Rottenburg. Ein ungewöhnliches Bild für die 42 000-Einwohner-Stadt Rottenburg: Rund 300 meist junge AntifaschistInnen zogen am Dienstagabend, 8. September, mit Parolen, Transparenten und roten Fahnen durch die Straßen, um gegen rechte Gewalt zu protestieren und die freundliche Aufnahme von Flüchtlingen zu fordern. In den frühen Morgenstunden des Vortags hatte dort ein Brand ein Asylheim zerstört, in dem 84 Menschen lebten (wir berichteten).
Bei dem Brand wurden sechs Menschen verletzt. Seine Ursache ist noch unklar. Es sieht jedoch eher danach aus, dass es sich nicht um einen Brandanschlag handelt. Der Polizei zufolge brach das Feuer im Treppenhaus des zweistöckigen Containerbaus aus. Da die Brandmelder untereinander verbunden waren, schlug der Alarm gehen zwei Uhr nachts in allen Räumen gleichzeitig an, so dass sich die Flüchtlinge durch die Fenster und über eine Außentreppe selbst in Sicherheit bringen konnten.
Zu der Demonstration hatte die Antifaschistische Aktion (Aufbau) Tübingen aufgerufen. Auch die Reutlinger Galerie Kulturschock Zelle machte in sozialen Netzwerken Werbung für sie.
Über die Eberle-Brücke zum Marktplatz
Wegen der noch unklaren Brandursache schlossen sich dem Demo-Aufruf keine örtlichen Initiativen an. Allerdings fanden sich einzelne Kommunalpolitiker unter den DemonstrantInnen – so etwa der Rottenburger Stadtrat und Kreisrat der Linken Emanuel Peter oder die Tübinger SPD-Kreisrätin Erika Braungardt-Friedrichs.
Am Dienstagabend waren nur wenige PassantInnen in der Rottenburger Innenstadt unterwegs. Die meisten schauten verständnislos und schienen von der Demonstration ebenso wie die wenigen Gäste der Straßencafés eher irritiert. Die AntifaschistInnen, unter ihnen auch viele aus dem Stuttgarter Raum, wurden dennoch nicht unfreundlich aufgenommen. Autofahrer winkten, einige Anwohnerinnen spendeten aus Fenstern heraus Beifall, einige schlossen sich auf dem Weg durch die Bahnhofstraße, über die Josef-Eberle-Brücke und den Metzelplatz zum Marktplatz an.
Nur wenige Polizisten begleiteten die Demo
„Say it loud, say it clear, refugees are welcome here“, wurde immer wieder gerufen – aber auch „Nazis morden, der Staat schiebt ab, das ist das gleiche Rassistenpack“. Die Polizei war nur mit wenigen Beamten vor Ort, um den Verkehr zu regeln. Die örtliche Zeitung „Rottenburger Post“, eine Lokalausgabe des in Tübingen erscheinenden „Schwäbischen Tagblatts“ berichtet jedoch, weitere Einsatzkräfte hätten sich auf dem Gelände des Schlachthofs in Bereitschaft gehalten.
Die den Zug begleitenden, freundlich und souverän auftretenden Polizisten zeigten sich jedoch uns gegenüber überrascht und erfreut über die Disziplin der Demonstrierenden. Den Beamten missfielen lediglich Aufkleber, die auf Verkehrsschildern aufgebracht wurden. Die Zahl der Versamelten schätzte die Polizei auf 200. Nach unserer Zählung waren es jedoch bei der Abschlusskundgebung auf dem Marktplatz deutlich mehr. Der Rückweg der DemonstrantInnen zum Bahnhof führte – ebenfalls ohne Zwischenfälle – über den Eugen-Bolz-Platz und die Sprollstraße.
In Rottenburg klare Kante gegen Rechts
Für die Antifaschistische Aktion (Aufbau) Tübingen sprach zunächst Thorben Maier. Er erinnerte daran, dass ein Neonazi ein Jahr zuvor zwei Frauen aus Gambia geschlagen und verletzt hatte. Darauf bildete sich in der Stadt ein breites bürgerliches Bündnis gegen Rechts. „Unsere Solidarität gilt allen, die Tag für Tag von Angriffen von FaschistInnen und RassistInnen bedroht werden“, sagte Maier. Er erinnerte auch an Anschläge auf Flüchtlingesheime in Remchingen, Weissach im Tal und Neckargemünd. Überdies wandte er sich gegen die staatliche Abschiebepraxis. Auch Jürgen Böck warnte vor der rechten Gefahr und rief dazu auf, sich gegen sie zusammenzuschließen (siehe unten die Rede der Antifaschistischen Aktion).
Sollte es sich in Rottenburg tatsächlich um einen Anschlag auf ein bewohntes Flüchtlingsheim handeln, müsse man sogar von Mordabsicht ausgehen, sagte Katharina Bergmann von der Antifaschistischen Aktion Stuttgart und Region AABS. „Zeigt den Rechten klar und entschlossen, dass sie und ihre Hetze weder in Rottenburg noch sonst irgendwo etwas zu suchen haben“, forderte sie die ZuhörerInnen auf.
Kopp-Verlag verbreitet rassistische Lektüre
Ein weiterer Redner thematisierte den in Rottenburg ansässigen, rechtslastigen Kopp-Verlag. Einer seiner Autoren hetzte, es handle sich bei der „Flüchtlingswelle“ um eine Invasion und den „Verteidigungsfall“. Das rief auch die örtliche SPD auf den Plan. Doch wie es um den Kopp-Verlag bestellt sei, habe man auch schon vorher wissen können, sagte der Redner.
Der Verlag sei nicht rassistisch, bringe aber rassistische Lektüre heraus. Auf seiner Internet-Plattform werde rassistisch, antifeministisch, homophob und transphob gehetzt. Lange Zeit habe der Stadtrat Albert Bodenmiller mit seinem Kampf gegen die Veröffentlichungen des Verlags allein dagestanden. Nun erhalte er endlich Unterstützung.
Dublin-Abkommen aussetzen, Fluchtwege legalisieren
Paul Rodermund von der SDAJ schlug als letzter Redner einen weiten Bogen. Er sprach vor allem über die Fluchtursachen, aber auch über soziale Missstände hierzulande. Sie dürften nicht den Flüchtlingen in die Schuhe geschoben werden. Rodermund kritisierte, wie schlecht viele Flüchtlinge in Turnhallen unterbracht seien – das erinnere an Krisengebiete. Es sei aber gut, dass sich in München und Berlin, aber auch in Tübingen oder Rottenburg viele für die Menschen einsetzten. Schuld an der Situation trügen aber die Herrschenden in den jeweiligen Ländern und ihre internationalen Unterstützer, nicht die Flüchtlinge. „Wir sind hier, weil unsere Länder zerstört werden“, sagten viele.
Er forderte, sofort Notgelder für die Kommunen zur Unterstützung der Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen, geflüchtete Kinder in Schulen und Kindergärten einzugliedern, außerdem Anschläge konsequent aufzuklären und die Täter zu bestrafen. Das Dublin-Abkommen müsse ausgesetzt werden. Die Grenzen müssten geöffnet und die Fluchtwege legalisiert werden. Zuletzt verlangte Rodermund ein Ende aller Auslandseinsätze der Bundeswehr.
Nach Abschluss der Kundgebung auf dem Marktplatz formierte sich spontan ein Demonstrationszug, welcher durch die Innenstadt wieder zum Bahnhof zog.
Siehe auch „Schutz der Asylunterkünfte geht alle an“
Die Rede der Antifaschistischen Aktion [Aufbau] Tübingen im Wortlaut:
Liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
Bereits vor knapp einem Jahr haben wir uns hier zusammengefunden, weil der Neonazi Jan Biering zwei Frauen aus Gambia verprügelt hat. Damals waren wir wütend und bestürzt darüber, dass so etwas überhaupt passiert.
Heute lesen wir jeden Tag von einer neuen brennenden Geflüchtetenunterkunft irgendwo in der BRD. Und trotzdem sind wir jedes mal bestürzt wenn es erneut passiert und fühlen uns ohnmächtig, wissen nicht wie wir handeln sollen. Wir können nicht vorhersehen wann und wo es passiert.
ABER, und das muss die Aufgabe aller sein, wir müssen spätestens danach alles dafür tun dass den Betroffenen geholfen wird! Unsere Solidarität gilt all jenen die Tag für Tag von Angriffen durch Rassisten und Faschisten bedroht sind.
Wir sind heute hier weil wir ein deutliches Zeichen gegen rechte Gewalt und ihre perfiden Auswüchse setzen wollen: Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte!!
Aber nicht nur hier in Rottenburg gibt es sie! Gestern Nacht in Eppingen bei Heilbronn, Remchingen, Weißach, Heppenheim, Wehr am Rhein, Balingen um nur einige aus der Gegend in der letzten Zeit zu nennen! Immer wieder kommt es auch zu progromartigen Zusammenrottungen von sich als „besorgte Bürger“ tarnenden Faschisten und Rassisten wie in Heidenau. Überall dort, wo es darum geht etwas gegen Flüchtlinge zu tun, ist die NPD mit ihrer Hetze nicht weit.
Beispielsweise in Meßstetten. Im August letzten Jahres kündigte die NPD an, sich an einer Informationsveranstaltung zur damals geplanten Landeserstaufnahmestelle, kurz LEA, zu beteiligen. Diese gibt es nun seit November 2014. Genau dort will die NPD jetzt eine Landesgeschäftsstelle einrichten. Und nicht nur das. Das Objekt der Begierde, der Gasthof „Waldhorn“, befindet sich keine 10 Gehminuten von der LEA entfernt.
Den Kauf gilt es mit allen Mitteln zu verhindern!
Wie die Geschichte zeigt können wir uns beim Kampf gegen Rechts nicht auf staatliche Stellen und Behörden verlassen. Nach den Brandanschlägen auf Geflüchtetenunterkünfte Anfang der 90er Jahre wurde das Asylrecht verschärft. Durch eine erneute Änderung im Juli diesen Jahres werden nahezu alle Geflüchteten zu Kriminellen gemacht.
Rassismus ist fest der bürgerlichen Mitte verankert!
Dies zeigt die aktuelle Asyldebatte bei der gute stichhaltige Argumente für die Aufnahme von Geflüchteten mit Stammtischparolen a la „Das Boot ist voll!“ beantwortet werden. Auch Politiker der sogenannten „etablierten Parteien“ tragen mit Aussagen in „Ein Volk hält auch nicht alles aus“-Manier ihren Teil zur Stimmungsmache gegen Geflüchtete bei. Denn mit der selben Rhetorik arbeiten auch AFD NPD und PEGIDA. Das alles spielt den rechten Hetzern natürlich in die Hände und bestätigt sie in ihrem Handeln.
Rassismus ist Teil des staatlichen Handelns!
So wird derzeit vor allem darüber diskutiert wie „unechte Flüchtlinge“ schneller abgeschoben werden können. Allein diese Unterscheidung zeigt dies. Denn Menschen flüchten nicht einfach so und lassen ihr vertrautes Umfeld zurück. Alle Menschen fliehen aus großer materieller Not, vor Verfolgung oder Unterdrückung. Deshalb lehnen wir die staatliche Abschiebepraxis in Gänze ab.
Rassismus dient zur Spaltung der Gesellschaft!
Auch in der aktuell aufkeimenden Debatte um Geflüchtete, wird Rassismus oft als Problem der „Dummen und Einfältigen“ inszeniert. Plumpeste Hetze und offen menschenverachtende Formulierungen, in denen sich einige, zum Beispiel via Facebook, die kollektive Vernichtung aller Flüchtlinge herbei wünschen, laden tatsächlich dazu ein, die Verfasser*innen in den Zustand geistiger Umnachtung zu rücken!
Freilich ohne dabei die Urheber*innen solcher Aussagen von ihrer Verantwortlichkeit für den menschenfeindlichen Inhalt frei zu sprechen, ist die Ursache für solchen Rassismus jedoch nicht nur im vermeintlich niedrigen Intellekt derer zu suchen, die solches Gedankengut in sich tragen und äußern.
Die Beurteilung sozialer Gruppen orientiert sich heute vermehrt an den Maßstäben kapitalistischer Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz, welche in der Konsequenz die Gleichwertigkeit aller Menschen in Frage stellt und sozialer Spaltung und gesellschaftlicher Desintegration Vorschub leistet.
Demnach überrascht es uns nicht, dass vor allem die sogenannte bürgerliche Mittelschicht anfällig für Rechtspopulismus und Rassismus ist. Im Zuge der sich verschärfenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten, fungiert Rassismus als Instrument der Abgrenzung. Gemäß der Doktrin: „Nach oben buckeln und nach unten treten“ dient rassistische Ideologie zur Abwertung gesellschaftlicher Gruppen mit niederem sozialen Status. Dieser Dynamik folgend, ist es die „Mitte der Gesellschaft“, in der Rassismus stark verankert ist und als Kompensation für die immer drohende Gefahr des sozioökonomischen Abstiegs herhalten muss.
Rassistische Mechanismen und Praktiken einfach nur zu benennen reicht uns aber nicht aus! Es ist für uns wichtig, mit Euch gemeinsam, den Widerstand dagegen zu organisieren und unsere Solidarität mit den Betroffenen auszudrücken.
Wir müssen uns vernetzen, eigene Strukturen aufbauen und unsere Mittel im Kampf gegen Faschisten und Rassisten selbst wählen. Es ist an uns Antifaschistinnen und Antifaschisten sich zusammenzuschließen und zu organisieren damit wir gemeinsam und solidarisch die drohende Gefahr von Rechts abwehren können. Durch das gemeinsame entwickeln einer zeitgemäßen Theorie und Praxis können wir als kämpferische antifaschistische Bewegung erstarken und so den Einfluss der reaktionären Kräfte in dieser Gesellschaft zurückdrängen.
Im Kampf gegen Faschismus und Rassismus berufen wir uns deshalb auf unsere Gemeinsamkeiten! Denn es ist uns wichtig, den antifaschistischen Widerstand auf eine möglichst breite Basis zu stellen und sich nicht spalten zu lassen!
Bei rechten Aktitväten gilt:
Kein Vergeben – Kein Vergessen!
Solidarität mit allen Betroffenen – Refugees Welcome!
Die Antifaschistische Aktion aufbauen!
Die Rede der SDAJ im Wortlaut:
Tausende Menschen sind im ersten Halbjahr 2015 beim Versuch gestorben, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen bei dem Versuch Armut, Verfolgung oder Krieg zu entkommen. Diejenigen, die es nach Deutschland schaffen, werden in Turnhallen und Zeltstädten untergebracht. Menschenrechtsorganisationen berichten von katastrophalen Zuständen dort: Kaum medizinische Versorgung, schlechte Hygiene und zu wenig Nahrung. Schaut man sich Bilder dieser Unterbringungen an, denkt man an Krisengebiete.
Hilfsbereitschaft jetzt notwendig
Seit zwei Tagen wird am Münchner Hauptbahnhof sichtbar, was längst schon Realität ist. Tausende Flüchtlinge treffen mit Zügen aus Ungarn und Österreich ein. Für alle Augen sichtbar, nicht mehr wie bisher als Einzelne in der anonymen Masse strömen sie aus den Zügen in die Großstadt. Die Münchner Bevölkerung reagiert mit enormer Hilfsbereitschaft; Essensausgaben und Willkommensgesten werden organisiert. Auch in Berlin warten 1.000 Flüchtende derzeit auf ihre Registrierung.) Einige schlafen seit zwei Wochen draußen auf dem Boden vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo). BerlinerInnen organisieren Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und Freizeitprogramm für Kinder und Jugendliche. Es ist gut und wichtig, dass so viele Menschen helfen. Es ist beeindruckend wie viele sich real für eine Willkommenskultur einsetzen, eine Willkommenskultur, die bei PolitikerInnen in der Regel nur leere Phrase ist.
Flüchtende werden in Turnhallen untergebracht, während in Städten ganze Stadtteile leer stehen. Während am Münchner Hauptbahnhof ein Ausnahmezustand mit chaotisch selbstorganisierter Solidarität zugelassen wird, um tausende Flüchtlinge mit den scheinbar letzten Mitteln und privaten Spenden zu versorgen, erwartet die Großstadt in wenigen Wochen über sechs Millionen Gäste zum Oktoberfest. Für das Oktoberfest werden viele öffentliche Gelder ausgegeben und hohe private Gewinne eingefahren. Für die ankommenden Flüchtlinge ist das nicht der Fall. Sie sind auf die unentgeltliche Hilfe Ehrenamtlicher angewiesen. Sogar die Münchner Polizei und die Stadt haben zur freiwilligen Hilfe aufgerufen. Das jedoch nimmt diesen Staat nicht aus der Verantwortung sich um diese gesellschaftliche Aufgabe zu kümmern.
In Ingolstadt wird auf Betreiben der bayerischen CSU-Regierung stattdessen ein Lager gebaut, in dem ausschließlich Menschen aus Südosteuropa untergebracht werden sollen. Weil sie „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus dem Ostbalkan seien, also vor Armut und Hunger fliehen, hätten sie kein Recht in Deutschland zu sein. Die Einrichtung ist so konzipiert, dass der Abschiebeprozess innerhalb eines Monats vonstatten geht. Bund und Länder drücken sich davor, den Kommunen zu helfen ausreichend qualifiziertes Personal für die Betreuung und Versorgung der Flüchtenden einzustellen. Stattdessen wird billigend in Kauf genommen, dass sich viele ehrlich helfende Hände freiwillig und ehrenamtlich aufreiben um Hilfe zu leisten. Aus Sicht der Herrschenden sind traumatisierte, kriegsgeschädigte und fluchtgezeichnete Menschen es wohl nicht wert von entlohnten ausgebildeten Fachkräften betreut zu werden.
Niemand flüchtet freiwillig!
Das Vorurteil des „Wirtschaftsflüchtlings“ ist noch immer tief verankert; hartnäckig hält sich das Gerücht, Flüchtlinge bekämen bis zu 8.000 Euro bei ihrer Ankunft in Deutschland. Die Realität sieht anders aus: Flüchtlinge leben in Deutschland meist unter unzureichenden Bedingungen auf engstem Raum, dürfen sich nicht frei bewegen, und ihnen wird verboten zu arbeiten. Ob sie wollen oder nicht, sie sind auf mickrige staatliche Unterstützung angewiesen und haben kein Chance sich eine Perspektive aufzubauen. Hinzu kommt die permanente Angst, abgeschoben zu werden.
Es gibt viele Gründe für Flucht: Armut, Krieg, Hunger, Vertreibung, politische Verfolgung, Unzufriedenheit. Flüchtenden zu unterstellen, sie kämen nur aufgrund der „Anreize“ deutscher Sozialpolitik nach Deutschland, sie kämen um sich hier ein laues Leben zu ermöglichen, ist pure Ignoranz und Hetze. Flüchtlinge riskieren bei einer Fahrt übers Mittelmeer ihr Leben, ebenso wie in einem LKW durch Osteuropa. Sie wissen, dass ihre Familie beim Versuch die mazedonische Grenze zu überqueren zerrissen werden kann. Warum würden sie bis zu 10.000 Euro für Schlepper bezahlen, wenn sie in Deutschland weniger als 9 Euro pro Tag bekommen? Flucht hat nichts mit vermeintlichen deutschen „Anreizen“ zu tun, Flucht bedeutet zu überleben!
Doch in Deutschland steigt die Zahl rechter Übergriffe: 2012 gab es offiziell 24 rechts-motivierte Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte, 2014 waren es 162 rechte Angriffe. Im ersten Halbjahr 2015 waren es 175 – Körperverletzung, Brandstiftung und sogar Schüsse auf Flüchtlingsunterkünfte in Leipzig und Bochum. Demonstrationen und Veranstaltungen von FlüchtlingsunterstützerInnen, wie zuletzt in Heidenau, werden kriminalisiert.
Schuld haben die Herrschenden, nicht die Flüchtlinge
„Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“. Dieser Satz ist auf den Plakaten protestierender Flüchtlinge zu lesen. Und damit haben sie Recht: Dass die Außenpolitik Deutschlands und der anderen NATO-Staaten zu den Umständen in den Heimatländern der Flüchtlinge beiträgt, wird deutlich, wenn in Ländern wie Syrien oder dem ehemaligen Jugoslawien imperialistischen Mächte unter dem Deckmantel von „Demokratisierung und Friedenseinsätzen“ das politische System nach den Interessen der Banken und Konzerne umwälzen – wenn nötig mit militärischen Mitteln. Dass es dabei nicht um Demokratie oder die Verteidigung von Menschenrechten geht, wird schnell klar. Es geht um Einflusssphären für deutsche Politik und Unternehmen, um Absatzmärkte und Rohstoffe, geostrategische Interessen, um billige Arbeitskräfte. Sie hinterlassen Armut und Krieg in den betroffenen Ländern und schaffen schließlich auch die Bedingungen für andauernde Gewalt. Mit einer Verschärfung von nationalen Konflikten nimmt natürlich auch die politische Verfolgung zu. Hier hat Deutschland seine Finger tief mit drin. Die genehmigten Waffenexporte der Bundesregierung, haben im ersten Halbjahr 2015 bereits den Wert des gesamten Vorjahres erreicht. Diese Waffen werden unter anderem nach Saudi Arabien und die Türkei geliefert – Länder die unter anderem den IS direkt ausstatten.
Schuld haben die Herrschenden, nicht die Flüchtlinge. Wenn die Rente gekürzt wird, immer unsicherere Arbeitsverhältnisse herrschen, Kommunen pleite sind, wenn immer mehr Jobs gestrichen werden, dann ist das eine Folge der Politik der Herrschenden und nicht die Schuld von flüchtenden Menschen. Diese aber werden als Schuldige dargestellt: Der Ausländer, die Islamisierung, die Flüchtlinge. Es ist die Angst, nichts mehr vom immer kleiner werdenden Kuchen abzubekommen. Deswegen sollen wir die Ellenbogen ausfahren und im schlimmsten Fall auch dem Brandanschlag Beifall klatschen. Doch nur Neonazis verantwortlich zu machen greift zu kurz. Es ist die unsoziale Politik der Bundesregierung, die den Boden dafür bereitet. Es sind die deutschen Banken und Konzerne, für deren Wirtschaftsinteressen Krieg geführt wird und die von Billiglöhnen in Deutschland und anderswo profitieren. Es ist ihre menschenverachtende Flüchtlingspolitik, die abgelegene und schmutzige Asylbewerberheime erst möglich machen.
Die Situation wird sich nur ändern, wenn wir auch die Fluchtursachen bekämpfen. Ohne den Stopp von Auslandseinsätzen und Waffenexporten wird sich langfristig nichts ändern. Aber wir wissen um den Reichtum, den dieses Land hütet. Vor wenigen Jahren wurden über Nacht Milliarden zur Rettung von „systemrelevanten Banken“ bereitgestellt. Für Menschlichkeit und Solidarität fehlt dieses Geld bisher.
Wir fordern deswegen:
- Sofortige Bereitstellung von Not-Geldern für die Kommunen zur pädagogischen, psychologischen und sozialen Betreuung von Flüchtenden sowie koordinierte personelle Aufstockung der Fachkräfte!
- Die sofortige Eingliederung von flüchtenden Kindern in den Schulunterricht mit entsprechender Unterstützung, menschenwürdige und dezentrale Unterbringung der Flüchtenden in Wohnungen und die Gewährleistung von medizinischer Versorgung!
- Konsequente Aufklärung der Anschläge auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte, konsequente Bestrafung der Täter. Verbot aller rassistischen und faschistischen Organisationen!
- Aussetzung des Dublin Abkommens, Öffnung der Grenzen und damit die sofortige Legalisierung von Fluchtwegen. Sofortiges Ende der Kategorie von angeblich sicheren Herkunftsländer. Bleiberecht für alle!
- Sofortiger Abzug der Bundeswehr aus allen Auslandseinsätzen!
Folge uns!