Stuttgart/ Dresden. Hausdurchsuchung, der Versuch, Anklage wegen versuchten Totschlags zu erheben und nun – trotz einer Schlappe der Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht – ein Verfahren vor dem Amtsgericht: Vier Jahre nach dem bis dahin größten Naziaufmarsch in Dresden im Februar 2011 versucht die Stuttgarter Staatsanwaltschaft noch immer, am Protest Beteiligte zu kriminalisieren.
Das Verfahren gegen einen Stuttgarter Antifaschisten begann am 23. September. Am heutigen Donnerstag, 1. Oktober, ist der zweite Prozesstag vor dem Amtsgericht in der Hauffstraße 5. Ein dritter Termin ist für Donnerstag, 8. Oktober, um 9.30 Uhr angesetzt.
Bis zu 7000 Neonazis marschierten im Jahr 2011 in Dresden zum Jahrestag der Bombardierung der Stadt am 13. Februar 1945 auf. Ihr Ziel war, die Verbrechen des deutschen Faschismus durch den Verweis auf das alliierte Bombardement zu relativieren. Dabei hatten die Neonazis von den Justiz- und Polizeibehörden der Stadt Dresden und des Landes Sachsen nichts zu befürchten. Sie bekamen mit allen erdenklichen Mitteln den Weg geebnet.
Überfallartige Hausdurchsuchung
Im Jahr 2010 konnten 10 000 AntifaschistInnen den Aufmarsch in Dresden erstmals blockieren. Im Jahr darauf kamen 20 0000 Antifaschistinnen aus ganz Europa, um ihn zu verhindern. Die Polizeiführung wollte ihn jedoch um jeden Preis ermöglichen. Sie setzte 4500 Beamte ein, dazu Pfefferspray, Schlagstöcke und Wasserwerfer bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Viele BlockiererInnen wurden verletzt. Um die Beteiligten strafrechtlich verfolgen zu können, wurden verdeckte Ermittler eingesetzt und eine Million Handyverbindungen in Dresden überwacht und gespeichert.
Im Nachgang folgte eine groß angelegte Kriminalisierungswelle. Einen regionalen Schwerpunkt bildet dabei Stuttgart. Es gab überfallartige Hausdurchsuchungen, DNA-Entnahmen und Gerichtsverfahren. Bei einem der Betroffenen wurde das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Stuttgart übermittelt. Sie verschärfte den Vorwurf des Landfriedensbruchs auf versuchten Totschlag. Die Klage und der Antrag auf Haftbefehl wurden jedoch vom Landgericht abgelehnt.
Ein juristischer Trick ermöglicht dennoch Verfahren
Damit ließ sich die Stuttgarter Staatsanwaltschaft nicht stoppen. Mit der vom Landgericht abgelehnten Anklageschrift erhob sie vor dem Amtsgericht erneut Anklage – allerdings ohne den Vorwurf des versuchten Totschlags. Nun findet das Verfahren tatsächlich statt.
Die Rote Hilfe und das Antifaschistische Aktionsbündnis Stuttgart und Region AABS begleiten den Prozess. Ein Vertreter des AABS bezeichnete in einem auf dem Internetportal „Indymedia“ erschienenen Interview (siehe unten im Wortlaut) das Verhindern der Aufmärsche in Dresden als „entscheidenden antifaschistischen Erfolg“. Er sei nur durch unterschiedliche, konstruktiv zusammenwirkende Aktionsformen möglich gewesen.
Das Interview von Indymedia zum anstehenden Verfahren gegen einen Stuttgarter Antifaschisten wegen der Proteste gegen den Naziaufmarsch in Dresden 2011 im Wortlaut:
„Im Januar 2014 vermeldeten bundesweit Medien: „Stuttgarter wegen versuchten Totschlags angeklagt“. Vorgeworfen werden dem Antifaschisten Aktionen im Rahmen der Proteste gegen einen Naziaufmarsch im Februar 2011 in Dresden. Am kommenden Mittwoch, 23. September, beginnt nun das – inzwischen juristisch herabgestufte – Verfahren vor dem Stuttgarter Amtsgericht. Wir sprachen mit Aktiven der Roten Hilfe (RH) Ortsgruppe Stuttgart und des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Stuttgart & Region (AABS) über das Verfahren, die aktuelle Situation, Militanz und Repression.
Aus Stuttgart gab es eine breite Mobilisierung gegen den Naziaufmarsch im Februar 2011 in Dresden. Etwa 200 AntifaschistInnen reisten von hier 500 Kilometer, um sich den Nazis entgegenzustellen. Wie kam es dazu?
AABS: Über Jahre war der Aufmarsch die größte Zusammenrottung dieser Art in Europa. Bis zu 7000 Nazis zogen hier durch die Stadt. Inhaltliches Ziel hierbei war es, die Verbrechen des deutschen Faschismus zu relativieren. Darüber hinaus haben solche Aufmärsche für die Rechte Szene aber auch eine wichtige Rolle in Hinblick auf Vernetzung, Austausch und Motivation – zumindest wenn sie erfolgreich sind.
Bereits 2010 konnte der Aufmarsch verhindert werden…
AABS: Das war ein sehr entscheidender antifaschistischer Erfolg. Hier ist es erstmals gelungen, eine bundesweite Mobilisierung zu organisieren. Unterschiedliche Aktionsformen, die konstruktiv zusammenwirkten, haben eine erfolgreiche Durchführung unmöglich gemacht. An diesen Erfolg konnte 2011 mit einem ähnlichen Konzept angeknüpft werden.
Ein Boulevardblatt titelte im Nachgang des Aufmarsches 2011: „Brennende Barrikaden, Steine auf Polizisten, mehrere Verletzte – Gegendemonstranten verhindern Naziaufmarsch in Dresden“. Welche Rolle spielten militante Aktionsformen?
AABS: Sie waren letztlich genauso entscheidend wie der massenhafte zivile Ungehorsam: Weder die eine, noch die andere Aktionsform wären in der Lage gewesen, alleine den Aufmarsch zu verhindern. Naziaufmärsche können meistens nur dann verhindert werden, wenn der Widerstand mehrere Ebenen umfasst. Zumindest wenn Polizei und Verwaltung nicht von sich aus darauf verzichten, den Aufmarsch durchzusetzen.
Andererseits führen militante Aktionsformen immer wieder zu Repression.
RH: Diese Schlussfolgerung ist weit verbreitet, aber falsch. Das Ausmaß der Repression orientiert sich daran, wie groß der Widerspruch zwischen den staatlichen Interessen und dem Handeln der antifaschistischen Akteure ist. Ein weiterer Faktor ist das gesellschaftliche Kräfteverhältnis. Wenn sich beispielsweise eine breite Öffentlichkeit gegen die Repression ausspricht, hat das auch einen Effekt auf das Ausmaß der Repression.
AABS: In unserer alltäglichen Arbeit machen wir immer wieder sehr unterschiedliche Erfahrungen. Momentan werden beispielsweise dutzende Antifas wegen einer vollkommen friedlichen Sitzblockade vor Gericht gezogen, während auch immer wieder bei Militanz-Vorwürfen Einstellungen und Freisprüche erzielt werden können.
Wir sehen also, dass es sich durchaus immer wieder um eine gewisse Form der Willkür der jeweiligen Repressionsorgane handelt.
RH: Wenn man die Fälle dann analysiert, stellt man fest, dass der Unterschied eben nicht in der Schwere der vorgeworfenen Straftaten oder der möglichen Beweislast liegt. Die Unterschiede sind nicht juristischer, sondern politischer Natur.
Das nun anstehende Verfahren gegen einen Genossen aus Stuttgart ist aber nicht das erste dieser Art. Wie liefen die Verfahren davor?
RH:Sehr unterschiedlich. Erstmal liefen die Verfahren zum Großteil in Dresden. Lediglich die Verfahren gegen diejenigen, die 2011 noch jünger als 21 waren, laufen vor Stuttgarter Gerichten. Das letzte Verfahren in Dresden, wegen besonders schwerem Landfriedensbruch, endete mit einer 14-monatigen Haftstrafe auf zwei Jahre Bewährung. Ein Verfahren in Stuttgart im März 2014, ebenfalls wegen Landfriedensbruch und versuchter gemeinschaftlicher Körperverletzung, endete mit 120 Arbeitsstunden. Beide Verfahren wurden politisch mit Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungen und Kundgebungen begleitet.
Wie schätzt ihr das nun anstehende Verfahren ein?
RH: Anfang Januar 2014 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage beim Landgericht Stuttgart wegen angeblich versuchtem Totschlag. Außerdem beantragte sie einen Haftbefehl gegen den Genossen. Das Landgericht lehnte sowohl die Anklage, als auch den Haftbefehl, ab. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat daraufhin die im Wesentlichen selbe Anklageschrift beim Amtsgericht Stuttgart eingereicht. Dieser juristische Trick war möglich, in dem der Vorwurf des versuchten Totschlags gestrichen wurde. Dadurch ist nun kein Schwurgericht mehr erforderlich und es kann vor einem niedrigeren und der Staatsanwaltschaft gegenüber gefälligeren Gericht verhandelt werden. Es muss aber dennoch damit gerechnet werden, dass die Anklage eine möglichst hohe Verurteilung erzielen möchte.
AABS: An dieser Stelle ist auf jeden Fall interessant, welche Umstände in die Ermittlungen miteinfließen: Am genannten Tag in Dresden wurden mittels einer illegalen Funkzellenabfrage ungefähr eine Million Verbindungsdaten von DemoteilnehmerInnen und Unbeteiligten erfasst und ausgewertet. Im Zuge einer Hausdurchsuchung beim angeklagten Antifaschisten durchsuchte die Polizei kurzerhand eine falsche Wohnung. Auch einer der genannten Zeugen, ein Zivilpolizist, der bereits in anderen Verfahren gegen Antifaschisten aussagte, ist erwähnenswert: Er tritt vor Gericht verkleidet mit Perücke, Sonnenbrille, künstlichen Piercings und Kostüm auf.
Es ist ja durchaus interessant, dass so ein Verfahren zu einer Zeit stattfindet, wo doch so offensichtlich ist, dass antifaschistisches Engagement dringend notwendig ist…
AABS: Allerdings. Neun Monate nach dem Aufmarsch in Dresden, im November 2011, wurde bekannt, dass der NSU über Jahre hinweg politische Morde begangen hatte und das maßgeblich von Sachsen aus. Während hier von Seiten der Ermittlungsbehörden von Herunterspielen über Vertuschen bis hin zur direkten Unterstützung des Naziterrors alles dabei war, scheuten insbesondere die Dresdner Behörden keine Kosten und Mühen, um AntifaschistInnen zu kriminalisieren.
RH: Aber auch die aktuellen rechten Mobilisierungen zeigen die Dringlichkeit, aktiv zu werden.
AABS: Wir schätzen die aktuelle Entwicklung so ein, dass die verschiedenen rechten Aufmärsche und Sammelbewegungen, ob Hogesa, Pegida, „Demo für Alle“ oder auch das Erstarken rechtspopulistischer Parteien wie der AfD, Ausdruck eines Rechtsrucks in der BRD sind. Ihren traurigen Höhepunkt fand diese Entwicklung bisher in brennenden Flüchtlingsheimen und ersten Ausschreitungen des rechten Mobs unter anderem im direkt an Dresden angrenzenden Heidenau.
Was könnt und wollt ihr dem entgegenstellen?
AABS: Auch wenn die unterschiedlichen Erscheinungsformen Teil der selben Entwicklung sind, müssen wir unsere Konzepte und Aktionsformen entsprechend anpassen. Als Reaktion auf einen Brandanschlag auf eine geplante Flüchtlingsunterkunft im 30 Kilometer nord-östlich von Stuttgart gelegenen Weissach haben wir vor drei Wochen eine größere und spektrenübergreifende Kundgebung mitorganisiert. Als zweiten Schritt werden wir im dortigen Rems-Murr-Kreis am 17. Oktober eine Infotischtour gemeinsam mit anderen Initiativen durchführen. Gegen einen geplanten Aufmarsch homophober Kräfte in Stuttgart am 11. Oktober planen wir vielfältige Aktionen. Das sind unserer Einschätzung nach die für unsere Region richtigen Konzepte. Die Situation, wie wir sie beispielsweise in ländlicheren Gegenden in Sachsen vorfinden, ist aber eine andere. Während wir hier mit verdeckt und defensiv agierenden Nazistrukturen konfrontiert sind, gibt es dort leider viel zu oft eine rechte Straßendominanz. Diese zu durchbrechen ist zwingend erforderlich! Das wird wohl auch eine Herausforderung an die antifaschistischen Akteure darstellen, die einer überregionalen Antwort bedarf.
RH: Die Bündnisse, die wir hierfür aufbauen, müssen wir natürlich auch nutzen, wenn es zur Kriminalisierung der AntifaschistInnen kommt. Hier gilt der Klassiker: „Getroffen ist einer, gemeint sind wir alle!“
Welche Planungen habt ihr für den anstehenden Prozess?
RH: Wir rufen gemeinsam mit dem AABS zu einer Kundgebung vor Prozessbeginn auf. (…) Anschließend möchten wir eine solidarische Prozessbeobachtung, auch an den beiden Folgeterminen, organisieren. Ergänzen werden wir das mit Berichten und einer entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit.
Vielen Dank für das Interview!“
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