Stuttgart. 750 Teilnehmerinnen an der Zwischenkundgebung, bis zu 1000 bei der Hauptkundgebung am Berliner Platz: Die „Revolutionäre 1. Mai-Demo“ am Freitag in Stuttgart und die sich anschließenden Feste verliefen trotz Dauerregens in guter Stimmung. Die Polizei hielt sich weitgehend zurück. Nervös zeigte sie sich jedoch, als bei der Demo eine rote Fackel abbrannte – und beim Abschluss am Erwin-Schöttle-Platz in Heslach. Dort wurde ein Journalist festgenommen. Außerdem gab es ein kurioses Manöver eines Beamten aus dem Anti-Konflikt-Team: Er beugte sich über die Fahrerin des Lautsprecherwagens und nahm ihr den Zündschlüssel weg. Sie wurde dabei an der Hand verletzt.
Nach Berichten von Augenzeugen verschwand der Anti-Konflikt-Beamte in einem Polizeiwagen. Zehn Minuten später gab er den Schlüssel der Besatzung des mitten auf der Straße stehenden Lautsprecherwagens zurück und entschuldigte sich bei der Fahrerin. Es sei sonst nicht seine Art, so rabiat vorzugehen.
Schon zuvor hatte es nach dem Ende der Demonstration Rangeleien gegeben. Die Polizei stellte sich immer wieder abziehenden TeilnehmerInnen in den Weg, verlangte aber gleichzeitig, sie sollten die Kreuzung frei machen. Bei der Festnahme des Journalisten schienen es die Beamten auf seine Kamera abgesehen zu haben. Er konnte sie jedoch an Umstehende weitergeben. Die Polizei wirft dem Journalisten Körperverletzung vor, weil er nach einem Beamten geschlagen haben soll.
Gewerkschafter warnen vor Angriffen auf den Mindestlohn
Bei der Demo des DGB am frühen Vormittag, ebenfalls im strömenden Regen, stellte der „Antikapitalistische Block“ etwa ein Drittel der Teilnehmerinnen. Etwa 250 Mitglieder und AnhängerInnen linker Gruppen und Gewerkschaftsgliederungen reihten sich in ihn ein. Die Demonstration begann am Marienplatz. Zur Abschlusskundgebung auf dem Markplatz kamen nach Polizeiangaben 2000 DemonstrantInnen. Hauptrednerin war die Verdi-Landesbezirksleiterin Leni Breymaier. Sie forderte, Ausnahmen vom Mindestlohn abzuschaffen, und warnte die Große Koalition davor, ihn zu verschlechtern. Seit seiner Einführung kursiere das Wort „Bürokratiemonster“, obwohl es nur darum gehe, die geleisteten Arbeitszeiten aufzuschreiben.
Breymaier kritisierte vor allem den Deutschen Hotel- und Gaststättenverband Dehoga. Er attackiert die Aufzeichnungspflicht beim Mindestlohn und fordert Ausnahmen vom Arbeitszeitgesetz. Die Gewerkschaften haben vor 35 Jahren den Acht-Stunden-Tag erstritten. Die Gastronomen wollen ihre Beschäftigten jedoch mehrmals in der Woche bis zu zwölf Stunden arbeiten lassen.
Im Grund eine Frage der Verteilung
Die Verdi-Landesleiterin kündigte auch weitere Kita-Streiks und eine harte Tarifauseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst an. Der eigentliche Kampfschauplatz sei jedoch die gerechte Verteilung von Einkommen. Es gebe keinen Grund, dass Beschäftigte im öffentlichen Dienst oder in anderen Branchen nicht den Lohn erhalten, der ihnen zusteht.
Auch Philipp Vollrath, der Vorsitzende des Stuttgarter DGB-Stadtverbands, warnte vor einem Zurück beim Mindestlohn. Er kritisierte außerdem die hohen Mieten in Stuttgart. Normalverdiener müsssten sechzig Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben. Deshalb gebe es viele überschuldete Privatleute.
Spontandemo zum Treffpunkt am Schlossplatz
Eine größere Gruppe der DemoteilnehmerInnen war schon vor dem Marktplatz abgebogen, um durch die Königstraße zum Treffpunkt zur mittlerweile 12. „Revolutionären 1. Mai-Demo“ am Schlossplatz zu ziehen. Es gab dennoch einzelne polizeiliche Vorkontrollen.
Die Polizei verzögerte den Start der Demonstration mit einem quer stehenden Fahrzeug. Per Lautsprecherdurchsage wies sie zweimal darauf hin, dass Transparente nicht verknotet werden dürften. Schließlich setzte sich der von vier Polizeireitern und einem Einsatzwagen angeführte Zug leicht verspätet in Bewegung.
Er passierte den Marktplatz, wo wegen des Regens weit weniger Menschen als erwartet beim DGB-Fest ausharrten. Es gab mehrere Zwischenkundgebungen. In der Silberburgstraße brannte eine rote Fackel ab und hüllte den ganzen Demozug in Rauch. Die Polizei drehte sofort ihre Kamera in Richtung Demonstration. Außerdem versuchten mit Gesichtsmaske und Helm vermummte Polizisten aus Beweissicherungseinheiten mit Handkameras je zu zweit, in den Zug hinein zu filmen. „Wir demonstrieren, wie wir wollen, gegen Überwachung und Kontrollen“ wurde skandiert.
Vermummte Einsatzkräfte mit Helm liefen Spalier
Die Polizei verstärkte ihre Präsenz daraufhin erheblich. Vermummte Einsatzkräfte mit Helm liefen auf beiden Seiten Spalier, mehrere Mannschaftswagen fuhren dem Zug voraus. Am Ende der Silberburgstraße versuchte die Polizei, die Demonstration kurz vor dem Abbiegen in die Tübinger Straße aufzuhalten. Dabei schubste und behinderte sie auch mehrere deutlich als Pressefotografen erkennbare Mitarbeiter der Beobachter News, die ihre Kameras in der Hand hatten.
In der Silberburgstraße zeigte ein Anwohner auf der Höhe der Reinsburgstraße aus dem Fenster heraus den Hitlergruß. Als einige DemonstrantInnen diese Naziprovokation bemerkten, skandierten sie „wir kriegen euch alle“.
Am Stuttgarter Südtor machte die Polizei mit mehreren Ketten plötzlich dicht. Sie begründete die Verzögerung in Lautsprecherdurchsagen damit, dass sie erst den Individualverkehr aus dem Tunnel abfließen lassen wolle. Einige Autofahrer waren längst ausgestiegen, nachdem die Polizei sie angehalten hatte, und wollten die Demonstration beobachten. Sie hechteten zurück hinters Lenkrad.
Polizei lässt den Autofahrern den Vortritt
Einzelne DemoteilnehmerInnen versuchten, trotz der Polizeiblockade die Kreuzung zu überqueren. Sie wurden sofort gestoppt, und es kam zu kleineren Rangeleien. Als die Demonstration fortgesetzt werden konnte und der Zug den Tunnel nach Heslach passierte, wurden oberhalb des Eingangs Knallkörper gezündet.
Offenbar hatte der Halt Aktivisten ermöglicht, dass kleine Silvester-Feuerwerk vorzubereiten. Nach einer weiteren Zwischenkundgebung am Marienplatz blieb es bis zum Abschluss am Erwin-Schöttle-Platz ruhig.
Revolutionäre Demo stellt historische Bezüge her
Inhaltlich knüpfte die Demonstration in diesem Jahr an die lokale Geschichte an. So wurde an den ehemaligen Sitz der lokalen KPD-Zeitung an der Route in der Geissstraße erinnert, der 1994 Ort eines rassistischen Brandanschlags wurde, bei dem sieben Menschen starben und 16 verletzt wurden. In der Liederhalle am Berliner Platz wurde 1907 der „Internationale Sozialisten Kongress“ ausgerichtet, und in der Furtbachstraße hatte Lenin kurzzeitig seinen Wohnsitz.
Die Rednerinnen und Redner der Kundgebungen beschäftigten sich unter anderem mit ausländerfeindlichen Bewegungen wie Pegida oder den Bildungsplangegnern um die AfD. Außerdem ging es um die geplanten Proteste gegen den G7-Gipfel in Elmau und aktuellen Strafverfahren in Suttgart. Weitere Themen waren die Arbeitsbedingungen im Kapitalismus. Nach dem Ende der Demonstration sprach eine Vertreterin der „Revolutionären Aktion Stuttgart“ (RAS) über die kommunistische Internationale Brigade, die an der Verteidigung der autonomen kurdischen Region Rojava beteiligt ist.
Brecht und Scherben im Zentrum Lilo Herrmann
Nach dem langen Marsch durch den Regen waren viele durchnässte TeilnehmerInnen froh, sich in den selbstverwalteten Zentren aufwärmen zu können. Das Linke Zentrum Lilo Herrmann in Heslach feierte ein Internationalistisches Fest drinnen und auf der Straße vor dem Eingang zu seinem Veranstaltungssaal. Unter anderem gab es Zuckerwatte und warmes Essen. Eine lange Schlange bildete sich vor der Ausgabe von veganem Döner im 1. Stock.
Es gab Infostände, und im Saal trat die Cumbia/Reggea-Band Banda Senderos auf. Brecht-Gedichte wurden verlesen, und zum Abschluss machte die Ton-Steine-Scherben-Coverband Einheizfront Stimmung. Es wurde auch getanzt. Die Einheizfront hatte zuvor schon bei der Maifeier in Waiblingen gespielt. Eine abendliche Party schloss sich im Zentrum Lilo Herrmann an.
Filme, Quiz und Musik im Stadtteilzentrum Gasparitsch
Auch im Stuttgarter Osten in der Rotenbergstraße wurde der 1. Mai gefeiert – gemütlich mit warmem Essen und Kuchen, mit Blumensträußchen auf den Tischen, Infoständen und einem Kinderprogramm.
Außerdem gab es im selbstverwalteten Stadtteilzentrum Gasparitsch ein Quiz. Im Untergeschoss wurden Filme gezeigt. Oben und unten gab es Musik. So spielte am späten Nachmittag der Songwriter Sascha Santorineos vor einem Publikum, das sich aus allen Altersgruppen zusammensetzte.
Weitere Bilder von der „Revolutionären 1. Mai-Demo und den anschließenden Feierlichkeiten
Bilder von der DGB-Demonstration
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