Von Jens Volle – Stuttgart. Emmanuel N. kann nicht mehr ruhig schlafen. Alpträume verfolgen ihn jede Nacht. Erinnerungen an Todesangst, Folter und Misshandlung. Seit fast zwei Jahren ist Emmanuel in Deutschland. Aber er weiß: Die Sicherheit trügt. Er hat Angst, dass sein Leiden noch nicht zu Ende ist. Das liegt an Gesetzen wie der Dublin-III-Verordnung: Das Land, in dem ein Flüchtling die EU betritt, ist für sein Asylverfahren verantwortlich. Emmanuel soll zurück nach Italien. Doch dort sieht er sein Leben bedroht. Die Geschichte einer gefährlichen Flucht (Teil 2).
Was bisher geschah: Emmanuel, 1976 in Kamerun geboren, muss sein Land verlassen, weil er als Homosexueller verfolgt wird. Über den Tschad erreicht er auf gefährlichem Weg durch die Wüste Libyen. Nach fünf Monaten Haft kann er sich dort ein neues Leben aufbauen. Dann kommt der Bürgerkrieg. Die Bombe eines NATO-Kampfflugzeugs zerstört Emmanuels Haus. Um dem Militärdienst für Gaddafi oder die Rebellen zu entgehen, macht er sich trotz einer bei dem Bombenangriff erlittenen Verletzung erneut auf den Weg – dieses Mal über das Mittelmeer nach Italien. Als das überladene, marode Flüchtlingsboot in Seenot gerät, kann gerade noch ein Notruf abgesetzt werden (siehe „Statt ins Gefängnis in die Fremde„).
Italiens Küstenwache kann Emmanuel und noch wenige Dutzend andere retten. Er wird direkt ins Krankenhaus gebracht, wo die Verletzungen des Bombenangriffs notdürftig, aber nicht fachgerecht behandelt werden. Dann wird er zu den anderen Überlebenden nach Lampedusa gebracht. Zwei Tage verbringt er auf einem eingezäunten Betonplatz. Dann wird er mit 40 weiteren Menschen aus Afrika in ein Flüchtlingsheim nach Frossasco gebracht, eine kleine Stadt bei Turin.
Im Lager gerät Emmanuel in die Rolle des Capo
Hier kann er endlich einen Antrag auf Asyl stellen. Doch die Zustände in dem Heim sind unerträglich: Kaum etwas zu essen, keine Seife, nur die Kleidung, die die Menschen bei sich haben, kein Taschengeld. Sie dürfen das Lager auch nicht verlassen. Immer wieder beschweren sich die Geflüchteten bei der Lagerleitung. Emmanuel rutscht dabei wegen seiner guten Sprachkenntnisse – er spricht unter anderem fließend Englisch, Französisch und Arabisch – und seinem souveränen Auftreten unfreiwillig in die Rolle des „Capo“, des Ansprechpartners der Geflüchteten.
Er ist nun dafür verantwortlich, alle Probleme der Geflüchteten an die Lagerleitung zu tragen. Sie wiederum verspricht ihm, dass sein Asylantrag auf jeden Fall Erfolg haben werde, wenn er die anderen Flüchtlinge ruhig und im Zaum hält. Doch im Lauf der Monate werden die Flüchtlinge immer unzufriedener. Schließlich zetteln drei von ihnen einem Hungerstreik an. Sie zwingen die anderen Flüchtlinge dazu mitzumachen, drohen ihnen, sie umzubringen, wenn sie es nicht tun.
Die Unruhestifter werden verhaftet
Die Lagerleitung lässt den Hungerstreik von der Polizei beenden und die Unruhestifter verhaften. Die Zustände sind nun auch im umliegenden Land bekannt geworden. Ein Pater besucht das Flüchtlingslager und bringt jedem einen Beutel mit Kleidung, und Hygieneartikeln. Sie könnten auch jederzeit zu ihm kommen, wenn es Probleme gäbe. Die Geflüchteten dürfen von nun an auch das Heim verlassen. Das war eine große Verbesserung ihrer Lage.
Doch für Emmanuel ist sie schlimmer als zuvor. Der Lagerleiter beschuldigt Emmanuel, ihn verraten zu haben, indem er bei dem Hungerstreik mitmachte – ungeachtet der Tatsache, dass er das nicht freiwillig tat. Der Leiter droht ihm mit den Worten: „Du wirst merken, dass du hier in Italien bist!“
Rache für den vermeintlichen Verrat
Am Abend des 5. Dezember 2011 will Emmanuel den Pater aufsuchen. Auf dem Weg hält plötzlich ein Auto neben ihm. Einer der drei Männer, die in dem dem Auto sitzen, sagt, dass sie Arbeit für ihn hätten. Emmanuel nimmt das Angebot dankend an, sorgt es doch für Abwechslung in seinem Lageralltag. Auch die Aussicht auf einen kleinen Verdienst kommt ihm sehr gelegen. Er steigt ein und setzt sich neben einen Mann auf die Rückbank.
Als sie zehn Minuten gefahren sind, schlägt der Mann plötzlich nach ihm, fesselt und knebelt ihn. Sie fahren zu einem entlegenen Haus und zwingen ihn hinein, schlagen ihn dabei und sagen: „Jetzt ist für dich die Zeit gekommen, für deinen Verrat zu bezahlen!“ Sie sperren ihn in einem Keller ein. Dort muss er auf dem nackten Boden zwischen Tierfutter schlafen. Er ist im Keller eines landwirtschaftlichen Betriebs. Nur zum Arbeiten darf er den Keller verlassen.
Auf dem Kellerboden wimmelt es vor Insekten und Nagetieren
Jeden Morgen um fünf Uhr muss er raus, um die Kühe und Pferde auf dem Hof zu füttern, zu säubern und ihren Mist wegzuschaffen. Weigert er sich oder arbeitet er zu langsam, gibt es Schläge. Zu den physischen Erniedrigungen kommt Psychoterror: Weil es in Afrika kein elektrisches Licht gäbe, bleibt der Keller dunkel. Das sei ihre Art und Weise dafür zu sorgen, dass sich Emmanuel ganz wie zu Hause fühle.
Auf dem Kellerboden wimmelt es von Insekten und Nagetieren. Da die hygienische Situation noch fataler ist als im Flüchtlingslager und er nur während der Arbeit Zugang zu sanitären Einrichtungen hat, entsteht an Emmanuels Oberkörper ein schmerzhafter, juckender und bleibender Hautausschlag. Wie ein Sklave behandelt muss er sich jeden Tag um die Tiere kümmern, bis er am Abend wieder in sein Kellerloch gesperrt wird.
In Italien ist Emmanuel nicht mehr sicher
Zwei Jahre dauert diese Hölle. Ein Mann, der hin und wieder neues Futter mit seinem Lastwagen bringt, wird auf Emmanuel aufmerksam und spricht ihn an. Er sehe ihn hier immer arbeiten. Ob er denn anständig bezahlt werde? Emmanuel bricht in Tränen aus und erzählt ihm seine Leidensgeschichte. Der Mann ist entsetzt und verspricht, ihn entweder zu befreien oder die Polizei zu verständigen. Eine Woche später, am Abend des 16. November 2013, kommt der Mann wieder und sagt dem arbeitenden Emmanuel, er werde ihn jetzt herausholen. Er solle sich schnell auf der Ladefläche zwischen Tierfutter verstecken.
Die Flucht glückt. Auf der Fahrt erzählt ihm sein Befreier, er habe nicht zur Polizei gehen können, da die Männer, die ihn auf dem Hof gefangen hielten, von der Mafia seien. Wäre die Polizei gekommen und hätte Emmanuel mitgenommen, hätten die Mafiosi ihn einfach bei der Polizei wieder abgeholt, und dann womöglich umgebracht. Der Fahrer erklärt Emmanuel, dass es in Italien nicht mehr sicher für ihn sei. Er werde ihn nun einem Kollegen anvertrauen, der ihn nach Deutschland bringt.
Teil 3 folgt
Teil 1 : „Statt ins Gefängnis in die Fremde“
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