Tübingen. Boris Palmer, Grünen-Realo und Oberbürgermeister von Tübingen, wird nicht müde, in Talkshows und anderen Medien vor Überforderung durch die Zahl der Flüchtlinge zu warnen, die ins Land kommen. „Wir schaffen das nicht“, stellte er sich gegen einen Spruch von Kanzlerin Angela Merkel. Innerparteilich geriet Palmer durch seine Forderung nach Grenzkontrollen unter Druck. Die Vorsitzende der Grünen Jugend Theresa Kalmer möchte ihn sogar aus der Partei werfen, sagte sie dem „Spiegel“. Dagegen erhielt er Beifall von AfD und CSU. Jetzt verabschiedeten die Tübinger Grünen eine Erklärung: „Es ist nicht einfach – aber wir kriegen das hin.“
Boris Palmer fühlt sich in seinen Rollen offenbar gespalten. „Als Grünen-Mitglied“ unterstütze er den Beschluss seines Kreisverbands, als Oberbürgermeister müsse er schauen, was in der Praxis konkret realisierbar sei, heißt es in einer Pressemitteilung des Tübinger Grünen-Kreisverbands, der nach eigenen Angaben knapp 400 Mitglieder zählt (siehe unten im Wortlaut). In einem Streitgespräch mit dem Tübinger Grünen-Bundestagsabgeordneten Chris Kühn beim in Tübingen erscheinenden „Schwäbischen Tagblatt“ hatte Palmer erklärt, allein auf das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl zu pochen, erscheine ihm „zu legalistisch“.
Palmers Äußerungen stoßen bis weit in CDU-Kreise hinein auf Kopfschütteln, so etwa bei Tübingens Landrat Joachim Walter und einer Reihe von Oberbürgermeistern um Stephan Neher aus Rottenburg, dem Initiator eines offenen Briefs an die Bundesregierung. Auch die Tübinger Bundestagsabgeordnete der Linken Heike Hänsel hatte Palmers Äußerungen scharf kritisiert (siehe „Palmer spielt AfD in die Hände„).
Jetzt legten die vier Mitglieder der Tübinger Stadtratsfraktion der Linken mit einer Erklärung „Nicht in unserem Namen“ (siehe unten im Wortlaut) nach. Aufnahmestopp, Schließung der Grenzen und Militäreinsätze gegen Flüchtende seien nicht das richtige Mittel, um die Probleme der Zuwanderung zu lösen. Das Grundrecht auf Asyl kenne keine Obergrenze. „Eine weltoffene Stadt wie Tübingen, in der sich auch viele Ehrenamtliche engagierten, müsse Menschen vor Verfolgung und Krieg Schutz bieten. „Flüchtlinge sind Menschen in Not und keine mathematische Größe“, spielten die Unterzeichner Gerlinde Strasdeit, Gitta Rosenkranz, Felix Schreiber und Gotthilf Lorch auf Palmer als studierten Mathematiker an.
Die Erklärung der Tübinger Grünen zur Flüchtlingspolitik im Wortlaut:
Wir kriegen das hin
Die Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen in Tübingen haben bei einer Versammlung am 28. Oktober 2015 engagiert über die Flüchtlingssituation diskutiert. Sie verabschiedeten eine Beschlussvorlage unter dem Titel „Es ist nicht einfach – Aber wir kriegen das hin.“
Die Tübinger Grünen fordern weitere Finanzhilfen zur Bewältigung der Krise, etwa für die Stärkung der sozialen Betreuung, die Förderung des sozialen Wohnungsbaus und die Weiterqualifizierung von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Darüber hinaus sollen verstärkte Anstrengungen unternommen werden, um die Fluchtursachen zu bekämpfen. Abgelehnt werden das Prinzip Sachleistung statt Geld, die beschlossene Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten auf Kosovo, Albanien und Montenegro sowie eine Stimmungsmache auf Kosten der Flüchtlinge.
Der Tübinger Bundestagsabgeordnete Chris Kühn betonte: „Ich bin froh, dass der Kreisverband eine klare Ablehnung zur Idee von Obergrenzen beim Asylrecht zum Ausdruck bringt.“ Aus Sicht der Landespolitik kommentierte der Landtagsabgeordnete Daniel Lede Abal: „Mich freut, dass sich der grüne Kreisverband Tübingen zu einer gemeinsamen humanitären Verantwortung in der Asylpolitik bekennt. Wir werden den Problemen nicht ausweichen, nicht durch Zäune und auch nicht durch Verschärfungen im Asylrecht. Es wird schwierig werden – aber es braucht den Willen und die Verantwortung, das auch anzupacken. Lokal, im Land, im Bund und international.“
Kreisvorstandsmitglied Wolfgang Raiser betonte: „Die Welle der Hilfsbereitschaft, die durch das Land geht, hat mich ein Stück weit stolz gemacht. Sie darf nicht verebben. Die Menschen fliehen vor Krieg und unhaltbaren Zuständen. Die Mehrzahl wird eines Tages zurückkehren wollen. Tun wir alles dafür, dass sie dies mit einem guten Gefühl machen können.“
An der Diskussion beteiligte sich auch der grüne Oberbürgermeister Tübingens, Boris Palmer, der in den vergangenen Tagen in Bezug auf die Flüchtlingskrise geäußert hatte: „Das schaffen wir nicht.“ Palmer betonte, als Grünen-Mitglied unterstütze er den Beschluss, als Oberbürgermeister müsse er schauen, was in der Praxis konkret realisierbar sei. Seine Äußerungen der letzten Zeit wollte er nicht zuletzt als Hilferufe verstanden sehen, um von Land und Bund bessere Rahmenbedingungen für die Kommunen zu erwirken, um die Flüchtlingssituation meistern zu können.
Während der Diskussion erntete Palmer viel Lob für seinen Einsatz, musste aber auch Kritik einstecken. Zahlreiche Wortmeldungen distanzierten sich von seiner Aussage „Das schaffen wir nicht“ und widersprachen auch der Ansicht, es herrsche ein Diskurs-Verbot. Über den Diskussionsverlauf äußerte sich Kreisvorstandsmitglied Lena Kühn positiv: „Wir sind eine streitbare Partei, bei der sachlich und fair Argumente getauscht und um eine Position gerungen wird. Die große Beteiligung am heutigen Abend zeigt, wie wichtig den Mitgliedern das Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik ist.“
Die Beschlussvorlage wurde nach Abstimmung über einige Änderungsanträge mit 46 Ja-Stimmen und acht Enthaltungen ohne Gegenstimme angenommen. Antragsteller waren Albrecht Vorster und Stella Tauber. Zahlreiche Gäste und Medienvertreter verfolgten die Versammlung.
Die Erklärung der Gemeinderatsfraktion der Tübinger Linken
Nicht in unserem Namen
1. Oberbürgermeister Boris Palmer ist gleichzeitig Vorsitzender des Tübinger Gemeinerates. Er spricht nicht in unserem Namen, wenn er in überregionalen Medien verkündet, „wir schaffen das nicht“. Aufnahmestopp, Schließung der Grenzen und Militäreinsätze gegen Flüchtende sind nicht das richtige Mittel, um die Probleme der Zuwanderung zu lösen. Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze. Wir verteidigen die Regeln der Genfer Flüchtlingskonvention.
Tübingen ist eine weltoffene Stadt. Tübingen kann und muss weiter seinen Beitrag leisten, um Menschen Schutz zu bieten vor Verfolgung und Krieg. Flüchtlinge sind Menschen in Not und keine mathematische Größe. Unsere Fraktion unterstützt alle Maßnahmen der Stadt und des Landkreises, die einer humanen Unterbringung dienen und eine sofortige Integration der Flüchtlinge erleichtern. Derzeit sind Zeltstädte nicht zu vermeiden. Aber das ist immer noch besser, als die Flüchtlinge zurückzuschicken.
2. Das dichte Netz von professioneller und ehrenamtlicher Flüchtlingsarbeit in der Stadt darf nicht geschwächt sondern muss gestärkt werden. Wir sollten unsere Energie lieber auf kreative Lösungen verwenden anstatt zu jammern. Dafür sind sowohl der OB als auch wir gewählt worden. Auf dem Wohnungsmarkt und auf dem Arbeitsmarkt dürfen die Flüchtlinge nicht in Konkurrenz getrieben werden zu anderen benachteiligten Gruppen in der Gesellschaft.
Deshalb: keine Aushöhlung des Mindestlohns; für ein Sofortprogramm von Bund, Land und Kommunen für sozialen Wohnungsbau, mehr Investitionen in Bildung und Ausbildung. Dafür brauchen wir ein breites gesellschaftliches Bündnis. Herr Oberbürgermeister, das Gebot der Stunde heißt „Helfen statt Panikmache“.
Gerlinde Strasdeit, Gitta Rosenkranz, Felix Schreiber, Gotthilf Lorch.
Linke Stadtratsfraktion Tübingen, 26.10.2015
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