Von Sandy Uhl – Ulm. Die angebliche Schutzwaffe war eine etwa 20 Zentimeter lange und 15 Zentimeter breite, dünne Folie. In sie waren – wohl mit dem Locher – zwei Löcher gestanzt, um einen Bändel durchzuziehen. Da bezweifelte der Richter, ob die Folie tatsächlich einen Pfefferspraystrahl abhalten könnte. Das Landgericht Ulm stellte am Mittwoch, 16. Dezember, das Verfahren gegen einen 23-Jährigen aus Villingen-Schwenningen in zweiter Instanz ein. Ihm war vorgeworfen worden, bei einer Demonstration eine Schutzwaffe getragen und damit gegen das Versammlungsgesetz verstoßen zu haben.
Das Amtsgericht Göppingen hatte den jungen Mann wegen Tragens der sogenannten Schutzwaffe schuldig gesprochen. Die Anklagen wegen angeblicher Körperverletzung gegen einen Polizisten mit einer etwa 30 Zentimeter langen Fahne wurden schon vor dem Amtsgericht Göppingen in erster Instanz fallen gelassen (wir berichteten).
Anwalt: Antifaschistischer Widerstand ist notwendig
Der Angeklagte hatte am 12. Oktober 2013 in Göppingen an einer Demonstration gegen den Aufmarsch der Autonomen Nationalisten (AN) teilgenommen (wir berichteten). Zu dieser Gegendemonstration hatten mehrere Bündnisse und Antifaschistische Gruppen aufgerufen. Bereits im Oktober 2012 hatte es in Göppingen bei einem Aufmarsch der AN einen massiven Polizeieinsatz gegen AntifaschistInnen gegeben.
Wolfgang Treiber, Anwalt des jungen Mannes, hob gleich zu Beginn der Verhandlung hervor, dass es wichtig sei, gegen rechte Gruppierungen wie die Autonomen Nationalisten zu demonstrieren. Deren Ziel war, in Göppingen eine sogenannte „nationalbefreite Zone“ durchzusetzen.
Beschlagnahmte Sturmhaube lässt sich nicht zuordnen
Treiber betonte, dass die Anführer der AN inzwischen zu Haftstrafen verurteilt wurden und Landesinnenministers Reinhold Gall die Gruppierung verboten hat. Es sei die Motivation des Angeklagten gewesen, Widerstand gegen diese Rechtsextremisten zu leisten. Der Anwalt ging zudem auf den derzeitigen politischen Rechtsruck in Deutschland und besonders auf Pegida in Dresden ein.
Der Richter zeigte zunächst die Gegenstände auf, die dem jungen Antifaschisten bei seiner Festnahme von der Polizei abgenommen wurden. Es handelte sich um ein Paar weiße Arbeitshandschuhe, besagte Schutzfolie und eine Sturmhaube. Interessant war, dass die Sturmhaube erst im Polizeifahrzeug gefunden wurde. Sie konnte letztendlich niemandem mehr zugeordnet werden. Deshalb wurde auch das Verfahren wegen Tragens dieser Sturmhaube gegen den Antifaschisten eingestellt.
Richter: Vorliegende Videos haben keinen Beweiswert
Der Richter wies zudem daraufhin, dass sich in den von der Polizei aufgenommenen Videos kein konkreter Hinweis auf eine Schuld des Beklagten ergebe. Er bezeichnete die Videos als zusammengeschnittenes Material, aus denen der Sachverhalt nicht ersichtlich werde. Auf zwei von der Polizei als Beweis vorgelegten Fotos ist lediglich zu sehen, dass der Antifaschist auf dem Boden liegt und von zwei Polizisten fixiert wird. Die Fotos hatte sich die Polizei aus dem Internet heruntergezogen.
Als erster Zeuge wurde der Polizeibeamte S. befragt. Er sei am 12. Oktober 2013 selbst nicht vor Ort gewesen und habe die Stadt an dem Tag sogar bewusst gemieden. Das Wetter sei noch einigermaßen schön gewesen. Er ziehe es an solchen Tagen vor, sich um den Garten zu kümmern. Er habe mit der Nacharbeitung solcher Demonstrationen genug zu tun.
Polizist: Links sind Menschen, die gegen Rechts sind
Konkrete Angaben zu Teilnehmerzahlen konnte S. nicht machen. Seiner Einschätzung nach müssten es etwas mehr als 1000 GegendemonstrantInnen aus dem linken Spektrum gewesen sein. Auf die Frage, was für ihn Personen aus dem linken Spektrum sind, gab er an: „Menschen, die gegen Rechts sind.“
Als nächstes wurde Polizeiobermeister D. befragt. Er wusste nicht mehr genau, welche Straßenzüge seine Einheit entlang gelaufen war. Sie sei irgendwann von etwa 40 bis 50 Personen von hinten überfallen worden. Alles sei ziemlich schnell gegangen. Seine nächste Aussage war: „Die Leute kamen auf uns zu und sind mit den Füßen voraus auf uns drauf gesprungen. Die erste Reihe war komplett mit Bannern geschlossen.“ Ob etwas skandiert wurde, konnte er nicht mehr sagen.
Polizist erinnert sich an Schlagbewegung
Polizeiobermeister D. wusste auch nicht mehr genau, wo er gestanden hatte. Er meinte mittig wie der Angeklagte auch. Er habe wohl gemeint, eine Schlagbewegung wahrzunehmen, die von dem Angeklagten mit einer Fahne in der Hand ausging. Daraufhin habe er den jungen Mann zu Boden geworfen. Er habe sich nicht gewehrt. Erst dann sei ihm irgendwann die Schutzfolie aufgefallen, die der Antifaschist um den Hals hatte, sagte D.
Auf die Frage des Richters, ob es diese Folie war – zeigt Beweismittel – meinte er nur: „Mag sein, dass es die Folie war.“ Ob der Angeklagte verletzt war, konnte er nicht konkret sagen. Er wusste auch nicht mehr genau, wann sein Einsatz an diesem Tag begonnen hatte und wie lange die Gegendemonstrationen angemeldet waren.
Polizeimeister M.: „Das war meine erste Demonstration“
Ein weiterer Zeuge, Polizeimeister M., erklärte, erstmals bei einer Demonstration gewesen zu sein. Seine Einheit sei von hinten von etwa 20 bis 30 Personen angegriffen worden. Zumindest riefen das einige Kollegen. Die Situation sei jedoch sehr schnell unter Kontrolle gewesen, da die Kollegen eine Polizeikette gebildet hatten, so dass er nach eigener Aussage überflüssig war.
Er sei dann wieder nach vorne, um seinen Kollegen D. zu unterstützen, der auf dem am Boden liegenden Antifaschisten kniete. Er konnte sich erinnern, dass der junge Mann an der Lippe blutete. Sein Kollege hatte wohl eine Schlagbewegung gesehen, weshalb er den Angeklagten zu Boden geworfen hatte. Die Schutzwaffe habe er erst bemerkt, als der Beklagte zum Polizeifahrzeug gebracht wurde.
Verteidiger: Nur Interpretation eines Angriffs
All diese Aussagen führten bei Verteidiger Wolfgang Treiber zu dem Eindruck, dass die Polizeieinheiten nicht richtig für die Demonstration gebrieft waren. Er wies zudem darauf hin, dass Polizisten einen sogenannten Angriff interpretiere, obwohl DemonstantInnen eventuell nur an ihnen vorbei gehen wollten. Auf Seiten der Polizei habe es durch die schlechte Vorbereitung keine Möglichkeiten zur Deeskalation gegeben.
Das Versammlungsrecht, erklärte Treiber, habe offensichtlich ebenfalls keine große Rolle gespielt. Denn es waren durchaus Versammlungen bis nach 17 Uhr in Göppingen angemeldet gewesen und auch nicht durch VersammlungsleiterInnen vorzeitig aufgelöst worden. Die Polizei hingegen wies immer wieder darauf hin, dass die letzte Gegenkundgebung um 11.07 Uhr beendet wurde. Das wurde jedoch durch verschiedene Medienberichte zum Geschehen am 12. Oktober 2013 in Göppingen widerlegt (sie hierzu auch unser Bericht „Mit Schlagstock und Pfefferspray schnell bei der Hand„).
Angeklagter und Staatskasse teilen sich die Gerichtskosten
Der Angeklagte selbst äußerte sich nicht zu den Vorwürfen. Er verzichtete auf die Rückgabe der Arbeitshandschuhe und der Sturmhaube, von der man sowieso nicht weiß, wem sie gehört. Treiber schlug vor, letztere doch in die Asservatenkammer des Amtsgerichts Ulm aufzunehmen. Das bewegte die anwesenden UnterstützerInnen des Antifaschisten zu einem kleinen Schmunzeln. Sie hatten bereits mehrfach ihre Solidarität mit dem Angeklagten bekundet, indem sie der Aufforderung des Gerichtsdieners, sich zu erheben, nicht nachkamen.
Nach einer zweistündigen Verhandlung wurde das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Zuvor hatten sich der Verteidiger und der Staatsanwalt darauf geeinigt, dass die notwendigen Kosten zur Hälfte vom Angeklagten übernommen werden. Mit dem Urteil zeigte sich der 23-jährige Antifaschist zufrieden. Sein Kampf gegen Rechts gehe weiter.
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