Berlin. Eine Initiative von Wissenschaftlern und Künstlern in Berlin fordert, den Verfassungsschutz aufzulösen und alle Kontakte zwischen ihm und dem Umfeld des NSU lückenlos aufzudecken. Überdies soll der hessische CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier zurücktreten. Er habe alles dafür getan, die Aufklärung um den Einsatz des umstrittenen Mitarbeiters des Verfassungsschutzes Andreas Temme zu behindern.
Andreas Temme saß 2006 in Kassel im Nebenzimmer jenes Internet-Cafés, in dem der 21-jährige Halit Yozgat am 6. April 2006 erschossen wurde. Er machte sich frühzeitig dadurch verdächtig, dass er sich nicht als Zeuge meldete. Unglaubwürdig wirkte auch, dass er von der Tat nichts mitbekommen, noch nicht einmal das Opfer wahrgenommen haben wollte. Inzwischen gibt es Indizien, dass Temmes Anwesenheit am Tatort kein Zufall war. Protokolle einer Telefonüberwachung lassenIni den Schluss zu, dass der Verfassungsschutz-Mitarbeiter und einer seiner V-Leute aus der Nazi-Szene über den Mordanschlag auf Halit Yozgat im Vorfeld informiert waren.
Siehe auch den früheren Kommentar von Anne Hilger „NSU-Ausschuss: Womöglich gezielte Sabotage„.
Wir dokumentieren die Erklärung der Berliner Initiative im Wortlaut:
Die NSU-Affäre ist einer der größten politischen Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte. Über Jahre hinweg verübte der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) rassistisch motivierte Morde in ganz Deutschland – und dies offensichtlich unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Doch unter Tatverdacht gestellt wurden bei der Mordserie die Angehörigen und das persönliche Umfeld der Opfer.
Besonders deutliche Hinweise auf Verbindungen zwischen Inlandsgeheimdienst und dem rechtsterroristischen Netzwerk gibt es in Hessen. Der Mitarbeiter des dortigen Verfassungsschutzes Andreas Temme war beim NSU-Mord in Kassel 2006 am Tatort: Er saß in jenem Internet-Café, in dem der 21-jährige Halit Yozgat am 6. April 2006 erschossen wurde. Es gibt Indizien, dass dies kein Zufall war. Protokolle einer Telefonüberwachung lassen den Schluss zu, dass Temme und einer seiner V-Leute aus der Nazi-Szene über den Mordanschlag auf Halit Yozgat im Vorfeld informiert waren.
Doch eine Aufklärung der Kontakte des hessischen VS zum NSU-Umfeld wird seit Jahren systematisch behindert. Eine unrühmliche Rolle spielt dabei der frühere Innenminister und heutige Ministerpräsident von Hessen Volker Bouffier (CDU). Als Dienstherr des Verfassungsschutzes trägt er die politische Verantwortung für die Machenschaften seiner Behörde. Nach dem Auffliegen des NSU hat er alles dafür getan, um eine Aufklärung zu unterbinden. So untersagte er den hessischen VS-Beamten Aussagen vor dem Berliner Untersuchungsausschuss und sorgte – trotz haarsträubender Widersprüche –für die Einstellung des Verfahrens gegen seinen Untergebenen Temme.
Auch andere staatliche Stellen haben zur Vertuschung der Verbrechen beigetragen. Im von Hans-Peter Friedrich (CSU) geführten Bundesinnenministerium begann man unmittelbar nach der Enttarnung des NSU im November 2011 damit, Hunderte von Akten zu schreddern. Sowohl in Thüringen als auch in Baden-Württemberg wurden Hinweise auf einen rechtsterroristischen Hintergrund der NSU-Mordserie von Sicherheitsbehörden frühzeitig unterschlagen. Außerdem wurden Hinweise auf ein größeres, über Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt hinausgehendes rechtsterroristisches Unterstützernetzwerk systematisch ignoriert.Eine plausible Erklärung dafür lautet, dass Mitarbeiter der Inlandsgeheimdienste so eng mit dem NSU-Netzwerk kooperierten, dass Ermittlungen verhindert werden mussten. Der ehemalige Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Klaus-Dieter Fritsche hat dieser These Nahrung gegeben, als er vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages äußerte: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.”
Die Inlandsgeheimdienste rechtfertigen ihr Verhalten mit dem so genannten „Quellenschutz“. Doch wozu dient eine Informationsbeschaffung, die rechtsterroristische Morde nicht verhindert und die Aufklärung von Verbrechen sogar erschwert? Aktive Neonazis haben vom Staat Geld für Informationen erhalten, die nicht zur Verbrechensbekämpfung verwendet wurden und auf die demokratische Instanzen keinerlei Zugriff hatten. Der Verfassungsschutz steht mit diesen Praktiken außerhalb der Legalität. Er stellt für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft eine Gefahr dar und gehört abgeschafft.Wir fordern:
Auflösung des Verfassungsschutzes!
Sofortiger Rücktritt von CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier!
Lückenlose Aufdeckung der Kontakte zwischen VS und NSU-Umfeld!
Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:
Ute Adamczewski, Filmemacherin, Berlin
Ulrich Brand, Professor für Politik, Wien
Sabeth Buchmann, Kunsthistorikerin, Wien
Jan Buck, Theaterautor, Gießen
Alex Demirovic, Professor für Soziologie, Frankfurt
Katja Diefenbach, Kulturwissenschaftlerin, Berlin
Marion Dittmer, ver.di – Landesmigrationsausschuss, Hamburg
Anselm Franke, Kurator, Berlin
Ismet Giritli, Betriebsrat Deutsche Post, Hamburg
Nanna Heidenreich, Medienwissenschaftlerin Berlin / Braunschweig
Ute Langkafel, Fotografin, Berlin
Juliane Karakayali, Professorin für Soziologie, Berlin
Romin Khan, Referent Migrationspolitik bei ver.di, Berlin
Thomas Meinecke, Schriftsteller, München
Michaela Melian, Künstlerin / Musikerin, München / Hamburg
Angela Metipoulos, Künstlerin, Berlin
Emilija Mitrovic, Mitglied im Bundesmigrationsausschuss bei ver.di, Hamburg
Eltayeb Mohamed, Betriebsrat Deutsche Post, Hamburg
Miltiadis Oulios, Autor, Düsseldorf
Gisela Reich, ver.di AK Antirassismus, Hamburg
Jayrôme C. Robinet, Autor, Berlin
Kathrin Röggla, Schriftstellerin, Berlin
Marianna Salzmann, Theaterautorin, Berlin
Natascha Sadr Haghighian, Künstlerin, Berlin
Frank Spilker, Musiker, Hamburg
Margarita Tsomou, Autorin / Künstlerin, Berlin
Dorothee Wenner, Filmemacherin / Kuratorin
Michael Wildenhain, Schriftsteller, Berlin
Jolanta Woznick, ver.di – Landesmigrationsausschuss, Hamburg
Raul Zelik, Autor / Übersetzer, Berlin
Allmende, Haus alternativer Migrationspolitik, Berlin
Antirassistische Initiative Berlin e.V.
Interventionistische Linke (Berlin)
Initiative „Keupstraße ist überall“
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