Von Tape Lago – Dreieich. 700 AntifaschistInnen und andere BürgerInnen demonstrierten am Samstag, 9. Januar, in Dreieich im Landkreis Offenbach in Hessen gegen einen am Montag, 4. Januar, verübten Mordanschlag auf dort untergebrachte Flüchtlinge in ihrer Unterkunft. Unter dem Motto „Solidarität mit allen Geflüchteten! Das Problem heißt Rassismus!“ hatte das Bündnis „Solidarität Dreieich“ die Bevölkerung aufgerufen, ein starkes Zeichen gegen Fremdenhass zu setzen und ihre Solidarität mit Asylsuchenden kundzutun.
Die Auftaktkundgebung, die am Bahnhof Dreieich-Dreieichenhain für 14 Uhr geplant war, startete mit einer kleinen Verzögerung, da AntifaschistInnen und AktivistInnen aus Frankfurt noch auf dem Weg zum Veranstaltungsort waren.
Eine neue Dimension des Terrors gegen Flüchtlinge
Eine Flüchtlingshelferin aus Überzeugung bezeichnete den Mordanschlag durch Schüsse auf die Flüchtlingsunterkunft als „neue Dimension des Terrors“ auf Flüchtlinge. Es sei für sie nicht akzeptabel, dass die Bundesregierung gegen diesen „Terror von Rechts“ nichts unternehme und nur an die Verschärfung der Asylgesetzte denke.
Über Tatmotive und Täter ist bislang nichts bekannt. Trotzdem nehmen viele AntifaschistInnen und BürgerInnen an, dass es sich hier um einen rechtsradikalen Anschlag handelte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Mordversuchs, und eine Sonderkommission arbeitet an dem Fall.
Die Delegation aus Frankfurt mit mehr als 100 AntifaschistInnen und Aktivistinnen wurde mit großer Begeisterung empfangen. „Nun sind die FrankfurterInnen da, und es kann jetzt losgehen“, freute sich ein Aktivist und Flüchtlingshelfer aus der Pfalz.
Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem
Gekommen waren viele aus dem linken und antifaschistischen Spektrum. Hunderte FlüchtlingshelferInnen, GewerkschaftlerInnen, Geflüchtete und Politikerinnen der Grünen warteten bereits auf dem Bahnhofsplatz. Janine Wissler von der Linken, Abgeordnete des Hessischen Landtags und stellvertretende Parteivorsitzende, war ebenfalls da, um ihre Solidarität mit den Geflüchteten zu zeigen.
Bei der Auftaktkundgebung betonte Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl in Frankfurt, dass der Rassismus ein gesellschaftliches Problem sei, das bekämpft werden muss. Nach einem Redebeitrag des hessischen Flüchtlingsrats zog der bunte und vielfältige Demonstrationszug durch die Stadt.
Die TeilnehmerInnen trugen Plakaten und Transparente. Die Antifa zeigte ihren Protest mit Fahnen und lautstarken Parolen: „Nazis vertreiben, Flüchtlinge bleiben! Say it loud, say it clear – refugees are welcome here! “
Nach dem Attentat haben die Flüchtlinge in der Unterkunft Angst
Vor der Unterkunft in der Gleisstraße gab es eine Zwischenkundgebung. Die TeilnehmerInnen brachten dort ihre Solidarität mit den Flüchtlingen zum Ausdruck, um ihnen Kraft zu geben, die Ängste nach dem Mordanschlag zu überwinden. Nach Angaben der Polizei waren am frühen Morgen um 2.30 Uhr „mehrere Schüsse“ auf die Unterkunft abgegeben worden. Sie durchschlugen ein Fenster und verletzten einen dort schlafenden 23-jährigen Asylsuchenden. Seit dem Anschlag leben die Geflüchteten in dieser Unterkunft in Angst und fürchten weitere Attentate.
Bei der Zwischenkundgebung forderte die Gruppe Kritik und Praxis Frankfurt Politik und Gesellschaft auf, den rechten Terror zu stoppen. Anschließend, kehrte der Demonstrationszug zum Bahnhof zurück, wo die Abschlusskundgebung abgehalten wurde.
Am Ende der Veranstaltung bedankte sich ein Sprecher der Geflüchteten bei den TeilnehmerInnen für Ihre Solidarität. Die erfolgreiche und friedliche Demonstration war für die Stadt Dreieich eine Premiere. Eine solche Demonstration hatte es zuvor nie in der Kleinstadt gegeben. Die Polizei war mit dem Verlauf der Veranstaltung offenbar sehr zufrieden.
*********************************
Stellungnahme des Demo-Vorbereitungskreises vom 10. Januar 2016:
Demo großer Erfolg / Kritik an Entsolidarisierung
Mindestens 700 Menschen sind am vergangenen Samstag mit uns in Dreieich-Dreieichenhain auf die Straße gegangen, um ihre Solidarität mit allen Geflüchteten auszudrücken und gegen den rassistischen Normalzustand zu demonstrieren. Das war ein voller Erfolg. Die Schar der Teilnehmenden bot eine bunte und überraschend harmonische Mischung aus Antifas, Gewerkschafter_innen, linken Gruppen, Lokalpolitiker_innen, Familien und Anwohner_innen. Es beteiligten sich viele Leute aus Dreieich und der unmittelbaren Umgebung, aber auch aus Städten wie Frankfurt, Offenbach, Wiesbaden und Marburg waren Aktivist_innen angereist.
Die Demonstrierenden trafen sich ab 14 Uhr am Bahnhof Dreieich-Dreieichenhain. Gegen 14.30 Uhr zogen die Teilnehmer_innen über die Waldstraße und die Hainer Chaussee mit lautstarken Parolen wie »Nazis vertreiben, Flüchtlinge bleiben« und »Say ist loud, say it clear – refugees are welcome here« zur Unterkunft für Geflüchtete in der Gleisstraße. Dort wurde eine kurze Zwischenkundgebung abgehalten. Anschließend ging es über den Heckenweg, An der Trift und Waldstraße zurück zum Bahnhof Dreieich-Dreieichenhain, wo eine Abschlusskundgebung stattfand. Die anwesende Polizei beschränkte sich angenehmerweise auf die Regelung des Verkehrs. Redebeiträge gab es u.a. von Pro Asyl, dem Hessischen Flüchtlingsrat und der Gruppe Kritik und Praxis Frankfurt. In den Reden wurde klar gemacht, wie staatlicher und gesellschaftlicher Rassismus zusammenhängen und dass es sich beim Rassismus nicht um ein Randphänomen dieser Gesellschaft handelt. Ein Redner sagte: »Wer von der CDU nicht sprechen will, soll von Nazis schweigen«.
Auf der Abschlusskundgebung haben wir zu Spenden aufgerufen, um die angefallenen Kosten für die Demonstration zu decken. Es wurden insgesamt 325 Euro gespendet; für die Mobilisierung, den Wagen und die Lautsprecheranlage wurden 225 Euro fällig. Das heißt, es sind noch etwa 100 Euro übrig, die wir an die Initiative „Project Shelter“ aus Frankfurt am Main weitergeben, die sich dort für sein selbstverwaltetes migrantisches Zentrum einsetzen.
Wir haben aus der Auseinandersetzung vor, während und vor allem um diese Demonstration in erster Linie gelernt, dass die politischen Zustände vor Ort leider schlimmer sind, als wir dachten. Für unser Vorhaben einer großen, antirassistischen Demonstration wurden wir von vielen Seiten angegangen, von denen wir uns eher eine solidarische Unterstützung erhofft hätten. Wir heben nach wie vor lobend das Engagement vieler Bürger_innen aus Dreieich hervor und zitieren auch gerne noch einmal aus unserer Pressemitteilung: »In den vergangenen Monaten wurde viel ehrenamtliche Arbeit zur Unterstützung von Asylsuchenden geleistet; Kleiderspenden wurden organisiert und Sprachkurse veranstaltet. Verschiedene Initiativen wie das „Netzwerk Flüchtlingshilfe Dreieich“ sorgten mit ihrem Engagement dafür, dass den Geflüchteten das Ankommen erleichtert wird«.
Doch wie aus gut gemeinter Hilfe manchmal extreme Bevormundung werden kann und das eigene Engagement für Geflüchtete zuweilen zu einem aggressiven Beißreflex gegen all jene führt, die andere Konzepte und politische Schwerpunkte in Reaktion auf den Anschlag bevorzugen, hat die Auseinandersetzung um die Demo in Dreieich bedauerlicherweise veranschaulicht. Es scheint, als ginge es manchen Akteur_innen vor Ort vor allem um die Imagepflege einer über Nacht in die bundesweiten Schlagzeilen geratenen Kleinstadt. Eine kritische Auseinandersetzung mit eigenen rassistischen Potenzialen und rechten Tendenzen vor Ort wird auf diese Weise umgangen.
So heißt es in einem Artikel der Frankfurter Rundschau über Samstag, dass ein »zuvor unbekanntes Bündnis« zu der Demonstration aufgerufen habe. Und weiter: »Die Dreieicher Parteien, der Magistrat, auch die Kirchengemeinden und der lokale Unterstützerkreis für Flüchtlinge, das Lern-Café, hatten sich dem Aufruf nicht angeschlossen«. Der Vorsitzende der Grünen Dreieich bedauerte laut dem Artikel, dass dies nicht geschehen sei. »Es wären sonst sicher noch mehr Leute gekommen«, glaubt er. Aber man habe einfach nicht gewusst, mit wem man es bei den Veranstaltenden zu tun habe, so der Lokalpolitiker: »Da hieß es, man wolle keine Namen nennen, solange ein Heckenschütze unterwegs sei, aber was sollen wir Lokalpolitiker denn dann sagen? Wir halten unseren Kopf immer hin«. Oh je. Es mag übrigens durchaus sein, dass noch ein paar mehr Leute gekommen wären, wenn die Dreieicher Grünen zu der Demo aufgerufen hätten (wir hatten sie übrigens persönlich per Mail eingeladen). Aber hätten sie die Demo (mit-)veranstaltet – und dass sie das nicht durften, war es, was sie eigentlich so fuchste – wären nicht einmal die Hälfte der Teilnehmenden vom Samstag zusammen gekommen.
Was wir mit unserer in einer Pressemitteilung formulierten Sorge vor einer »parteipolitischen Vereinnahmung« meinten, demonstrierte eben jener Grünen-Vorsitzende aus Dreieich relativ anschaulich in einer gemeinsamen Presseerklärung mit einer Landtagsabgeordneten der Partei nach der Demo: »Fremdenfeindlichkeit hat in Hessen und anderswo keinen Platz und muss mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden. Dieses Signal der Solidarität haben wir von Dreieich aus gesendet (…) Wir danken den zahlreichen Menschen, die nach Dreieich gekommen sind und gezeigt haben, wie wichtig uns allen Willkommenskultur und gesellschaftliches Miteinander sind«. Wir danken den Grünen auch – für nichts.
Dem »Flüchtlingsnetzwerk Dreieich« wollten wir eigentlich einen Redebeitrag anbieten. Zwei der Hauptpersonen befanden sich aber leider im Urlaub – und im Telefonat mit der Initiatorin des Flüchtlingscafés wurde unser Vorhaben einer Demonstration als »dumm« zurückgewiesen; sie habe sogar schon »Anrufe aus Bad Homburg« bekommen, dabei wolle man doch »keine Leute von außerhalb«, weil die Geflüchteten in der Gleisstraße ihre Ruhe bräuchten und kein Interesse an einer Demo vor ihrer Haustür hätten. Selbst am Tag der Demo versuchte die Dame noch, uns von unserem Plan abzubringen, schließlich wüsste endgültig jeder, wo sich das Heim befinde, wenn wir dort hinzögen. Auch die Frankfurter Rundschau zitiert in ihrem Artikel »eine der lokalen Flüchtlingshelferinnen«, die »nicht mitlaufen will« – die Vermutung liegt nahe, dass es sich um dieselbe Person handelt: »Dass es einen Marsch zu der Unterkunft gibt, wollten wir auf keinen Fall (…) Ich war seit Montag mehrfach dort, die Leute sind schon verängstigt genug. Und spätestens seit den Live-Übertragungen im Fernsehen weiß nun wirklich jeder, wo das Haus steht«.
Auf das von uns entgegengebrachte Argument, dass wir mit den Bewohner_innen der Unterkunft gesprochen, sie über unsere Demonstration mithilfe des Aufrufs in Englisch, Arabisch und Farsi informiert und ihr Einverständnis eingeholt hatten, ging die Dame nicht ein. Sie ließ sich scheinbar auch nicht von dem Grußwort eines Bewohners der beschossenen Unterkunft auf unserer Abschlusskundgebung irritieren, der uns für die Demonstration und unsere Solidarität dankte. Überhaupt hätte sie diese an uns gerichteten Worte – ihrer aufgebrachten Gestikulation im Gespräch mit dem entsprechenden Geflüchteten nach zu urteilen – wohl am liebsten ganz unterbunden.
Wir bedanken uns trotzdem noch mal bei allen Leuten, die – ob mit oder ohne und unabhängig von ihrem Parteibuch – mit uns gemeinsam auf der Straße waren, weil es ihnen wichtig war, angesichts der Gewalteskalation gegen Asylsuchende und deren Unterkünfte in den vergangenen Monaten ein starkes Zeichen gegen Rassismus und für die Solidarität mit allen Geflüchteten zu setzen. Wir wissen, dass einige Lokalpolitiker_innen und viele Menschen, die sich ehrenamtlich für Asylsuchende engagieren, an der Demonstration teilgenommen und deren Organisation und Verlauf begrüßt haben und freuen uns über die vielen Dreieicher Bürger_innen, die uns ihre Unterstützung angeboten haben.
Wie notwendig es ist, die Losung »Das Problem heißt Rassismus« auch nach wie vor hochzuhalten, demonstrieren die ebenso erwartbar wie widerlichen Versuche, die schauerlichen Vorkommnisse an Silvester in Köln auf die Attacke in Dreieich zu beziehen und auf diese Weise die Schüsse auf einen unschuldigen Asylsuchenden als quasi präventive Notwehr zu rechtfertigen. Leute, die uns per Mail oder bei Facebook fragen, wieso wir nicht gegen Sexismus demonstriert hätten; die in Kommentarspalten unter einem Bericht zur Demo schreiben, weshalb »nicht gegen die unglaublichen Vorgänge in Köln an Sylvester begangen von einer Horde höchstwahrscheinlich ausschließlich muslimischer Männer« auf die Straße wurde, tun das nicht, weil sie Feminist_innen sind und sexualisierte Gewalt zurecht verurteilen, sondern schlicht weil sie Rassist_innen sind.
Euer Vorbereitungskreis
Folge uns!