Von Julian Rettig und der Redaktion – Stuttgart/Tübingen. Kurz vor 20 Uhr verließen am Samstagabend noch einige Passantinnen und Passanten langsam die schließenden Geschäfte und schlenderten über die Stuttgarter Königsstraße. Einigen von ihnen dürfte das ungewöhnliche Treiben an diesem 25. April auf Höhe der Buchhandlung Wittwer nicht entgangen sein. Vor dem Kunstmuseum lagen fast zwei Dutzend Menschen auf dem harten Boden. Sie waren mit Leichentüchern überdeckt und stellten sich tot.
Für Aufklärung sorgte ein Aktivist, der die Botschaft dieser Szenerie mit einem Megaphon in die Fußgängerzone schallte: Dieser Flashmob stelle ein Zeichen dar, um in der Öffentlichkeit die Folgen der EU-Abschottungspolitik vorzuführen.
Interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer folgten den Worten aus dem Megaphon. Sie erfuhren auf deutsch und englisch Details über die Grenzsicherung der EU im Mittelmeerraum und über die verschiedenen Fluchtgründe Asylsuchender. Vor allem wurden die Zuhörerinnen und Zuhörer auf die Dramen der gesunkenen Flüchtlingsschiffe der letzten Woche hingewiesen.
Die mit Leichentüchern abgedeckten „Toten“ zogen das Augenmerk vieler Vorbeigehender auf sich. Als kreativer Teil des Flashmobs brachten sie aber auch auf diese Art und Weiße die EU-Außenpolitik in einer bildhaften Form auf die Einkaufsmeile der Stuttgarter Innenstadt. Teilweise bildete sich eine ganze Trauben aus Zuschauern um diese gesamte Szene herum.
Spontan wurde Applaus gespendet. Personen, die mit Kreide Parolen auf den Boden malten oder Transparente und Schilder in die Höhe hielten, wurden immer wieder in Gespräche verwickelt. Nach einer Viertelstunde beendeten die Akteure ihre Performance. Die „Toten“ auf der Königsstraße legten ihre Leichentücher selbstständig zur Seite und standen auf – anders als die vielen tausend Tote an den EU-Außengrenzen der letzten Jahre und insbesondere die Opfer der letzten Woche.
Tübingen – 400 DemonstrantInnen fordern neue EU-Grenzpolitik
Schon am Nachmittag hatte es auf dem Stuttgarter Schlossplatz eine Kundgebung gegeben, ebenso auf dem Holzmarkt in Tübingen. Dort forderten über 400 Menschen die Verantwortlichen der EU auf, ihre Flüchtlingspolitik nach dem Tod von über 1000 Menschen innerhalb nur einer Woche im Mittelmeer zu ändern.
Zu der Kundgebung in Tübingen hatte ein breites Bündnis aufgerufen (siehe „Gegen das Sterben im Mittelmeer“). Seit dem Jahr 2000 seien mehr als 25 000 Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen ertrunken, erstickt, verdurstet oder an Erschöpfung gestorben, stand auf einem Plakat.
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) warnte vor „einfachen Lösungen“. Es würde der Situation weder gerecht, die Grenzen pauschal zu schließen, noch sie komplett zu öffnen. „Fähren statt Frontex“ forderte hingegen Andreas Linder vom baden-württembergischen Flüchtlingsrat. Schlepper sollten bekämpft, den Flüchtlingen müsse jedoch geholfen werden.
Die Bundestagsabgeordnete der Linken Heike Hänsel äußerte die Befürchtung, dass der aktuelle EU-Gipfel weitere Verschärfungen bringen werde. Statt Schlepperboote mit militärischen Mitteln zu bekämpfen, brauche man eine faire Handelspolitik der EU. Man dürfe die afrikanischen Staaten nicht mit billigen Agrarprodukten fluten.
Legale Zugangsrouten nach Europa forderte auch der Grünen-Landtagsabgeordnete Daniel Lede Abal, integrationspolitischer Sprecher seiner Fraktion. Die Städte und Gemeinden, zeigte er sich überzeugt, könnten mithilfe des Bundes bei der Unterbringung von Flüchtlingen mehr tun.
Die Tübinger Kundgebung wurde von Henning Zierock und Ali Güler musikalisch begleitet. In Tübingen und in Stuttgart wurde überdies ein Offener Brief der Gesellschaft Kultur des Friedens an die Bundesregierung verlesen, den wir hier in Auszügen dokumentieren:
Offener Brief der Gesellschaft Kultur des Friedens an die Bundesregierung – für eine solidarische und friedliche Flüchtlingspolitik, von mehreren hundert Menschen unterschrieben. Im Textauszug heißt es:
Die Bundesregierung ist mitverantwortlich für die Kriegsflüchtlinge aus destabilisierten Ländern
– auch durch Militärinterventionen (Libyen) und Waffenlieferungen aus EU-Staaten – die ihr Leben auf der Flucht riskieren und dann bei erfolgreicher Ankunft in Europa – oftmals wieder abgeschoben werden.Der Tod von tausenden Menschen im Mittelmeer ist auch das Ergebnis einer verantwortungslosen Außen-Wirtschafts- Kriegs- und Flüchtlingspolitik. Die EU bekämpft nun die Folgen ihrer eigenen Politik.
Wir fordern ein Seenotrettungsprogramm ähnlich „Mare Nostrum“, um Flüchtlinge zu retten und nicht ein militärisches Grenzsicherungsprogramm „Triton“, um Flüchtlinge „abzuwehren“.
Die Bundesregierung muss sich an den (Über) -Lebensinteressen der Menschen orientieren.Die zahlreichen Kriege “ befeuert“ mit Waffenlieferungen, auch aus Deutschland, sind eine Hauptursache für die aktuellen Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Libyen, Eritrea, Somalia, Afghanistan, Irak. Deshalb fordern wir den Stopp sämtlicher Rüstungsexporte!
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