Von Julian Rettig – Stuttgart. Die grün-rote Landesregierung soll endlich ihr Versprechen erfüllen und bis zur Landtagswahl die anonyme Kennzeichnung von Polizisten bei so genannten Großereignissen einführen. Das fordert der Journalist Nico Denzinger von der Beobachter News. Vor etwa 800 bis 1000 Stuttgart 21-GegnerInnen kritisierte er am 21. September bei der 289. Montagsdemo, dass Grün-Rot die Zusage aus dem Koalitionsvertrag bisher nicht eingehalten hat. Er bekam viel Beifall.
Nico Denzinger erinnerte auf dem Stuttgarter Schlossplatz an die Eskalation der Polizeigewalt am 30. September 2010, dem so genannten Schwarzen Donnerstag. Auch er selbst hat sie im Stuttgarter Schlosspark miterlebt. Der fünfte Jahrestag ist zugleich der Stichtag für die Verjährung vieler Straftaten, die an diesem Tag begangen wurden. Polizeibeamte, die sich damals strafbar gemacht haben könnten, müssen dann endgültig nicht mehr mit Konsequenzen rechnen. Darauf wollen die Stuttgart-21-Gegnerinnen mit dem Motto „Die Richtigen ins Visier nehmen!“ hinweisen.
Gewalt am Schwarzen Donnerstag weitgehend ungesühnt
Das Magazin „Stern“ hat am Tag nach der Montagsdemo ein neu entdecktes Polizeivideo der Ereignisse im Schlossgarten veröffentlicht. Es untermauert die Vorwürfe, da es zeigt, wie aggressiv und rücksichtslos Beamte damals gegen die DemonstrantInnen vorgingen. Doch erst spät erging wegen des Schwarzen Donnerstags ein Strafbefehl gegen den ehemaligen Polizeipräsidenten Siegfrid Stumpf. Ein Klageerzwingungsverfahren gegen den Ex-Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler ist gescheitert.
Die Verjährung ist nun ein weiterer, herber Rückschlag für die damals von Übergriffen der Polizei Betroffenen. Die Zahl von 156 eingestellten Verfahren gegen Beamte, die damals am 30. September im Einsatz waren, spricht für sich. Sie hatten nicht identifiziert werden können.
Polizei wird auch gegen Journalisten handgreiflich
Bei seiner Arbeit als Journalist hat Nico Denzinger auch bei vielen anderen Gelegenheiten am eigenen Leib erfahren, dass Polizisten mit ungerechtfertigter Gewalt gegen ihn vorgingen. Dabei blieb es nicht bei Drohungen, sagte er bei der Montagsdemo. Beamte wurden gegen ihn als Fotografen auch handgreiflich. Mit diesem Unrecht leben zu müssen, ist für ihn eine doppelte Schmach. Denn viele Strafanzeigen gegen Polizisten seien von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Er selbst und die Redaktion der Beobachter News hätten schon auf Anzeigen gegen Polizisten verzichtet, weil sich Beamte oft gegenseitig deckten.
In diesem Zusammenhang stand auch Denzingers Kritik am Versäumnis der Landesregierung, die Kennzeichnungspflicht einzuführen, wie es sie schon in sechs anderen Bundesländern gibt. Die Koalition habe dafür noch knapp ein halbes Jahr Zeit. Die Wählerinnen und Wähler werden die Arbeit von Grün-Rot auch an dieser Frage messen, erwartet der Redner.
„Man sieht sich… auf der Straße“, verabschiedete sich Nico Denzinger unter Beifall mit gereckter linker Faust.
Rede von Nico Denzinger, Beobachter News, bei der 289. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 am 21. September im Wortlaut und mit Zwischenüberschriften (es gilt das gesprochene Wort):
Kennzeichnungspflicht endlich einführen!
Der Schwarze Donnerstag hat sich tief in unser aller Gedächtnis gegraben. Keiner von uns kann die schrecklichen Bilder dieses Tages und die brutalen Übergriffe der Polizei jemals vergessen. Egal, ob er wie ich selbst im Schlosspark war, die Ereignisse im Fernsehen verfolgt hat oder von Augenzeugen geschildert bekam.
Der Schwarze Donnerstag hat dieses Bundesland verändert. Er hat das Vertrauen vieler zerstört, die bis dahin glaubten, in einem Rechtsstaat zu leben. SPD und vor allem die Grünen versprachen im Landtagswahlkampf 2011 vollmundig Konsequenzen. Sie wollten das Versammlungsrecht bürgerfreundlicher machen. Und sie wollten wenigstens für so genannte Großereignisse eine anonyme Kennzeichnungspflicht für Polizisten einführen. So hieß es vor der letzten Wahl, und so steht es im grün-roten Koalitionsvertrag.
Ein „Running Gag“ der grün-roten Koalition
Bis heute, ein halbes Jahr bevor wieder gewählt wird, heißt es jedoch: Fehlanzeige. Es gab zwar viel Hin und Her, aber passiert ist nichts. „Der Streit um die Kennzeichnungspflicht für Polizisten entwickelt sich zum Running Gag der grün-roten Koalition“, spottete daher im August die „Stuttgarter Zeitung.“
Unser Online-Magazin Beobachter News beobachtet seit 2010 das politische Geschehen auf den Straßen im Südwesten. Unsere Reporter und Reporterinnen haben ungezählte Demonstrationen in Text und Bild dokumentiert – gegen Stuttgart 21, gegen Neonazis, gegen Pegida, gegen die schleppende NSU-Aufklärung oder gegen die so genannten „Demos für alle“, mit denen angeblich „besorgte Eltern“ gegen den neuen Bildungsplan zu Felde ziehen.
Polizei kesselt immer wieder DemonstrantInnen ein
Bei diesen Demonstrationen zeigt sich uns immer wieder das gleiche Bild. Die Polizeigewalt, die Unterdrückung und Kriminalisierung von Protest sind nach dem Schwarzen Donnerstag nicht geringer geworden. Sie wurden auch nicht weniger mit der Regierungsübernahme von Grün-Rot. Immer wieder erleben wir auch, dass DemonstrantInnen gegen Nazi-Aufmärsche oder die „Demos für alle“ von der Polizei eingekesselt und – so geschehen in Göppingen – über viele Stunden festgehalten, also an der Ausübung ihres Demonstrationsrechts gehindert werden. Oft geht die Polizei mit Schlagstock und Pfefferspray selbst gegen harmlose Verstöße vor. Im Nachhinein überzieht sie die Eingekesselten mit Anzeigen.
Auch wir als Journalisten werden immer wieder von Polizeibeamten bei unserer Arbeit behindert. Ein Beamter der Göppinger BFE drohte mir einmal, dass ich sofort aufhören soll zu fotografieren, „sonst knallt‘s mal“. Die Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Beamten wurde abgeschmettert.
Polizei attackierte auch Jugendliche und Ältere
Zurück zum Schwarzen Donnerstag: Ohne Rücksicht auf Jugendliche oder alte Menschen setzte die Polizei damals Schlagstöcke, Pfefferspray und sogar Wasserwerfer aus nächster Nähe ein. Es gab über 400 Verletzte. Dietrich Wagner, den ein Wasserwerferstrahl frontal traf, erblindete nahezu vollständig. Das alles nahm die Polizei in Kauf, nur damit noch in der Nacht 25 Bäume gefällt werden konnten, um den Aufbau des Grundwassermanagements vorzubereiten.
Danach wurden viele Stuttgart-21-Gegner mit Anklagen überzogen, doch nur wenige Polizisten. Allein 156 Verfahren gegen unbekannte Polizeibeamte wurden eingestellt, weil sie sich nicht ausfindig machen ließen. Mit einer Kennzeichnung wären diese Verfahren vielleicht nicht eingestellt worden.
Kennzeichnung allein garantiert keine Gerechtigkeit
Ich sage vielleicht, weil leider immer noch die meisten Anzeigen gegen Polizisten fallen gelassen werden. Eine Kennzeichnung allein wäre also noch keine Garantie für Gerechtigkeit. Da muss schon noch mehr passieren. Und gerade deswegen wäre es ein angebrachtes Zeichen der amtierenden Landesregierung, diese einzuführen. Eine Kleinigkeit eigentlich. Nur eine Abstimmung.
Die Kennzeichnungspflicht wird im grün-roten Koalitionsvertrag auf Seite 66 versprochen. Trotz des Schwarzen Donnerstags, trotz der massiven Polizeiübergriffe trägt das fragliche Kapitel erstaunlicherweise die Überschrift „Gewalt gegen Polizei stoppen“. Der Inhalt dieses Kapitels atmet den Geist, der sich seither in der Landesregierung durchgesetzt hat: den Geist von SPD-Innenminister Reinhold Gall. Ihn treibt offenbar allein das Ziel, sich bei der Polizei Liebkind zu machen und sie vor jedem bürgerrechtlichen Eingriff zu schützen.
Reinhold Gall ist bis heute der größte Bremser bei der Kennzeichnungspflicht. Und die Grünen scheinen weder willens noch Manns genug zu sein, sich dem Innenminister zu widersetzen und auf den Koalitionsvertrag zu pochen.
Fadenscheinige Argumente gegen Kennzeichung
Auch die Polizeigewerkschaften und die Landtags-Opposition stemmen sich vehement gegen eine Kennzeichnung, wie es sie bereits in sechs Bundesländern gibt. Ihre Argumente sind fadenscheinig. Angeblich werde durch eine „Zwangskennzeichnung“ das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Beamten verletzt. Abbildungen würden es ermöglichen, dass Beamte bis ins Private hinein verfolgt werden können. Diese Behauptung ist völlig haltlos. Schließlich geht es nicht darum, dass Polizisten ihren Namen offen tragen sollen, worüber man im Übrigen durchaus diskutieren könnte. Sondern es geht um eine Ziffernfolge, der die Buchstaben BW vorangestellt werden.
CDU und FDP behaupten, die Forderung nach anonymer Kennzeichnung sei eine „gnadenlose Vorverurteilung“ doch stets rechtstreuer Polizisten, ein „Zeichen des Misstrauens“ gegenüber einem ganzen Berufsstands. Wer eine Kennzeichnungspflicht fordert, zeige eine fragwürdige Einstellung zum Staat, dem Grundgesetz und dem Gewaltmonopol. Ich behaupte, wer sich rechtstreu verhält, muss eine anonyme Kennzeichnung nicht fürchten! Aber sie würde zeigen, dass es Polizisten gibt, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind!
Beamte bewaffnet bis an die Zähne
Hier kommen unsere Erfahrungen mit dem Gewaltmonopol des Staates und mit anonym auftretenden Polizisten ins Spiel. Wir von den Beobachter News waren beim Protest gegen G7 dabei. (Da wurden keine Kosten gescheut, den Regierungschefs der beteiligten Staaten einen ungestörten Alpengipfel zu bescheren.) Und wir fotografieren auch immer wieder bei Nazi-Demonstrationen. Bei solchen Anlässen begegnet dem Staatsbürger eine martialische, hochgerüstete Polizei, wobei kein Mensch versteht, was sie in dieser Form in einem demokratischen Staat zu suchen hat. Beamte sind bewaffnet bis an die Zähne und vermummt bis unter die Augen. Sie tragen Helme und Gesichtsschutz. Sie haben Schlagstock, Pfefferspray, Pistole, Handschellen und Kabelbinder dabei. Sie sehen mit Schilden und Beinschutz aus wie eine Mischung aus Roboter und Ritter.
Manchmal führen sie Pferde und Hunde mit sich. In dieser Montur nähern sie sich oft jugendlichen Demonstranten, versuchen aber auch immer wieder, uns Journalisten an der Arbeit zu hindern. Sie stoßen unsere Fotografen zurück, mich selbst schon zweimal am Hals, oder fassen ihnen in die Kamera. Immer wieder versuchen sie auch, Fotografen zur Herausgabe ihrer Speicherkarten zu nötigen, wofür es keinerlei Rechtsgrundlage gibt. Und wenn man als Journalist, der sich ordentlich ausgewiesen hat, nach dem Namen eines Polizisten fragt, bekommt man häufig eine patzige oder verächtliche Antwort: „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts …“
Oft hagelt es Gegenanzeigen
Es mag Übergriffe auf Polizisten geben. Vor allem aber gibt es Übergriffe der Polizei auf Demonstranten. Oft genug können sie wegen des Korpsgeistes der Polizei nicht verfolgt und geahndet werden, weil sich die Beamten gegenseitig decken. Häufig werden Anzeigen von Demonstranten sogar mit einer Gegenanzeige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt beantwortet. Vor Gericht kann man sich dann des Eindrucks kaum erwehren, dass Beamten ihre Aussagen untereinander abgesprochen haben. Dabei betrachten die Richter die Aussagen von Polizisten sogar als besonders glaubwürdig, da es sich ja um Staatsdiener handelt. Auch wir verzichteten deshalb schon auf eine Anzeige, als es bei einer ungerechtfertigten Polizeiaktion zu einer schweren Knieverletzung mit langwierigen Folgen kam.
Als Bürger wenigstens Anzeige gegen einen unbekannten, aber identifizierbaren Beamten stellen zu können, wäre das Minimum, was die Polizei mit ihrem Gewaltmonopol der Gesellschaft schuldig ist. Die Grünen sehen das angeblich auch so. Dennoch warten wir vergeblich auf die Kennzeichnungspflicht. Es ist noch ein halbes Jahr Zeit. Die Wählerinnen und Wähler werden die Glaubwürdigkeit von SPD und Grünen auch an dieser Frage messen.
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