Weinheim. Über die Proteste gegen den Bundesparteitag der NPD am Wochenende in Weinheim wird weiter kontrovers diskutiert. Beobachter werfen der Polizei einen stark überzogenen Einsatz vor. Sie rechtfertigt sich damit, dass Beamte mit Steinen und Pfefferspray angegriffen worden seien. Insgesamt wurden an dem Tag 16 Polizisten und weit über hundert DemonstrantInnen verletzt. Inzwischen gibt es staatsanwaltschaftliche Ermittlungen. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg entgegen ihrer Ankündigung wohl keine Kennzeichnungspflicht für Polizisten einführen wird.
Michael Csaszkóczy von der Antifaschistischen Initiative Heidelberg (AIHD), Anmelder der Demonstration am Samstagnachmittag, 21. November, wirft der Polizei-Pressestelle vor, ihre Rolle als „staatlich beglaubigte Informationsquelle“ zur „gezielten Desinformation“ missbraucht zu haben. Er fordert in einem offenen Brief an Polizeipräsident Thomas Köber „eine ernsthafte Aufklärung der Geschehnisse um den NPD-Parteitag“ (siehe unten im Wortlaut).
Die Polizei Baden-Württemberg habe gerade vor Gericht mehrfach bestätigt bekommen, „dass ihr selbstherrliches Auftreten als politischer Akteur, der über Recht und Gesetz steht, nicht hinzunehmen ist“. Damit spielt Csaszkóczy auf Urteile an, die den Einsatz Simon Brommas als Polizeispitzel gegen die linke Szene in Heidelberg und den Einsatz am „Schwarzen Donnerstag“ im Stuttgarter Schlossgarten gegen S 21-GegnerInnen für rundum rechtswidrig erklären.
Nackenhiebe wohl ohne schwere gesundheitliche Folgen
Nach einem Bericht der Weinheimer Nachrichten beschäftigt sich jetzt auch die Staatsanwaltschaft Mannheim mit den Vorgängen am Wochenende. Nach Angaben von Roswitha Götzmann, der Sprecherin des Mannheimer Polizeipräsidiums, ging der Behörde das gesamte während des Einsatzes entstandene Filmmaterial der Polizei zu. Es sei Routine, dass ein solcher Großeinsatz umfassend von der Polizei selbst gefilmt werde, nicht aber die Weitergabe der Aufnahmen an die Staatsanwaltschaft.
In anderer Sache gab es inzwischen eine gute Nachricht: Eine junge Frau, die am Samstag nach Schlägen in den Nacken mit Verdacht auf eine Halswirbelverletzung in die Klinik musste, gab inzwischen Entwarnung: Sie konnte das Krankenhaus verlassen, die Ärzte rechnen nicht mit bleibenden Schäden.
Polizeigewerkschafter nimmt Beamte in Schutz
Diskutiert wird über den Einsatz jedoch auch weiterhin. Der junge Freiburger Frederik Greve schildert im Blog „Fudder – Neuigkeiten aus Freiburg“, wie er den Tag erlebt hat („Wie ich gegen die NPD demonstrieren wollte – und stattdessen im Knast landete“). Sein Eintrag für 8 Uhr morgens: „Vor einer Gaststätte kesselt die Polizei rund 100 Demonstranten ein, auch mich. Sie verwendet Pfefferspray und Schlagstöcke, jemand stößt mich zu Boden. Weil der Kessel so eng ist, fällt es mir schwer, wieder aufzustehen. Einige Demonstranten sind verletzt, doch die Polizei verweigert den Demo-Sanitätern die Behandlung.“
Die Rhein-Neckar-Zeitung stellte am 24. November die Frage, wie Weinheim reagieren könne, um solche Auseinandersetzungen künftig zu verhindern. Sie zitiert Thomas Mohr, den Mannheimer Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft GdP. Er sei am Samstag vor Ort in Weinheim gewesen und wolle „nicht rundweg abstreiten, dass ‚Unschuldige‘ zwischen die Fronten und damit in ‚polizeiliche Maßnahmen‘ geraten sind: ‚Gewaltbereite mischen sich oft unter laute, aber ansonsten friedliche Demonstranten'“, klagt Mohr. Letztere distanzierten sich oft nicht entschieden genug „von den Chaoten“: „Sie denken, sie könnten stehen bleiben, weil sie nichts gemacht haben“, wird Mohr weiter zitiert: „Andere beharren auf ihr Recht zu demonstrieren – und machen mit Absicht keinen Platz.“
Kennzeichnungspflicht für Polizisten offenbar beerdigt
Am Donnerstag, 26. November, meldete die Rhein-Neckar-Zeitung dazu passend, dass die von der grün-roten Koalition versprochene Kennzeichnungspflicht für Polizisten offenbar in dieser Legislaturperiode nicht mehr komme. Das habe der SPD-Innenexperte Nikolaos Sakellariou dem „Badischen Tagblatt“ (Donnerstag) gesagt. Die Regierungsfraktionen könnten sich über dieses strittige Thema bis zur Landtagswahl im März 2016 nicht mehr einigen. Aus Sakellarious Sicht passe die Kennzeichnungspflicht „nicht mehr in die Zeit“.
Das erscheint uns vor dem Hintergrund der gerade vom Verwaltungsgericht Stuttgart bestätigten kompletten Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes am „Schwarzen Donnerstag“ gegen Stuttgart-21-Gegner eine erstaunliche Einschätzung. Der Grünen-Innenexperte Uli Sckerl erklärte der Rhein-Neckar-Zeitung, die Chancen für die Kennzeichnungspflicht stünden sehr schlecht. Die Widerstände bei der Polizei und beim Koalitionspartner SPD seien zu groß.
Fußtritte und Pfefferspray-Einsatz auf Fotos und Videos
Sehr kritisch bewertete der Zeit-Blog schon am Wochenende den Polizeieinsatz mit Hinweis auf ein Video auf Youtube, das „die Polizei in keinem guten Licht an diesem Tage erscheinen lässt“. Es zeigt, wie sich Demonstranten zurückziehen und von Polizisten in Kampfmontur einschließlich schweren Stiefeln mit massiven Fußtritten im Nahkampf-Stil und mit Schlagstockhieben verfolgt werden. Auf dem Internetportal indymedia erschien hierzu ebenfalls ein Beitrag unter dem Titel „Verschwörungstheorie verletzter Polizist„.
Stunden zuvor war es laut Polizei zu vereinzelten Steinwürfen auf Einsatzkräfte gekommen. Außerdem habe die Polizei mehrmals Pfefferspray auf einer Distanz von unter einem Meter eingesetzt, was nach internen Vorschriften unzulässig sei. Den Pfefferspray-Einsatz haben auch unsere ReporterInnen beobachtet und dokumentiert.
Linke und Jusos fordern lückenlose Aufklärung
Die Linke in Baden-Württemberg fordert wegen des Einsatzes eine Entschuldigung von Landesinnenminister Reinhold Gall: „Wenn zweihundert Demonstranten wegen Sitzblockaden im Gefängnis landen, zuvor von der Polizei gejagt werden und zum Teil schwere Verletzungen erleiden, dann muss das Folgen haben. Innenminister Gall muss dafür die Verantwortung übernehmen und Konsequenzen ziehen. In Zeiten zunehmender rassistischer und faschistischer Gewalt wäre es die Aufgabe der Polizei, die Bevölkerung und insbesondere Flüchtlinge vor Nazis und Rassisten zu schützen anstatt Antifaschisten anzugreifen. Eine Entschuldigung wäre das Mindeste“, erklärte der stellvertretende Landesvorsitzende Dirk Spöri.
Auch die Jusos Heidelberg fordern eine „lückenlose Aufklärung der gewaltsamen Polizei-Aktionen in Weinheim von Seiten der Justiz“ und eine Kennzeichnungspflicht für die Beamten, berichten die Weinheimer Nachrichten. „Die Polizistinnen und Polizisten agierten unverhältnismäßig aggressiv“, wird ein Sprecher zitiert – erst recht vor dem Hintergrund, dass viele junge und unerfahrene DemonstrantInnen in Weinheim waren.
Siehe auch unsere früheren Berichte
Massiv und bunt: Protest gegen NPD
NPD bleibt in Weinheim unerwünscht
Michael Csaszkóczys offener Brief im Wortlaut:
Herrn Polizeipräsident Thomas Köber
Sehr geehrter Herr Köber,
Sie haben mir zu Beginn der Demonstration am 21.11. gegen den Bundesparteitag versichert, dass die Polizei kein Interesse an einer Eskalation der Lage habe. Das tatsächliche Verhalten der Einsatzleitung hat Ihre Worte allerdings konterkariert.
Zu diesem Zeitpunkt war bereits bekannt, welche Gewaltszenen sich an der Peterskirche abgespielt hatten. Es war bekannt, dass eine junge Frau mit Lähmungserscheinungen ins Krankenhaus gebracht werden musste, nachdem Polizisten wiederholt auf den Nacken der am Boden Liegenden eingeknüppelt hatten.
Ihre Pressesprecherin hat gegenüber der Presse bewusst wahrheitswidrig Steinwürfe (die es fernab in der Nordstadt gegeben hat) als Begründung für diesen brachialen Einsatz angeführt. Erst nachdem die erschreckenden Videos bereits im Netz kursierten, ließ sie sich dazu hinreißen, zu erklären: „Es gab dort einige Situationen, die waren nicht in Ordnung“. Wenn man sich ihre markigen Worte für die angeblichen Gewalttaten der DemonstrantInnen vor Augen führt, ist das ein erschreckender Euphemismus. Vom Überfall der Nazis auf einen Dönerladen, der es gewagt hatte „Döner gegen rechts“ anzubieten, ist im Bericht überhaupt keine Rede.
Wie sehr die Pressestelle ihre Rolle als „staatlich beglaubigte Informationsquelle“ zur gezielten Desinformation missbrauchte, konnte man auch an den grotesken Polizeizahlen zum Demonstrationszug beobachten. „350 DemonstrantInnen“ meldete ’spiegel online‘ selbst am nächsten Tag noch unter Berufung auf die Polizei.
Als Sie mir 10 Minuten nach Versammlungsbeginn ausgerechnet Christian Zacherle als neuen Einsatzleiter vorstellten, war klar, dass die Polizei auch beim Demonstrationszug auf Eskalation setzen würde. Herr Zacherle ist überregional nicht nur für seine Rolle im Heidelberger Spitzelskandal bekannt, sondern auch als kommunikationsunfähiger Hardliner mit einer deutlichen Abneigung gegen alles Linke. Er erklärte mir sofort, dass die im Kooperationsgespräch mit dem ursprünglichen Einsatzleiter, Herrn Dörr, gemachten Vereinbarungen für ihn keine Bedeutung hätten. Er meinte darüber hinaus, die Bestimmungen von §12 VersG interessierten ihn nicht, eine Äußerung, die er später auch noch einmal meiner Anwältin gegenüber wiederholte. Ihnen ist selbstverständlich ebenso wie Herrn Zacherle klar, dass die dort sehr unzweideutig formulierte Verpflichtung, Beamte in Zivil, die sich in die Versammlung mischen, dem Versammlungsleiter vorzustellen, auch für Versammlungen unter freiem Himmel gilt. Wir prüfen derzeit noch rechtliche Schritte gegen Herrn Zacherle.
Im Verlauf des Demonstrationszuges ließ Herr Zacherle nichts unversucht, doch noch eine Eskalation herbeizuführen: Von der hauteng geführten Begleitung durch vermummte und behelmte Kampftruppen in den engen Altstadtgassen bis zum Knüppeleinsatz gegen die Abschlusskundgebung, bei der die Beamten den TeilnehmerInnen ein Transparent entrissen.
Dass die Demonstration dennoch nicht außer Kontrolle geriet, ist der Besonnenheit und Entschlossenheit der TeilnehmerInnen zu verdanken, keinesfalls aber der eskalativen Polizeitaktik.
In mir hat sich der Eindruck verfestigt, dass hier nachträglich eine „Begründung“ für die nicht mehr zu verheimlichende Polizeigewalt am Vormittag gefunden werden sollte. Ich bin den DemonstrationsteilnehmerInnen sehr dankbar, dass sie nicht in diese Falle getappt sind.
Die Polizei Baden-Württemberg hat gerade vor Gericht mehrfach deutlich bestätigt bekommen, dass ihr selbstherrliches Auftreten als politischer Akteur, der über Recht und Gesetz steht, nicht hinzunehmen ist. Im Fall des Polizeispitzels Simon Bromma und im Zusammenhang mit Stuttgart 21 hat das Gericht mehr als klare Worte gesprochen. Die Polizeiskandale im Zusammenhang mit dem NSU in Baden Württemberg reißen nicht ab. Dass Innenminister Gall noch immer die Politik der baden-württembergischen Polizei deckt, sollte Sie nicht dazu verleiten, wieder Korpsgeist und eine „Reinwaschung“ der Polizei um jeden Preis vor eine ernsthafte Aufklärung der Geschehnisse um den NPD-Parteitag zu setzen.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Csaszkóczy
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