Stuttgart. Rund 250 Menschen folgten am Abend des 9. November dem Aufruf des „Bündnisses zum Gedenken an die Pogromnacht in Bad Cannstatt“. Sie versammelten sich am Platz der Cannstatter Synagoge in der König‐Karl‐Straße. Mit musikalischen Beiträgen von Marianne Schmidt-Hangstörfer und dem Freien Chor Stuttgart wurde der Opfer der Pogromnacht vor 77 Jahren gedacht. Es gab mehrere Reden. Am Ende der Kundgebung wurde ein Kranz niedergelegt.
Die TeilnehmerInnen legten 100 rote Nelken vor den Gedenkstein. Am 9. November 1938 war auch die Cannstatter Synagoge niedergebrannt worden.
Parallelen zur heutigen Zeit
Der 87-jährige Zeitzeuge und ehemalige SPD-Stadtrat Gerhard Dürr erinnerte an die damaligen Ereignisse und zog Parallelen zur heutigen Zeit. Die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte zeigten, dass der Rassismus noch immer in der Bevölkerung vorhanden sei.
Der Pöbel macht sich nachts ans Werk
Rainer Redies von der Cannstatter Stolperstein-Initiative führte aus, den Cannstatter Juden sei während der Novemberpogrome keine Hilfe zuteil geworden. „Wenn Flüchtlinge bedroht, wenn ihre Unterkünfte in Brand gesetzt werden, dann macht sich der Pöbel nachts ans Werk. Das ist heute so und war am 9. November 1938 nicht anders“, erklärte Redies. Auch heute würden wieder Menschen mit Feuer und Gewalt bedroht. Alle seien dafür verantwortlich, „dass nicht wieder weggeschaut wird“. Die Rede von Rainer Redies kann hier nachgelesen werden.
Sich den Rechten in den Weg stellen
Das Antifaschistische Aktionsbündnis Stuttgart und Region AABS betonte in seinem Beitrag, Positionen in der Mitte der Gesellschaft zeigten, dass das Nachleben faschistischer Tendenzen heute bedrohlicher sei als je zuvor. Etablierte Parteien durchliefen einen Rechtsruck. Deshalb müsse man sich „organisieren und antifaschistische Bündnisse schmieden, um aktionsfähig zu sein. Und wir dürfen uns nicht davor scheuen, uns den Rechten direkt in den Weg zu stellen“. Der vollständige Redebeitrag des AABS kann am Ende des Beitrags nachgelesen werden.
Die Redaktion bedankt sich bei cams21 für die Freigabe ihres Videos!
Unterstützt wurde die Kundgebung von folgenden Organisationen:
Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart (AABS); Antifaschistische Aktion (Aufbau) Stuttgart; „Arbeit Zukunft“ Stuttgart; Cannstatter gegen Stuttgart 21; DIDF Stuttgart (Föderation demokratischer Arbeitervereine), DIE LINKE Stuttgart; DIE LINKE OV Bad Cannstatt; DKP (Deutsche Kommunistische Partei) Stuttgart; Freundschaftsgesellschaft BRD Kuba Regionalgruppe Stuttgart; GRÜNE JUGEND Stuttgart; Initiative Lern und Gedenkort Hotel Silber e. V.; Linksjugend [`solid] Stuttgart; Piratenpartei Deutschland, Kreisverband Stuttgart; SÖS Stuttgart Ökologisch Sozial; ver.di Bezirk Stuttgart; SDAJ (Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend) BadenWürttemberg; VVN-BdA: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten; Verein Zukunftswerkstatt e.V., Zuffenhausen; Waldheim Gaisburg; Waldheim Stuttgart e.V. / Clara Zetkin Haus; Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften; NO PEGIDA Stuttgart
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Die Rede des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Stuttgart und Region AABS im Wortlaut:
Liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten, liebe Anwesende,
der 9. November – ein ganz besonderer Gedenktag aus antifaschistischer Sicht. Wie die Erinnerung an die Pogromnacht heute aussieht, was daran kritikwürdig ist und was sie aus unserer Sicht für uns heute bedeuten muss, wollen wir im folgenden darlegen.
In diesen Tagen im November wird üblicherweise groß der Maueropfer gedacht. Alle Welt beschäftigt sich mit der Unmenschlichkeit der Regierung der DDR. Am Rande wird erwähnt, dass es auch Gedenkveranstaltungen zur Pogromnacht gibt. Manch ein Bürgermeister lässt sich an Gedenkstätten der Deportation blicken und verliert ein paar Worte. Meist sind die Zahlen, die dort runtergerattert werden auch ungeprüft übernommen und es wird von knapp hundert jüdischen Opfern in jener Nacht gesprochen. Doch aus wissenschaftlichen Recherchen geht hervor, dass es es mehrere Hundert gewesen sein mussten, die mittelbar an den Folgen der von der NSDAP zentral organisierten Übergriffe starben.
Auch wird immer noch der Begriff der „Reichskristallnacht“ verwendet; doch es war kein glitzerndes Event, bei dem lediglich Scheiben zu Bruch gingen. Es wird oft vernachlässigt, dass die Pogromnacht 1938 sehr spezifisch war im Gegensatz zu anderen Pogromen, die es bereits lange Zeit davor gab. Diese gewalttätige Aktionen waren auch nicht nur in jener Nacht; vielmehr war es die ein klares Zeichen, für jeden und jede sichtbar, dass die Verfolgung der Juden und Jüdinnen offen betrieben, organisiert und flächendeckend fortgesetzt werden würde. Und auch wenn die Angriffe auf jüdische Betstuben und Geschäfte von Organen der Partei organisiert wurden, so muss auch gesagt werden, dass die Bevölkerung in den wenigsten Fällen sich dagegen stellte und zu großen Teilen die Brandstiftungen und Übergriffe hinnahmen oder sogar unterstützten.
Bei den allermeisten Gedenkveranstaltungen an die Pogromnacht wird verurteilt und versucht, in Reden zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 in Cannstatt endlich einen Schlussstrich unter dem deutschen Faschismus zu ziehen. Doch passiert dazu praktisch wenig; so werden längst fällige Zahlungen an die Opfer weiter hinausgezögert, die Täter von damals kamen größtenteils ungeschoren davon. Die deutsche Wirtschaft profitierte immens und entwickelte eine zerstörerische Kraft unfassbaren Ausmaßes. Die deutsche Geschichte wird was diesen Part angeht außerhalb des heutigen Tages vollkommen ausgeblendet.
Deshalb muss es für uns heißen: Nicht vergessen, sondern Erinnern!
Gedenkkultur, wie wir sie am heutigen Tag begehen, muss auch in unserer alltäglichen Arbeit ihren Platz finden. Wir müssen den Diskurs wieder auf die Tagesordnung bringen. Es darf nicht in Vergessenheit geraten, was in der Pogromnacht und danach geschah und was die Folgen davon sind, die bis in die heutige Zeit Relevanz haben. Und es tun sich derzeit ganz neue Fragen auf, die uns zeigen, dass der Faschismus immer noch eine Bedrohung darstellt – er nicht 1945 verschwand. Positionen in der Mitte der Gesellschaft zeigen, dass das Nachleben faschistischer Tendenzen in der Demokratie bedrohlicher ist, als je zuvor.
Dieses Jahr im November ist ein anderes Thema als sonst in der öffentlichen Diskussion dominierend: Die Debatte um den Umgang mit Geflüchteten ist in aller Munde. Die politischen und organisatorischen Herausforderungen der die jetzige Regierung nicht gewachsen ist wird zur Flüchtlingskrise erklärt. Vor nicht allzu langer Zeit wurde die Politik Orbans in Ungarn gegenüber Minderheiten stark kritisiert, nun debattiert der deutsche Bundestag darüber, ob Zäune an der österreichischen Grenze nicht doch eine Option sind. Jetzt geht es gerade darum, ob der Nachzug von syrischen Familienmitgliedern begrenzt werden soll oder gar ganz verboten. Absurd, denn wenn eine Person Asylrecht hat, wie sollten dann deren Familienmitglieder, die wegen der gleichen Bedingungen geflohen sind kein Recht auf Aufnahme haben. Das Asylrecht soll weiter verschärft werden, weil die Politik der eintreffenden Personenzahlen nicht gewachsen ist. Da tut man sich leicht, Asylsuchende vom Balkan per se direkt als nicht asylfähig zu degradieren und in separaten Abschiebelagern unterzubringen. Transitzonen sind das Thema an dem sich die Union nun aufgerieben hat.
An diesem Thema spaltet sich nun die Politik, aber auch die Nation. Aktuelle Umfragen zeigen, dass die Hälfte der Bevölkerung Angst davor hat, dass so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen und der Islam an Einfluss gewinnt. Viele sehen auch Gutes in der Einwanderung, hauptsächlich beziehen sie sich jedoch auf positive Auswirkung auf den Arbeitsmarkt und gegen die Überalterung Deutschlands. Die große Sorge dabei bleibt jedoch in Politik, wie Bevölkerung, Deutschland könne sich an der Aufnahme von Flüchtlingen finanziell überlasten. In diese Kerbe schlägt auch die Presse, indem von „Asylflut“, Wohnungsnot durch Asylbewerber und steigende Kriminalitätszahlen schreibt.
Und genau das spielt den rechten in die Hände. Etablierte Parteien durchliefen bereits einen Rechtsruck, als sie sich wieder klarer positionierten zu sozialen Themen, aus Angst, sie würden noch mehr WählerInnenstimmen an die AfD verlieren. Diese wiederum schaffte es, rechte Positionen wieder salonfähig zu machen.
Inzwischen werden konkrete diskriminierende Äußerungen auch nicht mehr verklausuliert geäußert und populistische Aussagen machen die große Runde. Allen voran Innenminister de Maizière der abfällig über Asylsuchende meint „die gehen aus Einrichtungen raus und bestellen sich ein Taxi, […] sie streiken, weil ihnen die Unterkunft nicht gefällt, sie machen Ärger, weil ihnen das Essen nicht gefällt, sie prügeln in Asylbewerbereinrichtungen“. Solche Bemerkungen, die sicherlich nicht der Situation der Mehrheit der AsylbewerberInnen entspricht schüren nur Unverständnis, Wut und Angst in der Bevölkerung, die sich nur spärlich und oberflächlich mit dem Thema beschäftigt. Da helfen auch keine motivierende Worte von Merkel á la „Gemeinsam können wir das schaffen“. Diese und weitere Missstände schaffen Basis und ein offenes Feld für rechte, faschistische Kräfte, die hinein grätschen, wenn die Regierung keine Antworten liefert und die Bevölkerung mehr und mehr unzufrieden mit politischen Entscheidungen ist.
Die rechten greifen den Unmut auf, fangen die Leute mit ihren rassistischen Phrasen und vermeintlichem Antikapitalismus und organisieren die Leute; so entstehen bundesweit Aufmärsche wie Pegida, SBH-gida, „Steh auf für Deutschland“ und wie sie alle heißen.
Und es brennt wieder!
Man muss vorsichtig sein bei Vergleichen; doch Fakt ist, dass die hetzerische Stimmung stark um sich greift. Geflüchtete werden beleidigt und angegriffen, Unterkünfte beschmiert und in Brand gesetzt – Täter werden kaum ermittelt und zur Rechenschaft gezogen. Uns muss klar sein, dass es an uns liegt, einzugreifen – wir dürfen uns, und das lehrt uns die Geschichte, nicht darauf verlassen, dass es andere tun.
Doch was heißt eingreifen?
Wir müssen als Antifaschistinnen und Antifaschisten intervenieren; und das schon bevor es brennt! Antifaschismus ist ein Abwehrkampf – Wir müssen uns genau anschauen, wo Gefahren entstehen und direkt dagegen vorgehen. Das beginnt in Bürgerversammlungen zur Information über geplante Flüchtlingsunterkünfte, wo rechte versuchen, die öffentliche Meinung zu dominieren. Wir müssen in Diskussionen dagegen halten, vermitteln und aufklären über Fluchtursachen und die Bedingungen unter
denen Geflüchtete hier leben. Und wir müssen da wo Rechte auftreten, sich vernetzen und hetzen, dagegen auf die Straße gehen. Wir müssen uns organisieren und antifaschistische Bündnisse schmieden um aktionsfähig zu sein.
Und wir dürfen uns nicht davor scheuen, uns den rechten direkt in den Weg zu stellen. Gelegenheiten dazu gibt es auch hier in der Region genug: Sei es dem III. Weg oder „Die Rechte“ wenn sie rassistische Flugblätter verteilen, der „Demo für Alle“, die ihr rückwärts gewandtes Familienbild auf Stuttgarter Straßen trägt oder der NPD beim Bundesparteitag in zwei Wochen in Weinheim.
Lasst uns gemeinsam den antifaschistischen Widerstand organisieren!
Entschlossen gegen Faschismus – hier und überall!
Folge uns!