Schwäbisch Gmünd. Flüchtlinge aus Schwäbisch Gmünd protestieren gegen ihre Kriminalisierung. Sie haben eine Erklärung für die Öffentlichkeit und einen offenen Brief an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann verfasst. Die Flüchtlinge sollen eine Haftstrafe antreten, weil sie gegen die inzwischen abgeschaffte Residenzpflicht verstoßen haben. Sie waren am 17. April 2014 von Schwäbisch Gmünd mit dem Zug nach Jena gereist, um an einem politischen Workshop des „The VOICE Refugee Forum“ teilzunehmen. Am Montag, 2. März, ist eine Solidaritätskundgebung um 12 Uhr vor dem Lager in der Oberbettringer Straße 176 in Schwäbisch Gmünd geplant.
Die Kundgebung soll vor dem Rathaus und auf dem Marktplatz von Schwäbisch Gmünd fortgesetzt werden. Die Flüchtlinge bitten auch um Unterstützung etwa durch Protestbriefe an die Verantwortlichen. „Wir unterstreichen unseren Standpunkt, dass wir keinem Gesetz Folge leisten werden, dass uns in unseren Grundrechten einschränkt!“, heißt es in ihrem Schreiben an den Ministerpräsidenten. Sie weisen Winfried Kretschmann darauf hin, dass er der auch bei den Grünen umstrittenen Asylrechtsreform unter anderem mit der Begründung zugestimmt habe, im Gegenzug werde die Residenzpflicht abgeschafft.
Hier die Erklärung der Flüchtlinge im Wortlaut:
“Residenzpflicht bedeutet weiterhin Apartheid”
“Lager bedeutet weiterhin Vernichtung”Flüchtlinge aus Schwäbisch Gmünd befinden im zivilen Ungehorsam gegen Freiheitsberaubung, Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Verfolgung von Flüchtlingen in Deutschland
Leke Aremu, Farook Khan, Raphael Paul, Frankline Ndam
Wir sind vor Verfolgung in unseren Heimatländern geflohen, aber die Verfolgung setzt sich hier fort. Schon bevor wir Flüchtlinge hier in Deutschland ankommen sind, wenn unsere Namen noch nicht einmal bekannt sind, werden wir bereits durch die gewaltsame Abnahme unserer Fingerabdrücke an den Grenzen kriminalisiert.
Unser politischer Protest begann im Februar 2014, als wir die Verletzung unserer Privatsphäre durch Kameraüberwachung feststellen mussten. Im Eingangsbereich unseres Isolierungslagers war ohne vorherige Ankündigung eine Videoüberwachungskamera installiert worden.
Wir schickten daraufhin einen Delegierten von uns Flüchtlingen zu den Verantwortlichen des Lagers, um mitzuteilen, wie wir uns mit der auf den Eingang gerichteten Überwachungskamera fühlen. Wir machten deutlich, dass uns diese Situation den bedrohlichen Eindruck vermittelt, unter ständiger Beobachtung und Kontrolle stehen zu müssen. Es gibt uns das Gefühl, Gefängnisinsassen zu sein und erzeugt Angst und Unsicherheit. Sollen wir so von der Selbstorganisierung in unserem isolierten Lager abgeschreckt werden. Die zuständigen Beamten des Landkreises Schwäbisch Gmünd lehnten unsere Forderung nach Entfernung der Überwachungskamera jedoch ohne Begründung ab.Daraufhin beschlossen wir einen einmonatigen Streik gegen die Kameraüberwachung mit Kundgebungen und Demonstrationen im Lager, im Stadtzentrum vor den Behörden sowie vor dem Landratsamt des Ostalbkreises in Aalen durchzuführen, bis unsere Forderung erfüllt wird. Dieser dauerte vom 3. März bis 11. April 2014. Aber statt mit uns über die Angelegenheit zu verhandeln, setzte der Landkreis auf die Polizei, um seiner Verweigerung einer Schlichtung mit Gewalt Nachdruck zu verleihen. Wir wurden von der örtlichen Polizei brutal misshandelt, welche in keiner Weise fähig war, unsere Sicht auf die Dinge begreifen zu wollen. Während unserer Demonstration am 11. April 2014 um 14.13 Uhr kamen dann jene Polizeikräfte, die uns später im und vor dem Lager angegriffen haben. Zwei Flüchtlinge wurden durch von der Leine gelassene Polizeihunde angefallen und durch Bisse verletzt. Insgesamt wurden vier Flüchtlinge festgenommen. Nur durch den umgehenden Protest der anderen Flüchtlinge vor der Polizeiwache kamen diese dann nach zwei Stunden schließlich frei. Während dieser Zeit wurde die Überwachungskamera dann einfach stillschweigend entfernt.
Wir setzten unsere Anstrengungen fort, die verschiedenen Formen der Verfolgung von Flüchtlingen offen zu legen. Deswegen wurden wir von den Landkreisbeamten verleumdet und als “Unruhestifter” gebrandmarkt, um so unsere weitere Kriminalisierung zu rechtfertigen und uns als vorgebliche Feinde der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zur Zielscheibe zu machen. Hierzu wurden sogar Fotos von uns in den Lokalzeitungen abgedruckt.
Wir haben viele Anzeigen bekommen, die letztlich nur darauf abgezielt haben, unseren Protest zu stoppen. Auch kam es zu weiteren Isolierungsmaßnahmen wie z.B. zu einem dreimonatigen Hausverbot im Büro des Sozialdienstes des Lagers. Es wurden abwegige Anklagen wie z.B. Nötigung konstruiert, um unser Demonstrationsrecht zu diffamieren und die Polizeigewalt gegen uns sowie die Ignoranz der Lagerleitung nachträglich noch zu rechtfertigen. Einer unserer Aktivisten, der von einem grundlos durch seinen Hundeführer auf ihn losgelassen Polizeihund gebissen wurde, steht noch heute unter Anklage.Die Anklage lautet, er habe die Polizei an der Ausübung ihrer Pflicht gehindert, obwohl er doch lediglich versucht hatte, sich vor weiteren Hundebissen zu schützen.
Er erhielt einen Strafbefehl über 750 Euro. Nachdem er Widerspruch eingelegt hatte, reduzierte das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd die Strafe auf 300 Euro. Jetzt liegt der Fall nach erneutem Widerspruch in der Zuständigkeit der Landgerichtsbarkeit. Sein Widerspruch zielt darauf ab, festzustellen, ob die höhere gerichtliche Instanz weiterhin die gesundheitsschädigende, unverantwortliche und rechtswidrige Aktion der Polizeibeamten gegen den Flüchtlingsprotest im Lager auch weiterhin vertuscht, um die skandalöse Kriminalisierung der eigentlichen Opfer aufrechterhalten zu können. Diese gleiche Erfahrung mussten wir leider bereits anlässlich der vielen Todesfälle von Flüchtlingen wie Oury Jalloh und anderen, die durch deutsche Polizeibeamte umgebracht wurden, lernen.Nach einer rassistischen Polizeikontrolle (racial profiling) erhielten wir Bußgeldbescheide über 130 Euro und 50 Cent pro Person wegen des vorsätzlichen Verstoßes gegen die sog. “Residenzpflicht“ – das deutsche Apartheidgesetz – welches Flüchtlingen ihre Bewegungsfreiheit verwehrt und ihnen verbietet, den jeweiligen Verwaltungsbezirk ihrer Ausländerbehörde zu verlassen. Wir waren zehn Personen auf dem Weg nach Jena zu einem politischen und Medienworkshop über selbstorganisierten Flüchtlingswiderstand und Anti-Abschiebungskämpfe. Im Zug wurden wir nach rassischen Auswahlkriterien kontrolliert und erhielten später die Aufforderung Bußgelder und Gebühren zu zahlen.
Wir weigern uns die “Strafe” zu bezahlen, weil wir die “Residenzpflicht” als Verletzung unseres Grundrechts auf Bewegungsfreiheit und als rassistische Diskriminierung ansehen.
Seitdem erhalten wir Briefe mit sich steigernder Strafandrohung bis hin zur Beugehaft. Der jüngste Brief forderte uns auf, uns selbständig zu einer dreitägigen Erzwingungshaft im Gefängnis Ellwangen zu melden – für eine Handlung, die wir als unser fundamentales Menschenrecht auch in Deutschland verstehen.
Als Flüchtlingsaktivisten verstehen wir diesen Missbrauch von bürokratischer und gerichtlicher Macht als abschreckenden Ausdruck von Unrecht, Repression und mentaler Folter, welche für uns fest mit dem deutschen Asylsystem verbunden ist.Diese Zustände wecken in uns die Erinnerung an die sehr düsteren Zeiten und Kontinuitäten der deutschen Nationalgeschichte mit ihrem faschistischen und kolonialen Terror bis hin zum Völkermord.
Wir werden nicht aufhören, gegen diese deutsche Mentalität der Überlegenheit zu kämpfen und Widerstand zu leisten, die noch heute ihren Ausdruck in Lagerisolation, Polizeibrutalität und missbräuchlicher Rechtsbeugung von Menschenrechte findet.
Wir sind nicht aus lebensbedrohlichen Situationen geflohen, nur um hier in Deutschland stillschweigend unsere Isolierung und Misshandlung durch die staatliche Willkür des deutschen Apartheid- und Lagersystems hinzunehmen.Wir weigern uns, Strafgelder für unsere Rechte zu bezahlen!
Wir verweigern uns einer “stillschweigenden” Inhaftierung!
Wir weigern uns, jegliche Form der Verfolgung von Flüchtlingen in Schwäbisch Gmünd und in Deutschland zu akzeptieren!Die Verfolgung durch die “Residenzpflicht” findet weiter statt – die angebliche Abschaffung ist eine infame Lüge!
Wir kämpfen für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Würde!
Wir rufen Euch alle zur Solidarität auf!
Bringt Eure Ansichten und Eure Gefühle in öffentlichen Aktionen zum Ausdruck!
Schickt Protestschreiben an die verantwortlichen Behörden!
Wir dokumentieren auch den offenen Brief an Winfried Kretschmann im Wortlaut:
Herr Ministerpräsident…
Wir sind Flüchtlinge und politische Aktivisten aus verschiedenen Ländern (Nigeria, Kamerun, Afghanistan) und werden seit mehreren Jahren genötigt, im Isolationslager Schwäbisch Gmünd zu leben – zumindest so lange unsere Asylverfahren noch beim BAMF Karlsruhe „bearbeitet“ werden.
Wir möchten Sie hiermit über unsere bald anzutretenden Haftstrafen informieren. Die Staatsanwaltschaft Ellwangen (Strafvollstreckungs- und Gnadenabteilung) hat uns diese Erzwingungshaftstrafe – trotz der angeblich nicht mehr geltenden „Residenzpflicht“ – nach Gerichtsentscheid durch das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd auferlegt. Wir fordern eine sofortige Intervention bei den verantwortlichen Verwaltungsbehörden und Strafverfolgungsorganen gemäß Grundgesetz Artikel 17, um eine anhaltende Kriminalisierung sowie weitere Anklagen und Strafverfolgung wegen der abgeschafften Residenzpflicht zu verhindern, indem die Haftstrafen gegen uns und andere Betroffene widerrufen bzw. fallengelassen werden.
Am 17. April 2014 reisten wir von Schwäbisch Gmünd mit dem Zug nach Jena, um an einem politischen Workshop zu selbstorganisiertem Widerstand gegen staatliche Menschenrechtsverletzungen teilzunehmen, welcher von ‚The VOICE Refugee Forum‘ organisiert wurde. Auf unserem Weg dorthin wurden wir im Zug von zwei Polizeibeamten der Bundespolizei nach rassischen Kriterien kontrolliert. Diese setzten uns über die Verletzung der sog. „Residenzpflicht“ in Kenntnis, konnten aber keine Angaben zum Strafmaß machen, da dieses in die Verantwortung der Behörden der Stadt Schwäbisch Gmünd fallen würde.
Im Juni 2014 erreichten uns Bußgeldbescheide der Stadt Schwäbisch Gmünd. In diesen wurden wir aufgefordert jeweils 103 Euro und 50 Cents (inklusive Gebühren und Auslagen) zu bezahlen. Als Grund wurden jeweils Verstöße gegen die damals exklusiv in Deutschland geltende „Residenzpflicht“ angegeben. Wir weigern uns aus ganz prinzipiellen Gründen, dieser Zahlungsaufforderung Folge zu leisten, da sie eine klare Verletzung unserer Grundrechte auf Selbstbestimmung, Bewegungsfreiheit und politischer Betätigung darstellt, die entsprechend der Artikel 1 (Absätze 2 und 3), 2, 3 (Absätze 1 und 3) und 19 (Absatz 2) des Grundgesetzes verfassungsmäßig festgeschrieben sind und sich darüber hinaus auch durch die Ratifizierungen der Internationalen und Europäischen Menschenrechtskonventionen ergeben.
Unsere Beweggründe und eine Forderung die Anklage fallen zu lassen, haben wir in einer öffentlichen Erklärung an die Stadtverwaltung und Behörden in Schwäbisch Gmünd dargelegt (https://de-de.facebook.com/ refugeesinitiative/posts/633210956792039 – s. Anlage). Das Verfahren wurde jedoch ohne Antwort weiter fortgeführt und wir weiterhin vor die Wahl gestellt, entweder Strafe für unser Grundrecht auf Bewegungsfreiheit zu bezahlen oder uns genau diese komplett nehmen zu lassen und so lange ins Gefängnis zu gehen, bis wir dann doch bereit sein könnten, zu bezahlen. Das können für uns keine Alternativen sein.
Wir haben die konsequente Weiterführung des Verfahrens nun miterlebt: Die konstante Erhöhung der zu leistenden Strafzahlungen bis hin zur Aufforderung uns in Ellwangen zu einer dreitägigen Erzwingungshaftstrafe zu melden, da wir die Strafe nicht gezahlt haben. Diese drei Tage Haft zählen aber nicht zur Begleichung der Strafe!
Wir unterstreichen unseren Standpunkt, dass wir keinem Gesetz Folge leisten werden, dass uns in unseren Grundrechten einschränkt! Darüber hinaus machen wir Sie darauf aufmerksam, dass die entsprechenden, aktuellen Änderungen des Asylverfahrensgesetzes auch nicht etwa durch den „guten Willen“ des Gesetzgebers oder gar „freiwillige“ politische Einsicht zustande kam, sondern vielmehr auf den vielfach geleisteten, konsequenten, zivilen und legalen Ungehorsam von betroffenen Aktivisten auf allen politischen und juristischen Ebenen zurückzuführen ist.
Bereits vor der (ausdrücklich nur teilweisen!) „Abschaffung der Residenzpflicht“ in Deutschland sahen wir eben dieses Gesetz als ein Apartheid-Gesetz zur systematischen Isolierung von geflüchteten Menschen aus der deutschen Zivilgesellschaft an.
Wir haben dazu in der o.g. Erklärung veröffentlicht, dass wir für unser Recht auf Bewegungsfreiheit nicht zahlen werden – und übrigens auch gar nicht können. Wir sind sehr wütend darüber, dass wir uns auch weiterhin einer Strafverfolgung ausgesetzt sehen müssen, nur weil wir von unserem Recht auf Bewegungsfreiheit Gebrauch gemacht haben.Gerade Sie, Herr Kretschmann, haben ja Ihre Zustimmung zur – in Ihrer eigenen Partei höchst umstrittenen – „Asylrechtsreform“ unter anderem explizit mit der „Abschaffung der Residenzpflicht“ begründet! Speziell vor dem Hintergrund der „substantiellen“ Begründung Ihrer Kompromissbereitschaft bezüglich der bereits im Regierungsprogramm der Großen Koalition angekündigten „Asylrechtsreform“ ist es eine Schande, dass Menschen in Ihrem eigenen Bundesland selbst nach Inkrafttreten der entsprechenden Gesetzesänderungen noch immer mit uneinsichtiger Härte bis hin zur Erzwingungshaft verfolgt und kriminalisiert werden!
Unsere Entscheidung, nicht für unser Recht auf Bewegungsfreiheit, für unsere politischen Überzeugungen und unsere Menschenwürde bezahlen zu wollen, ist eine Gewissensentscheidung, die nicht verhandelbar ist.
Wie stehen Sie zu Ihren Entscheidungen, Herr Kretschmann?In der Anlage haben wir uns erlaubt, die beteiligten Verantwortungsträger aufzulisten. Den dort gelisteten Behörden und Amtsträgern wird dieses Schreiben in Kopie zugestellt werden.
Mit ungebrochen freiheitsliebenden Grüßen
Paul Akhamiojie
Leke Aremu
Ahmad Haidari
Stanley Inegbenosa
Farooq Khan
Frankline Ndam
James Ogoloma
Efe Omorogbe
Raphael Paul
Ernest Uwaila
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