch. Er steckt voller Energie und hat vielfältige Interessen. Der 51-Jährige ist Grafik-Designer, Künstler, Sozialdemokrat, Vorsitzender des Freundeskreises des Tübinger Landestheaters und mischt in Tübingen in einem Stadtbahnverein mit. Am 1. März eröffnet er eine Fotoausstellung mit Bildern aus Kirchen, Synagogen und Moscheen in Meßkirch. Überdies ist er Mitgründer und stellvertretender Vorsteher einer freikirchlichen Gemeinde: der Salz der Erde Metropolitan Community Church (MCC) Stuttgart. Die Gründung war vor 15 Jahren. In der Gemeinde haben Menschen aus verschiedenen Ländern und mit unterschiedlicher Orientierung Platz.
Die Metropolitan Community Church (MCC) Stuttgart verlieh im Herbst zum fünften Mal ihren „Rosa Detlef“, einen Preis für besonderen Einsatz im LSBTTIQ-Bereich. Die Farbe des „Rosa Detlef“ erinnert an die Verfolgung schwuler Männer in der Nazizeit, als sie rosa Winkel tragen mussten. Die Preisverleihung war parallel zu einer angekündigten Demonstration einer Rechten Allianz von evangelikalen und orthodoxen Bildungsplangegnern mit Unterstützung der AfD und kirchlicher Kreise der CDU. Sie protestierten dagegen, dass sexuelle Vielfalt und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen an baden-württembergischen Schulen thematisiert werden sollen.
Die MCC-Gemeinde ruft nicht mehr zum Protest gegen die Demonstrationen der Bildungsplangegner auf. Es sei nicht schlecht, wenn sich jemand beteiligt. Aber man wolle keine Aufwertung der so genannten „Demo für Alle“ und keine Gewalt. „Wir haben unsere eigene Demonstration“, sagt Jochen Gewecke. Er meint damit die Parade zum CSD, dem Christopher Street Day. „Wir versuchen eher mit kreativen Mitteln zu arbeiten, nicht mit Mitteln des Kampfes.“
Das Jahr 2004, als die Stuttgarter MCC-Gemeinde entstand, muss für Jochen Gewecke so etwas wie ein Schicksalsjahr gewesen sein. In ihm bestritt er seinen zweiten Europawahlkampf als Kandidat der SPD, und er lernte beim Baden in den Stuttgarter Schwabenthermen seinen Lebensgefährten Jens kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Seither leben die beiden abwechselnd mal in der baden-württembergischen Landeshauptstadt, mal in Jochen Geweckes Wohnort Öschingen (Kreis Tübingen) am Fuß der Schwäbischen Alb.
Wenn er von seinem Leben und seinen Projekten erzählt, sprudelt der gebürtige Schwabe nur so, springt von einem Thema zum nächsten, aber irgendwie hängt dann doch alles zusammen. Er lacht oft und gern, ist ein offener und warmherziger Typ. Er will Menschen leben lassen, wie sie sind. Gerechtigkeit und Toleranz – das sind seine Haupttriebfedern.
Geboren wurde Gewecke in St. Johann-Upfingen auf der Uracher Alb. Als er viereinhalb war, zogen seine Eltern nach Metzingen, später nach Hayingen, schließlich nach Gossenzugen, auch „klein Bethlehem“ genannt. Sein Vater führte eine Kunstglaserei in Zwiefalten, die später Jochen Geweckes Schwester übernahm. Die künstlerische Neigung gab der Vater an alle drei Kinder weiter. Sie arbeiten auch alle als Selbstständige. Es war ein eher unpolitischer Haushalt, doch die Großeltern beiderseits waren Sozis, besonders die eine Großmutter stark verwurzelt in der Arbeiterbewegung. Das prägte. Der Enkel erinnert sich, wie er in den siebziger Jahren mit neun auf dem Marktplatz von Bad Urach zum ersten Mal Willy Brandt erlebte.
Die Diskussionen im zunehmend konservativen Elternhaus haben ihn früh politisiert, sagt Gewecke. Als er erstmals wählen durfte, erhielten die Grünen seine Stimme. Er wollte damals verhindern, dass Helmut Kohl seine „geistig-moralische Wende“, ein Rollback, legitimiert bekam. Im Wahlkampf Johannes Raus trat er 1986 an einem Infostand in Mössingen jedoch der SPD bei, da er der Meinung war, „dass man fortschrittliche politische Inhalte in den Volksparteien vertreten muss“.
Das sieht Gewecke, der acht Jahre lang SPD-Kreisvorsitzender in Tübingen war, noch heute so. „Parteizugehörigkeit ist immer ein Kompromiss, eine Mischung aus Zweckbündnis und Liebesheirat“, sagt er. Es gehöre dazu, auch mal Niederlagen einzustecken. Noch immer fühlt sich der Sozialdemokrat den Grünen nah. „Bemerkenswert schwierig“ war es für ihn, die Einschränkung des Asylrechts 1987/88 zu akzeptieren und später den Kosovoeinsatz der Bundeswehr. „Ich war immer sehr friedensbewegt“, sagt Jochen Gewecke. „Aber in einer Welt, die sehr stark militarisiert ist, wird man auch Sanktions- und Verteidigungsmittel brauchen“.
Jochen Gewecke ging nach dem Abitur zur Bundeswehr. Erst dort verweigerte er nach dem ersten Scharfschießen den Kriegsdienst. Da er als Reservist eingezogen wurde, konnte er seine Zivildienststelle nicht wählen, sondern wurde der KBF (Körperbehindertenförderung Mössingen) zugewiesen. Dort betreute er einen autistischen Schüler. Seit damals ist Gewecke Fan einer allgemeinen Dienstpflicht. „Die Zivis kamen alle anders aus dem Dienst raus, als sie rein sind“, sagt er.
Er studierte in Reutlingen Kunst und Deutsch, aber dann „haben sie keine Lehrer gebraucht“. Da kam Jochen Gewecke seine künstlerische Ader zugute. Schon im Studium hatte er Grafikaufträge angenommen und ein Modelabel gestaltet. Daraus wurde ein Werbeauftritt, und nach dem ersten Staatsexamen machte er sich als Grafiker und Texter selbstständig. „Die Kombination war ideal.“
Zur Kirche fand Jochen Gewecke über den Tübinger Axel Schwaigert, der Theologie studiert hat und eigentlich Pfarrer werden wollte, aber als Homosexueller keinen Weg in die württembergische Landeskirche fand. „Wie kann es sein, dass sich Christen von Rechten vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben?“, fragten sich die beiden 68er. Sie stießen auf die Metropolitan Community Church als „Ort für jeden“, wie Gewecke sagt. „Die MCC hat Vielfalt, Weltoffenheit und Toleranz in den Genen. Deshalb fühle ich mich da zu Hause“, sagt der stellvertretende Gemeindevorsteher. „Genau das ist das Gerechtigkeitsthema, die andere Seite der Medaille.“
Gewecke und Schwaigert wollten eine Gemeinde aufziehen, in der sich jeder willkommen fühlen kann und niemand nach seiner sexuellen Orientierung gefragt wird. „Die Zahl der Verletzten, die zu uns kommen, ist unermesslich. Manche werden zum ersten Mal in ihrem Leben geschätzt und anerkannt“, berichtet Gewecke. Es gibt keine feste Kirchensteuer und keinen Beitrag. Jede/r gibt, was er kann – und das scheint auszureichen.
Dem Weltbund der Metropolitan Community Church gehören ungefähr 250 Gemeinden mit 20 000 Mitgliedern an. Die meisten werden von ordinierten Pfarrern geleitet, viele aber auch von Laien, die einen hohen Stellenwert haben. Vor allem in Lateinamerika, in Brasilien, Argentinien oder Mexiko, wächst die MCC stark. Gewecke leitet ihr europäisches Netzwerk.
Bei dessen letzter großer Zusammenkunft im September in Leinfelden zeigte Jochen Gewecke seine Ausstellung „Kommt zusammen!“, für die er 2009 den Bürgerpreis des Europäischen Parlaments erhielt. Für sein Projekt hatte er über Jahre in Moscheen, Synagogen und Kirchen fotografiert. Nicht nur deren Architektur oder prächtiges Interieur, sondern auch – etwa in einer Moschee in Mannheim – Gläubige im Gebet. Und er hat seine Bilder in den verschiedenen Gotteshäusern ausgestellt und so die Synagoge in die Kirche und die Kirche in die Moschee gebracht. Die Ausstellung wurde schon an vielen Orten gezeigt, ihre nächste Station ist Meßkirch. Zur Eröffnung am Sonntag, 1. März, um 11.30 Uhr im Meßkircher Schloss spricht die ehemalige SPD-Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin. Die Fotos sind bis zum 6. April im Schloss, in der katholischen Kirche, in der Kapelle beim Klösterle, in der Spitalkapelle und im Rathaus zu sehen.
Das Projekt „Kommt zusammen!“
erforderte weit mehr als organisatorischen Aufwand: behutsames Werben um Vertrauen, Verständnis für Ängste und Befürchtungen, beharrliches Überzeugen. Gerade jetzt, da Religion wieder als Rechtfertigung für Kriege missbraucht wird, ein umso verdienstvolleres Unterfangen.
Fotos: Angela Berger
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