Von Leonhard Simon – München. Mit lautem Quietschen stoppt der Zug, leise zischen die Türen. Kaum dass die ersten herausstolpern, ertönt ein lautes Knipsen ungezählter Kameras. Grelles Licht, verunsichert steigen die ersten aus, Baby auf dem Arm, eine kleine Plastiktüte in der Hand. Frauen mit dicken Bäuchen, schwanger, alte Menschen auf Krücken, Jugendliche, Kinder. Schon werden sie bestürmt, verzweifelt suchen Mikros nach Menschen, die ein paar Brocken Englisch sprechen können. Szenen der letzten Tage auf dem Münchner Hauptbahnhof.
Es ist eng, es herrscht leichtes Chaos, niemand weiß genau wohin, nur nach vorne irgendwie. Doch da ist schon gleich wieder Stop. Eine enge Polizeikette, martialisch aufgebaut, trennt Reisende und Refugees. Alles was irgendwie eine dunkle Hautfarbe hat, ist potenziell verdächtig. Alles wird kontrolliert. Kurz wird es laut, es werden Anweisungen gebrüllt, nicht alle verstehen sofort, erst muss mühsam übersetzt werden. Kurzes Lächeln, verständnisvolles Lächeln, wenn verstanden wird. In der Luft die Stimmen von hunderten Menschen, die gerade den Münchner Hauptbahnhof, und damit das Ziel ihrer Reise erreicht haben.
Die HelferInnen organisieren sich spontan
Auf der anderen Seite der Absperrung warten genauso viele Menschen – gespannt was passiert, wer kommt. Manche haben Schilder gemalt, „Welcome“ auf Englisch, auf Arabisch, auf Kurdisch, und in weiteren Sprachen. Ganz spontan haben sie sich zusammengefunden, sind gerade vorbeigekommen, auf dem Weg nach Hause gewesen. Jetzt stehen sie da am Gleis und warten auf Menschen, von denen sie zuvor immer in den Nachrichten gehört haben. Von Menschen, die gerade eben noch zwischen Trümmern im Auslandsteil der Zeitung lebten, gerade aus dem Mittelmeer gezogen wurden, gerade noch irgendwo zwischen Mazedonien und Ungarn auf Bahnschienen wanderten. Plötzlich sind sie lebendig geworden.
Schon seit drei Monaten auf der Flucht
Später in einer Nebenhalle des Hauptbahnhofs. Hinter Gittern haben sie sich niedergelassen, erschöpft die Frauen und die Alten, sitzen sie da auf dem kalten Steinboden. Als ob nichts gewesen wäre, tollen Kinder auf dem Boden, jagen Luftballons hinterher. Freudiges Kreischen hallt immer wieder durch die hohen Hallen.
An einem der Gitter steht Nazar, 16 Jahre alt, gebrochene Englisch, er übersetzt. Seine Familie, der Vater, die Mutter, die Zwillinge und das Baby, wohl auf der Flucht geboren. Seit drei Monaten sind sie unterwegs, haben 15 000 Euro für die Flucht gezahlt. Sie kommen aus Afghanistan, Kabul. Einem der Zwillinge haben die Taliban den kleinen Finger abgeschnitten. Er ist erst acht Jahre alt. Sie wurden immer wieder bedroht, sahen keine Perspektive mehr.
Ein Regenschirm für jeden Flüchtling
Es ist dunkel, der Bahnhofsvorplatz, zwischen den Taxis und den Flughafenbussen steht ein einzelner Sanitätswagen. Die Halle darf niemand unbegleitet verlassen, selbst die Toiletten sind außerhalb. Mittlerweile haben die ersten UnterstützerInnen angefangen, Lebensmittel und Wasser einzukaufen, von überallher wird herbeigeschafft. Stolz berichten sie von Fremden oder Geschäftsleuten, die ihnen einfach so mehrere hundert Euro in die Hand gedrückt haben, um genug kaufen zu können.
Am nächsten Tag ein ähnliches Bild. Viele haben die Nacht über am Hauptbahnhof verbracht, immer wieder die ankommenden Flüchtlinge versorgt. Auch Leonie Kaufhold ist seit vielen Stunden im Einsatz. Jetzt wo es angefangen hat zu regnen, steht sie mit einem riesigen rot-weißen Regenschirm vor der Halle. Allen Refugees, die die Halle verlassen dürfen, drückt sie einen kleinen Regenschirm in die Hand. Über Facebook hat sie von den Ankommenden erfahren. Sie sagt, ihr sei bewusst, wie krass die Situation ist und wie wichtig es ist, dass langsam alle kapieren, was eigentlich passiert, am Hauptbahnhof, in Europa. „An erster Stelle steht das Leben der Menschen, dass versucht wird, ein gutes Leben zu schaffen. Sie sind doch einfach auch nur Menschen.“
Auch Nazis tauchen am Bahnhof auf
Das Bild im Vergleich zum Vortag hat sich dramatisch geändert. Türme aus Decken, Windeln und Gemüsepaletten bauen sich vor den Säulen der Halle auf. Eine kleine Küchencrew hat sich gebildet, es gibt Reis und heiße Suppe, aus einem großen Kessel wird unablässig Tee in Plastikbecher gefüllt und verteilt. Mittlerweile wurde auch der Vorplatz von Taxis befreit, die Feuerwehr hat Zelte aufgebaut, es ist nun mehr medizinisches Personal vor Ort. Doch es gibt auch Unmut. Die Polizei hat jeden der Helfer kontrolliert und auf eine Liste setzen lassen. Einige wurde sogar wieder aus der Absperrung geschickt. Zu den Refugees dürfen mittlerweile nur noch speziell markierte Menschen.
Immer wieder machen die Gerüchte die Runde, Nazis seien unterwegs. Am Vortag ist eine Gruppe von fünf Rechten aufgetaucht, sie schreien people of color mit „go home“ an, pöbeln gegen „Volksverräter“. Die Polizei lässt lange gewähren, es dauert lange bis die Gruppe abzieht. Als sie nach ein paar Stunden wieder kommt, etwas angetrunken nun, wird ein Platzverbot ausgesprochen.
Tränen des Leids und Tränen des Glücks
Im Laufe der zweiten Nacht kommen immer weniger Menschen an, es wird wieder etwas ruhiger, die Kameras verschwinden. Was bleibt sind die unbeschreiblichen Momente, wenn Menschen erzählen, wie schrecklich die Situation in Ungarn war, und in Tränen ausbrechen, wenn sie ihr Glück beschreiben wollen, endlich hier zu sein.
Es bleibt aber auch das Wissen, dass die Menschen, die die letzten Tage in München angekommen sind, nicht die letzten sein werden. Dass viele andere nicht das Glück haben, sofort mit Decken und warmen Speisen empfangen zu werden. Das Wissen, dass bald wieder der triste Alltag aus Schikane und Langeweile den Alltag dieser Menschen bestimmen wird.
Wenn sie denn nicht wieder der Taliban ihre Finger opfern müssen, weil hier kein Platz mehr war.
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