Analyse von Hüseyin Dogru – Stuttgart/Frankfurt. Angela Merkel will sich eine Pufferzone im Kampf gegen den Flüchtlingszustrom verschaffen. Deshalb fuhr sie noch vor der Wahl am kommenden Sonntag, 1. November, in die Türkei, um Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu treffen. Ankara nutzt die Gunst der Stunde und spielt als Druckmittel die Flüchtlingskarte aus. Die EU spielt Ankaras Spiel zulasten der Flüchtlinge mit – und macht unhaltbare Versprechungen.
Als der Syrienkonflikt ausbrach, erklärte Ankara immer wieder: „Falls die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien 100 000 übersteigt, ist die Grenze überschritten“. Diese Aussage war auch als Anreiz für die Flüchtlinge aus Syrien gedacht. Kurz darauf flohen die ersten Menschen aus Syrien gen Türkei, jedoch nicht aus den Kriegsgebieten. Bevor aber überhaupt der Flüchtlingsstrom Richtung Türkei begann, standen schon die ersten Flüchtlingscamps direkt an der türkisch-syrischen Grenze. Diese Camps dienten den bewaffneten Gruppen aus Syrien, die Erdoğan und der Westen oftmals als „gemäßigte Rebellen“ bezeichneten, zuerst als Rückzugs- und Reorganisationsort.
Die Rechnung Ankaras ging nicht auf. Der Krieg zog sich in die Länge, und damit stieg die Zahl der Flüchtlinge bis auf über zwei Millionen. Um Syrien in Schutt und Asche zu legen, wurde die türkisch – syrische Grenze zu einer Brücke für die Dschihadisten, damit sie nach Syrien gelangen konnten. Die Gefechte intensivierten sich, mehr Städte wurden dem Erdboden gleich gemacht, die Anzahl der Toten stieg ins Unermessliche und der Zustrom der Flüchtlinge umso mehr.
Immer komplizierterer Stellvertreterkrieg in Syrien
Während jeder sich mit der Frage beschäftigt, ob all diese Flüchtlinge noch länger in der Türkei bleiben oder nicht, konzentriert sich niemand mehr auf das eigentliche Problem und seine Lösungen. Das Problem liegt in dem Golf-West Bündnis und den Waffen- sowie Kapitalinvestitionen in Zusammenhang mit der Unterstützung der Geheimdienste. In ihrer Folge ist die Türkei zu einem Sprungbrett für Radikal-Islamisten geworden. Dadurch hat sich dieser Stellvertreterkrieg sich immer mehr verkompliziert.
Die Lösung wäre, diesen Krieg zu beenden. Genau in diesem Punkt sind sich die internationalen Akteure immer noch nicht einig. Wieso sollten sie auch. Aus Sicht der imperialen Akteure geht es ja letztendlich um eine strategische Neuordnung im Nahen Osten für die nächsten zirka 20 bis 40 Jahre. Deswegen sind sie auch nicht aufrichtig, wenn sie sagen: „Der Krieg in Syrien muss beendet werden“.
Erdogan empfing Angela Merkel in seinem Protzpalast
So war es bis jetzt – bis der Flüchtlingszustrom auch die EU-Grenzen erreicht hat. Denn auf einmal wurde die Flüchtlingsproblematik Ankaras auch die der EU, sodass die Flüchtlingsfrage ein Druckmittel in der Beziehung zwischen Ankara und Brüssel wurde. Nicht ohne Grund wurde Angela Merkel in Erdoğans Protzpalast empfangen und durfte auf dem mit Gold verzierten Sultansthron Platz nehmen.
Vor diesem Besuch Merkels kam der EU-Gipfel am 15. Oktober in Brüssel zusammen, um über die Flüchtlingsproblematik zu debattieren. Nach diesem EU-Gipfel einigte man sich auf einen neuen Schlachtplan. Demnach sollte die Türkei jegliche Unterstützung erhalten, damit der Flüchtlingszustrom in Richtung EU unterbunden wird.
Die EU schwächt macht die progressiven Bewegungen in der Türkei
Seit zirka 13 Jahren führt die AKP eine kriegerische sowie repressive Politik gegenüber den Völkern in der Türkei. Dieser eigennützige Flüchtlingskompromiss der EU mit der AKP, genau zu einer Zeit, in der die AKP politisch am verwundbarsten ist, bedeutet nichts anderes, als die progressive, antifaschistische und revolutionäre Bewegung und ihre Errungenschaften in den letzten Jahren zunichte zu machen. Anstatt Syrien aus den Fängen des IS, der Al Qaida oder der FSA zu befreien, legt die EU mehr Wert darauf, ihre eigene „Zivilisation“ vor den „unzivilisierten“ Flüchtlingen zu schützen.
Es sieht so aus, dass die Türkei, die eine „Pufferzone“ in Syrien errichten wollte, nun selber zu einer Pufferzone für die EU wird. Was bekommen sie im Gegenzug? Der Preis dafür dürfte nicht klein sein.
EU veröffentlicht Bericht über die Entwicklung der Türkei erst später
Der Türkei wurden drei Milliarden Euro und Visa-Erleichterungen für türkische Staatsangehörige angeboten. Die EU Beitrittsverhandlungen sollen erneut aufgenommen werden, und die Türkei soll das Privileg zugesprochen bekommen, an den EU-Gipfeln teilnehmen zu dürfen. Gleichzeitig wird darüber diskutiert, ob die Türkei als „sicheres Herkunftsland“ eingestuft werden soll.
Bei all diesen Angeboten der EU dürfen wir eine wichtige Tatsache nicht aus den Augen lassen: Die eigentlich für den 14. Oktober vorgesehene Veröffentlichung des Türke-Berichtes, des „Regular Progress Report“ der EU, wurde auf eine unbestimmte Zeit nach den Wahlen verlegt. Man will die AKP ja nicht jetzt schon mit einem Bericht verärgern, der in Sachen Menschenrechte und Demokratie negativ ausfällt, und gleichzeitig ein Druckmittel bei den Verhandlungen in der Hand haben.
Die EU Spielt ein doppeltes Spiel
Seit die Türkei, ein Beitrittskandidat, die von der EU geforderten Reformen nicht realisieren will, spielt die EU ein abgekartetes Spiel. Dass die Veröffentlichung des Türkei-Berichts nach hinten verlegt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass die Beziehungen Ankara-Brüssel nicht mehr die besten sind. Financial Times kommentierte diese Entscheidung damit, dass „die Vertagung“ des „Regular Progress Report“ der EU „die Partei von Recep Tayyip Erdogan, dem Präsidenten der Türkei, begünstigt, dessen autoritäre Ansätze für die EU besorgniserregend waren, bis die Migrationskrise explodierte“.
Grundlegende Normen wie zum Beispiel Recht, Transparenz und Meinungsfreiheit werden in der Türkei mit Füßen getreten. Solange sich das Paradigma des Palastes und dessen Sultans nicht ändert, steht hinter der EU-Tür erneut eine Wand. Sie wird die Türkei daran hindern wird, in dieser Frage weiter voran zu kommen. Der goldverzierte Sultansthron, auf dem Merkel saß, spiegelt die Tendenz der neuen Türkei unter Erdogan wider. Wie offen kann solch eine Einstellung für Veränderungen sein?
Die EU sieht über Menschenrechtsverletzungen hinweg
Diese Einstellung birgt Autorität, Bevormundung, Verfremdung und Teilung in sich und lässt keinen Spielraum für Verhandlungen. Verhandlungen in Bezug auf Reformen und Demokratisierung. Mit dem neuen Flüchtlingskompromiss zwischen Ankara und Brüssel hat die EU auch gezeigt, dass sie über die Menschenrechtsverletzungen und ähnliches hinwegsehen und seine Diktatur dulden wird, solange Erdogan die Flüchtlinge nicht gen EU weiterziehen lässt.
Das Versprechen der Visaerleichterung für die türkischen Staatsangehörigen ist ein Versprechen Merkels, das die anderen EU Länder schwer akzeptieren werden. Es ist dazu ein Versprechen an Erdogan, das so nicht umsetzbar sein wird. Es dient lediglich kurz vor den Wahlen dazu, Erdogan mehr Stimmen zu verschaffen. Aber wir wissen, wie der Westen seine Verbündeten zuerst mit Versprechen locken und dann die hochgepushten Diktatoren fallen lassen kann. Dafür brauchen wir uns nur Libyen, Irak und Ägypten anzuschauen.
Wegschauen macht die Hoffnung auf Demokratisierung zunichte
Es ist verantwortungslos, wie die EU im Angesicht des Treibens von Erdogan stillschweigend zuschaut. Die fehlende Kritik in Verbindung mit den (leeren) Versprechen an Ankara kurz vor den Wahlen zeigen auf, dass solch eine autoritäre Herrschaftsform in der Türkei noch benötigt wird. Somit werden jegliche Hoffnungen für einen Demokratisierungsprozess, der vor allem durch die PKK, HDP und einigen Teilen der revolutionären Linken angestoßen wird, zunichte gemacht.
Die EU hat durch diese verantwortungslose Entscheidung neben Frontex einen neuen Grenzschützer engagiert, der in seinen geographischen Grenzen zugleich auch als eine Pufferzone dient. Einen Grenzschützer zu engagieren, der einen offenen Krieg gegen seine Bevölkerung und gegen jegliche progressiven und demokratischen Kräfte führt, zeigt eigentlich, wohin es mit der Außenpolitik der EU geht.
Hauptsache, die Festung Europa wird abgeschirmt
Die Festung Europa soll mit aller Macht verteidigt und abgeschirmt werden. Durch die Militarisierung der Außengrenzen werden Abertausende von Flüchtlingen ihrem „Schicksal“ überlassen. Dass einen Tag nach dem EU Gipfel in Brüssel an der türkisch–bulgarischen Grenze ein afghanischer Flüchtling von einem Polizisten erschossen wurde, wie unter anderem die Zeit berichtet, ist der Ausdruck der neuen Flüchtlingspolitik der EU.
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