Von Anne Hilger – Stuttgart. Was haben Christen und Linke gemein? Das war die Leitfrage beim Empfang der Bundestagsfraktion der Linken zum Auftakt des Evangelischen Kirchentags am Mittwochabend, 3. Juni, im Haus der Wirtschaft in Stuttgart. Beide Seiten – ob vom Gebot der Nächstenliebe oder dem Gedanken der Solidarität motiviert – streben nach einer humanen, gerechten und friedlichen Gesellschaft.
Weltweit kritisieren die Kirchen das kapitalistische System, so der Marburger Sozialethiker Prof. Franz Segbers. „Diese Wirtschaft tötet“, habe Papst Franziskus gesagt. Er werde aber ausgerechnet in Deutschland nicht verstanden.
Es gibt mehr Übereinstimmungen zwischen Christen und Linken als gedacht. Doch es wird im Vorgehen der Kirchen oft nicht deutlich, bedauerte die Stuttgarter Pfarrerin und Stadträtin der Fraktion SÖS-Linke-Plus Guntrun Müller-Enßlin. Christlich und religiös sei nicht gleichbedeutend mit kirchlich.
Zwei Gesprächsrunden im Haus der Wirtschaft
Die Atmosphäre im Haus der Wirtschaft war am frühen Mittwochabend entspannt. Es gab belegte Brötchen und Wein. Das Footprints-Trio machte Salonmusik. Fünfzig bis hundert Gäste dürften im Lauf des Abends zusammengekommen sein. Die Linksfraktion hatte nicht breit für ihren Kirchentagsempfang geworben.
Christine Buchholz, religionspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, moderierte zwei Talkrunden. Zu ihren Gesprächspartnern gehörte der Bundesvorsitzende der Linken Bernd Riexinger. Bis zu seiner Wahl war er Stuttgarter Verdi-Bezirkssekretär. Im Stuttgarter Haus der Wirtschaft, das unmittelbar neben dem DGB-Haus liegt, hatte er ein Heimspiel.
Pegida hinterließ bei Muslimen in Dresden Spuren
Viele Menschen zahlten einen hohen Preis für diese Wirtschaftsordnung, eröffnete Buchholz die erste Runde, in der es hauptsächlich um Krieg, Flucht und Vertreibung ging. Sie hatte Khaldun al Saadi vom Islamischen Zentrum Dresden eingeladen. Die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung ist abgeflacht, berichtete er. Doch den durch sie verunsicherten Muslimen gehe es nur bedingt besser, „die Anspannung ist noch nicht weg“.
Viele Gemeindemitglieder überlegten wegzuziehen, berichtete Khaldun al Saadi, einige hätten die Stadt bereits verlassen. Doch es gebe nicht nur dunkle Seiten, sondern auch Initiativen, die Flüchtlinge unterstützen. An ihnen beteiligten sich auch die christlichen Kirchen. Die Moschee habe nur wenig Ressourcen. Khaldun al Saadi hofft, dass die Stimmenzahl der Pegida-Kandidatin bei der bevorstehenden OB-Wahl in Dresden zeigen wird, dass die Bewegung keinen großen Rückhalt hat.
Noch lang keine transparente Rüstungsexportpolitik
Tim Kuschnerus ist evangelischer Geschäftsführer der Gemeinsamen Konferenz Kirchenentwicklung, die hauptsächlich von den beiden großen Kirchen getragen wird. Sie habe große Gemeinsamkeiten mit der Linken, besonders beim Thema Rüstungsexporte. Die Konferenz veröffentlicht seit 1997 Rüstungsexportberichte.
Es sei hilfreich, dass die Linksfraktion immer wieder parlamentarische Anfragen zu dem Thema stelle. Von einer „transparenten und restriktiven Rüstungsexportpolitik“ sei man dennoch weit entfernt. Vom Kirchentag, bekannte Kuschnerus, hätte er sich mehr Veranstaltungen zu den Themen Frieden, Rüstung und Flüchtlingspolitik gewünscht.
Gerechte Verhältnisse hier und heute
„Damit wir klug werden“, ist das Motto des Kirchentags. Der gesamte Psalm 90.12, dem es entnommen ist, heißt „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, sagte Kuschnerus. Bernd Riexinger knüpfte daran an: Gerade, da das Leben endlich ist, wolle die Linke Verhältnisse schaffen, in denen jeder seinen eigenen Lebensentwurf verwirklichen kann. Doch in Zeiten von Krieg und Vertreibung sei man davon weit entfernt.
Aus Sicht des früheren Gewerkschafters hat die Fllüchtlingsfrage zwei Seiten. „Wir sind eines der reichsten Länder der Erde und können es uns ohne Probleme leisten, Flüchtlinge aufzunehmen. Von den weltweit 50 Millionen kommen die wenigsten zu uns.“
Riexinger: Kein Krieg gegen Flüchtlinge!
Er könne die Bilder von den Toten im Mittelmeer nicht mehr ertragen, sagte Riexinger. „Wir sollten keinen Krieg gegen Flüchtlinge führen. Wir sollten überhaupt keine Kriege führen.“ Bewegungen wie Pegida entstünden, weil es für einige leichter sei, nach unten zu treten, „als denen oben zu sagen, was man nicht gut findet“ – eine „typisch rechte Positionierung“.
Die andere Ebene des Themas sei die Frage nach den Fluchtursachen. Ganz oben auf der Liste stehe Krieg – absurd, dass Deutschland weltweit dritt- oder viertgrößter Rüstungsexporteur sei: „Wir exportieren Waffen und bekommen Flüchtlinge zurück.“
Eine weitere Kriegsursache seien imperialistische Interessen. Wo völkerrechtswidrige Kriege geführt wurden, zerfielen jetzt ganze Staaten. Das führe zu Terrorismus und Flucht. Und schließlich gebe es noch Armut und Elend als Folge einer unsozialen Politik: „Wir müssen um eine gerechte Wirtschaftsordnung ringen“, sagte Riexinger.
Große Schnittmenge zwischen Christen und Linken
Am diese Forderung knüpfte auch die zweite Gesprächsrunde an. „Die Themen, die die Religion hat, sind links“, sagte die evangelische Theologin Guntrun Müller-Enßlin, die in der Bewegung gegen Stuttgart 21 aktiv ist. Unter deren Anhängern befanden sich nach ihrer Beobachtung viele christlich und religiös motivierte Menschen – besonders im Protestsommer 2010. Da kamen manchmal über tausend Gläubige zu den Freiluft-Gottesdiensten, eigentlich für jeden Pfarrer ein Traum.
„Jesus hatte eine kritische Einstellung zum Reichtum und der Macht des Geldes. Er hat eine radikalpazifistische Haltung an den Tag gelegt“, so Müller-Enßlin. Die Schnittmenge zwischen Christen und Linken sei groß. Allerdings habe sie im Zusammenhang mit dem Protest gegen Stuttgart 21 ihre Kirche als sehr ängstlich erlebt, bedauerte die Theologin.
Wenn der Kirchentag „nicht als überflüssige Redeveranstaltung dastehen“ wolle, müssten zumindest Impulse sichtbar werden, dass die Kirche aus dem Geschehen lernen will. Die Kundgebung, zu der die Theologinnen und Theologen gegen Stuttgart 21 für Samstag, 6. Juni, 14 Uhr vor dem Hauptbahnhof aufrufen, sei jedoch keine offizielle Kirchentags-Veranstaltung.
„Diese Wirtschaft tötet“
Der altkatholische Theologe und Sozialethiker Prof. Franz Segbers aus Marburg hat die hessische AG „Christinnen und Christen in der Linken“ mitgegründet. Zusammen mit Simon Wiesgickl hat Segbers einen Sammelband „Diese Wirtschaft tötet (Papst Franziskus) – Kirchen gemeinsam gegen Kapitalismus“ herausgegeben. Er wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht und wird beim Kirchentag im Gespräch mit dem Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow vorgestellt.
Das Buch versammelt erstmals in deutscher Sprache Autoren einer neuen weltweiten Ökumene aus Christentum, Judentum, Islam und Buddhismus sowie aus Europa, den USA, der Schweiz, Kuba, Südkorea und Brasilien. Sie verkörperten einen breiten, in Deutschland kaum bekannten weltweiten Konsens der Kirchen und Religionen über die tödlichen Triebkräfte des Kapitalismus, sagte Segbers.
Weltweit stellen Kirchen die Systemfrage
Der Buchtitel ist ein Zitat von Papst Franziskus, der aus Argentinien Erfahrungen eines destruktiven, tödlichen Kapitalismus mitbringt und kritisiert, wir lebten in einem Imperium des Geldes und Geld sei ein Fetisch: „Die tatsächliche Religion dieser Gesellschaft ist die Verehrung eines destruktiven Götzen.“ Es gab in der Geschichte weltweit keine Religion, die sich so weit ausgebreitet habe wie der Kapitalismus, sagte Segbers.
Alle großen Medien in Deutschland von der „Faz“ bis zur „Süddeutschen“ wiesen diese Sicht der Dinge vehement zurück. Doch die Mehrheit der Weltbevölkerung bringe mit der Stimme der Kirchen die Systemfrage auf die Tagesordnung. Dass es hierzulande anders ist, führte Segbers auf einen „Wohlfühlkapitalismus“ in Deutschland zurück, der bei einer „imperialen Lebensweise negative Folgen exkanalisiert“, also ins Ausland verlagert. Allerdings, wandte Moderatorin Christine Buchholz ein, könne sich „auch ein großer Teil dieser Gesellschaft nicht wohlfühlen mit diesem Kapitalismus“.
Weitere Veranstaltungen der Linken beim Kirchentag:
Donnerstag, 4. Juni 2015: „Frieden wagen in neuen Zeiten der Abschreckung“ mit Bodo Ramelow, Renke Brahms, Paul Russmann
um 15.30 – 16.15 Uhr mit Bodo Ramelow, Renke Brahms (Friedenspolitischer Sprecher der EKD), Paul Russmann (Ohne Rüstung leben) auf dem Markt der Möglichkeiten, Bühne „MarktPlatz 1“. Dorthin kommt man allerdings nur mit einem Tagesticket für den Kirchentag.
Donnerstag, 4. Juni 2015: Kinderarmut lässt sich abschaffen – Kindergrundsicherung und Kindergrundeinkommen
Diskussion / Vortrag mit Regina Dolores Stieler-Hinz, Prof. em. Dr. Franz Segbers, Birgit Löwe; Moderation: Ronald Blaschke
um 19.30 Uhr bis 21.30 Uhr im Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Ludwigstraße 73a in Stutttgart.
Freitag, 5. Juni 2015: „Diese Wirtschaft tötet“. Kirchen gemeinsam gegen Kapitalismus – Vorstellung des Buchs durch Ministerpräsident Bodo Ramelow – Diskussionsrunde mit Dr. Wolfgang Gern, Conny Hildebrandt, Prof. Franz Segbers
um 11.15 – 12.45 Uhr im Ökumenesaal der Alt-Katholischen Gemeinde am Katharinenplatz 5 in Stuttgart
Freitag, 5. Juni 2015: Kapitalismus als Religion Ein gesellschafts- und kirchenkritischer Diskurs mit Claudia Haydt und anderen.
Mit Prof. Ulrich Duchrow, Prof. Franz Segbers, Prof. Michael Brie, Claudia Haydt
um 14.30 Uhr bis 16 Uhr, Gemeindehaus/Stadtteilhaus, Christophstraße 34 in Stuttgart
Freitag, 5. Juni 2015: Feindbild Islam: Kampf der Kulturen oder Rassismus? Wie können wir wachsender Islamfeindlichkeit und Antisemitismus entgegenwirken? mit Christine Buchholz, Claudia Haydt und anderen
Mit Ahmed Aweimer, Iddo Bet-Hallahmi, Jürgen Klute, Herne (angefragt); Christine Buchholz, religionspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
um 18.30 Uhr bis 21 Uhr im RLS Regionalbüro Stuttgart, Ludwigstraße 73a in Stuttgart
Samstag, 6. Juni 2015:– Unheilige Allianz – Das Geflecht von christlichen Fundamentalisten und politisch Rechten am Beispiel des Widerstands gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg
Diskussion / Vortrag mit Marcus Felix (GEW), Andreas Kemper, Janka Kluge (VVN-BdA); Moderation: Christoph Ozasek
um 10 Uhr bis 12 Uhr, Weissenburg e.V. , Weißenburgstraße 28A in Stuttgart
Samstag, 6. Juni 2015: „Entrüstet euch“ – für ein Menschenrecht auf Frieden“ mit Konstantin Wecker, Margot Käßmann und Heike Hänsel
Konzert/Lesung Konstantin Wecker, Margot Käßmann, Heike Hänsel
um 20 Uhr, Martinskirche, Oberdorfplatz 1 in Stuttgart-
Möhringen
Ein weiterer Veranstaltungstipp:
Freitag, 5. Juni 2015: Diskussion unter dem Motto „Schützt der Verfassungsschutz die Demokratie? Abschied von einer Illusion“ . Zur Einführung hält Hans Leyendecker („Süddeutsche Zeitung“) ein Impulsreferat. Es diskutieren Clemens Binninger (MdB CDU, Obmann im NSU-Untersuchungsauschuss), Dorothea Marx (MdL, ehemalige Vorsitzende des NSU-Untersuchungsauschusses im Landtag von Thüringen), Winfried Ridder (Politologe und ehemaliger Referatsleiter beim Bundesamt für Verfassungsschutz) und Andrea Röppke (Politologin und Journalistin mit dem Schwerpunkt Neonazis). Organisiert wird die Veranstaltung von der BAG Kirche und Rechtsextremismus,der Landeszentrale für politische Bildung (Brandenburg) Campact und den Anstiftern
um 11 Uhr – 13 Uhr in der Straßenbahnwelt, Veielbrunnenweg in Stuttgart-Bad Cannstatt
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