Analyse von Hüseyin Dogru – Frankfurt/Stuttgart. Syrien ist ein Schauplatz, an dem man beobachten kann, wie sich die globalen Machtverhältnisse neu gestalten – gerade, seit Russland in den Konflikt eingetreten ist. Was passiert, wenn die Herausforderungen die eigenen Kapazitäten übersteigen, zeigt Recep Tayyip Erdogan. Er tritt auf die internationale Bühne und gibt leere Phrasen von sich wie „Keiner sollte es wagen, unsere Kraft auf die Probe zu stellen“. Taten lässt er nicht folgen. Stattdessen steht die AKP ganz verwirrt da und fragt sich: „Was ist die Absicht der Russen?“.
Als erstes empörte man sich in Ankara darüber, dass Moskau nicht nur den IS, sondern auch die Dschaisch al-Fatah, eine islamistische Rebellengruppe, bombardiert. Nachdem die Russen mehrmals den türkischen Luftraum verletzt hatten, beschwerte sich die AKP Regierung bei der NATO. Nun hieß es: „Unser Luftraum wird verletzt. Sie spielen ein gefährliches Spiel“.
Russland verletzt nicht nur den Luftraum der Türkei. Die Russen setzen ihre Radar-Lock-On-Systeme in den Kampfjets und am Boden die Raketenabwehr Systeme ein, um somit den Luftraum Syriens für sich zu beanspruchen. Das, was die Türkei seit vier Jahren von ihren Verbündeten verlangt, nämlich eine Flugverbotszone, richtet nun Russland für seine Interessen (de facto) ein. Gleichzeitig gründet Russland eine “Sichere Zone“, die die AKP eigentlich für eine “mäßige“ Rebellengruppe vorgesehen hatte, um genau diese Rebellengruppen zu bekämpfen.
Formal agiert Russland mit rechtlicher Grundlage
Während die Türkei ohne jegliche rechtliche Grundlage die Milizen in Syrien mit tonnenweise Waffen und Munition beliefert, bekämpft Russland all diese Gruppen objektiv gesehen mit rechtlicher Grundlage. Russland operiert in Syrien mit der Erlaubnis der syrischen Regierung, die auch bei der UN vertreten ist. Wie gesagt: Nur rein objektiv betrachtet, spielt Russland sein Spiel nach internationalem Recht.
Dass Russland nicht der Retter Syriens sein wird, sollte man nicht aus den Augen verlieren. Russland spielt seine Rolle als imperialistische Macht. Nur, aber auch wirklich nur für die eigenen geostrategischen und ökonomischen Interessen greift es in den Konflikt in Syrien ein.
Russland schützt in Syrien seine eigenen Interessen
Der Stellvertreterkrieg in Syrien ist ein Krieg gegen die Interessen Russlands im Nahen Osten. Russland schützt, getreu dem Motto „Einer für alle, alle für Einen“, lediglich seinen Bündnispartner. Russland schützt also seine eigenen Interessen. Jegliche Vereinbarung zwischen Russland und Syrien ist unter diesem Aspekt zu beurteilen.
Was hat Russland getan? Nachdem 2012 Kampfjets der Türkei in Syrien abgeschossen worden waren, verübte die Türkei Vergeltungsaktionen gegen die syrische Armee an der Grenzregion und ließ verstehen, dass sie jede Bewegung der syrischen Armee an der türkisch–syrischen Grenze unterbinden werde. Genau dieses Engagement hat Russland nun beendet. Das selbe Engagement konnte die Türkei nicht gegenüber den Russen zeigen, als diese den türkischen Luftraum verletzt haben.
Wo früher bei der kleinsten mutmaßlichen Verletzung der türkischen Grenzen sofort ein Angriff gestartet wurde, gibt sich die türkische Regierung mit leeren Phrasen zufrieden. Drohungen wie „Auch wenn es nur ein Vogel ist, der die türkischen Grenzen missachtet, spürt er unsere volle Härte“ werden ab jetzt niemanden mehr einschüchtern.
Russland weitet Einsatz notfalls bis an die Nato-Grenzen aus
Die einzige Befürchtung Ankaras war, dass die logistisch, militärisch und medizinisch versorgten bewaffneten Gruppen an der türkischen Grenze bekämpft werden. Dass Russland genau diese Gruppen bekämpfen wird, hat es in der Praxis gezeigt. Nicht nur der IS und die Nusra, sondern alle bewaffneten Gruppen, die vom Westen Unterstützung erhalten, werden nun bekämpft. Laut Russland gibt es keine „gemäßigten“ Gruppen in Syrien (bis auf die Kurden).
Russland hat durch seine Praxis zu verstehen gegeben, dass die militärischen Einsätze, wenn es sein muss, bis an die NATO-Grenzen ausgeweitet werden. Russland wird sich nicht durch die Drohungen der NATO einschüchtern lassen, aber auch nicht alles daran setzen, einen Krieg mit dem Westen anzufangen. Dies wäre weder im Interesse der Russen noch des Westens.
Gemäßigte IS-Rebellen auf der Flucht in die Türkei
Nach den Angriffen der Russen in Syrien begann eine Flucht der „gemäßigten Rebellen“ des IS in Richtung Türkei. Am 1. Oktober sind etwa 15 IS-Terroristen in Antakya gesichtet worden. Daraufhin wurde die Gendarmarie benachrichtigt. Die Rebellen verschwanden anschließend mit der Gendarmarie.
Am 3. Oktober überquerte ein Bus gegen 23 Uhr die Grenze Richtung Türkei. Dieser Bus kollidierte kurz darauf in Hatay/Defne mit einem Auto. Was auffiel, war, dass die Kennzeichen am Bus (vorne und hinten) zwei verschiedene waren. Nach dem Unfall stiegen die Insassen aus dem Bus und entfernten sich zügig von der Unfallstelle. Die Bevölkerung bemerkte das jedoch und fing sofort an, diese verdächtigen Personen aufzuhalten. Kurz darauf versammelten sich mehrere hundert Menschen. In der Stadt machte das Gerücht „Dschihadisten sind in Harbiye“ die Runde. Als die Polizei zur Stelle war, sammelte sie alle Dschihadisten ein und brachte sie in einer nahegelegenen Schule unter, wo sie von der Bevölkerung geschützt waren. Später wurden sie unter Geheimhaltung aus der Stadt gebracht).
Solange Russland verstärkt Aleppo, Idlip und Rakka bombardiert, wird ein Zustrom der sogenannten „mäßigen Rebellen“ Richtung Hatay, Kilis und Gaziantep nicht zu verhindern sein. Das bedeutet, dass die Wege über die Türkei nach Syrien nun die Fluchtwege der IS-Terroristen sind.
Syrien ist die dritte Antwort Russlands an den Westen
Was macht Russland noch? Russland gibt der NATO zu verstehen: Es reicht! Der russische Imperialismus rächt sich an dem westlichen Imperialismus für die anti-russische Politik. Es ist die Antwort für die Anerkennung Südossetiens und Abchasiens, das sich aus dem Krieg in Kaukasien, speziell in Georgien, herausgebildet hat. Die zweite Antwort gegenüber der imperialen Politik des Westens gab es aus russischer Sicht 2014 in der Ukraine. Die Krim wurde unter die Herrschaft Russlands genommen. Syrien ist die dritte Antwort.
Der russische Imperialismus nutzt nun jede Gelegenheit, um dem Westen zu sagen, dass die vom westlichen Imperialismus dominierte Politik nicht mehr akzeptiert wird. Der russische Imperialismus gibt seinen Widersachern eines deutlich zu verstehen: „Ihr habt Afghanistan in Schutt und Asche gelegt, den Irak habt ihr ruiniert und Syrien in ein Ausbildungscamp für Terroristen verwandelt. Ihr hattet eure Chance, nun sind wir an der Reihe.“ Eines darf man nicht aus den Augen verlieren: Ein anderer Global Player, China, beobachtet leise die Rückkehr Russlands in den Nahen Osten und unterstützt es auch dabei, ohne für Aufsehen zu sorgen.
Zusammengefasst: Syrien ist nun ein Schauplatz, an dem wir beobachten können, wie sich globale Machtverhältnisse neu gestalten.
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