Stuttgart. Über 800 Gäste beim Auftakt der baden-württembergischen Linken zum Endspurt im Landtagswahlkampf: Damit war der Kursaal in Stuttgart-Bad Cannstatt proppenvoll. Der frühere Bundestagsfraktions-Chef der Linken Gregor Gysi forderte, Kriege und Hunger als wichtigste Fluchtursachen zu bekämpfen. Ohne eine gerechtere Wirtschaftsordnung drohe die Lage weltweit außer Kontrolle zu geraten. Scharf wandte er sich gegen Rüstungsexporte. Spitzenkandidat Bernd Riexinger zeigte sich „zutiefst besorgt“ über das Aufstreben rechter und rechtspopulistischer Parteien.
„Wir erleben gerade eine Polarisierung wie lange nicht“, sagte Bernd Riexinger am Donnerstag, 28. Januar. Ihn erschrecke die „ungeheure rechte Hetze“. Es habe „eine unrühmliche Tradition in Deutschland, dass nach unten getreten und nach oben gebuckelt wird“ und man die, denen es noch schlechter geht, als Sündenböcke abstempelt. Noch schlimmer sei, „dass andere Parteien das dreiste Ausspielen von Menschen gegen Flüchtlinge mitmachen“.
So sei unter Beteiligung Horst Seehofers (CSU) die Axt an die Sozialsysteme gelegt worden. „Solche Politiker betreiben in doppelter Hinsicht das Geschäft der Rechten“, kritisierte der Bundesvorsitzende der Linken. Das Drama sei, dass 62 Menschen auf der Welt mehr besitzen als 3,5 Milliarden andere Menschen: „Wir sollten uns empören über diesen unverschämten Reichtum und diese unverschämte Armut“.
Gysi: Keine Obergrenze für Flüchtlinge
„Rechtsextreme können auch sozial sein. Aber in der Flüchtlingsfrage müssen wir uns unterscheiden“, zog Gregor Gysi eine klare Linie. Eine Obergrenze für Flüchtlinge könne es nicht geben. Mauern und Grenzzäune lösten keine Probleme. So könne man etwa einen homosexuellen Asylsuchenden nicht nach Saudi Arabien zurückschicken, wo ihm die Hinrichtung droht, wenn die Obergrenze erreicht sei.
Deutschland habe eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Nun finde sich die Linke in der merkwürdigen Situation, Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen ihre eigenen Reihen verteidigen zu müssen. Man erlebe in Deutschland eine Polarisierung zwischen denen, die für Offenheit und denen, die für Abschottung stehen. Nun zeige sich ein „Anwachsen von Rassismus, Hass, Gewalt“ in nicht gekanntem Ausmaß. Neu sei nicht, dass es solche Positionen gebe, sondern dass die Leute offen zu ihnen stehen.
Deutschland muss Waffenexporte einstellen
Fluchtursache Nummer eins sind Kriege. Man müsse sie sofort stoppen, forderte Gysi – und daher deutsche Waffenexporte in Länder wie Saudi Arabien einstellen. Deutschland verdiene als drittgrößtes Rüstungsexportland der Welt an allen Kriegen. Ebenso nötig sei eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Von 70 Millionen Menschen, die jährlich sterben, erlitten 18 Millionen den Hungertod. Dabei würden weit mehr Lebensmittel produziert als gebraucht. Man müsse die Konzerne dazu verpflichten, die Menschen zu versorgen.
„Die Silvesternacht von Köln war eine Zäsur“, räumte Gysi ein. Die Übergriffe seien furchtbar gewesen, und die Polizei habe versagt. Wer sexuelle Gewalt an Frauen begehe, müsse so schnell wie möglich bestraft werden – unabhängig von seiner Nationalität. Jetzt gelte es, die Flüchtlinge anständig zu behandeln, sie gut unterzubringen und zu integrieren. „Wir brauchen den Integrationslehrer als neuen Beruf“, forderte Gysi. Es dürften keine Gettos entstehen, und die Flüchtlinge müssten in den Arbeitsmarkt integriert werden.
„Sexuell-erotisches Verhältnis zur schwarzen Null“
Dabei dürfe man auch den ärmeren Teil der Bevölkerung nicht vergessen. Seit Jahren brauche man mehr sozialen Wohnungsbau, mehr Lehrerinnen und Lehrer, mehr Investitionen in die Infrastruktur. Gysi forderte von der Bundesregierung, die Kommunen besser auszustatten, damit sie die Aufnahme von Flüchtlingen bewältigen.
Doch die habe „ein „sexuell-erotisches Verhältnis zur schwarzen Null“, erklärte Gysi zur Freude seines Publikums. Das mache die Lage schwierig. Triebe seien eben schwer zu steuern. Er prangerte auch die zunehmend ungleiche Einkommens- und Vermögensentwicklung in Deutschland und die ausufernde prekäre Beschäftigung gerade jüngerer Menschen an.
Ein linkes Projekt gegen die Rechtsentwicklung
Von seiner eigenen Partei forderte er, „ein linkes Projekt gegen die Rechtsentwicklung zu setzen“. Bei dieser „historischen Aufgabe“ sei man auch verpflichtet, über den eigenen Schatten zu springen. Die Linke müsse auch um die EU kämpfen – „aber für eine andere“. Und sie müsse das Völkerrecht verteidigen. Früher hätten sich mit den USA und der Sowjetunion zwei Blöcke gegenüber gestanden. Nach der Auflösung des Warschauer Pakts hätten es die Vetomächte der Vereinten Nationen jedoch versäumt, eine neue Weltordnung zu schaffen.
Der Westen habe im Jugoslawienkrieg das Völkerrecht gebrochen. Nun könne er Russland gegenüber nicht glaubwürdig auf das Völkerrecht pochen. Es sei nötig, ihm neue Geltung zu verschaffen. Die Annexion der Krim sei völkerrechtswidrig gewesen – wenn auch in gewissem Sinn verständlich. Nach George W. Bushs Ankündigung, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, habe Wladimir Putin befürchten müssen, die russische Schwarzmeerflotte werde eines Tages mitten in deren Gebiet stehen.
Diplomatie statt Waffengewalt
Um den Syrienkrieg zu beenden, müsse man auch mit Baschar al-Assad reden – möge er auch die Menschenrechte verletzen und ein schrecklicher Diktator sein. Das sei aber auch der König von Saudi Arabien. Das Land sei der drittgrößte Importeur deutscher Waffen und bombardiere den Jemen. In den letzten 15 Jahren habe es für 2,6 Milliarden Euro Rüstungsgüter gekauft und den IS zunächst mitfinanziert – ebenso wie Katar.
Die Türkei wiederum habe den IS geschätzt, weil er gegen Assad kämpft. Doch die außenpolitische Maxime „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ erweise sich immer wieder als fatal. „Es ist immer das um die Ecke denken in der Politik, da kommt nur geklonter Mist raus“, sagte Gysi unter Beifall. Deutschland müsse stattdessen zu einem Akteur werden, der Konflikte befriedet statt sie mit Waffen anzuheizen.
Rockenbauch verärgert über gebrochene Wahlversprechen
Hannes Rockenbauch, parteiloser Stadtrat der Fraktion SÖS-Linke-Plus und Landtagskandidat in Stuttgart, hatte den Abend in Bad Cannstatt eröffnet. Er habe manchmal den Verdacht, dass Wahlversprechen nicht umgesetzt würden, damit man sie jetzt erneut plakatieren kann, stichelte er gegen die grün-rote Landesregierung. Als Beispiel nannte er das von der SPD versprochene kostenlose Kindergartenjahr.
Ebenso kritisierte er, dass das umstrittene Immobilien- und Spekulationsprojekt Stuttgart 21 nun „nahezu widerspruchslos“ weitergebaut werde. „Und ich Simpel habe vor fünf Jahren Winfried Kretschmann gewählt“, bekannte er vor der johlenden Versammlung.
Gökay Akbulut prangert Armut in Baden-Württemberg an
Das wird Rockenbauch am 13. März gewiss nicht noch einmal passieren. „Ich freue mich auf einen offensiven und kämpferischen Wahlkampf“, rief Gökay Akbulut in die Menge, Stadträtin der Linken in Mannheim und Teil des Spitzenkandidaten-Duos bei der Wahl. Im Landtag fehle mit der Linken eine Kraft, die sich konsequent für soziale Gerechtigkeit und eine Umverteilung von oben nach unten stark mache, überdies „klare Kante gegen Rassismus und Rechtspopulismus zeigt“.
Im reichen Baden-Württemberg lebten 1,6 Millionen Menschen in Armut, empörte sich die Mannheimerin. Es habe kein Politikwechsel für diejenigen stattgefunden, die verzweifelt eine bezahlbare Wohnung suchen, sich keinen Kita-Platz oder keine Fahrkarte leisten können. Der von Rockenbauch begonnenen Liste gebrochener Wahlversprechen fügte sie noch die nicht-eingeführte Kennzeichnungspflicht für Polizisten hinzu.
„Die Flüchtlingskrise ist eine Systemkrise“
Die Flüchtlingskrise sei in Wahrheit „eine Systemkrise der neoliberalen Politik“. Von 60 Millionen Menschen, die weltweit vor Krieg, Hunger, Not, Ausbeutung und Umweltzerstörung fliegen, schaffe es nur ein Bruchteil nach Deutschland. „Wir als Linke halten an unseren humanistischen Grundsätzen fest“, stellte Akbulut klar: „Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass ein grüner Ministerpräsident das Asylrecht verschärft!“
Waffenexporte aus Baden-Württemberg müssten endlich verboten werden. Auch sei es fatal, mit der Türkei gemeinsame Sache zu machen. Sie führe Krieg gegen die eigene Bevölkerung und unterstütze weiter den IS, sagte Akbulut, die kurdische Wurzeln hat und im Alter von neun Jahren nach Deutschland kam. Es sei nun Aufgabe der Linken dafür zu sorgen, „dass Flüchtlinge nicht gegen Arme und noch Ärmere ausgespielt werden“.
Gute Stimmung auch beim Neujahrsempfang in Tübingen
Vor seinem Auftritt in Bad Cannstatt hatte Gregor Gysi beim Neujahrsempfang der Tübinger Linken vor über 600 Zuhörerinnen und Zuhörern – unter ihnen auch Vertreter anderer Parteien. Dort sorgte die Band „The Tapas“ für Stimmung. Weitere Redebeiträge kamen von der Bundestagsabgeordneten und stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Heike Hänsel, Margrit Paal vom Kreisvorstand und der Kreistagsfraktion der Linken und vom Landtagskandidaten Bernhard Strasdeit.
Es möge ungewöhnlich sein, dass die Linke als Kapitalismus-kritische Partei ins Sparkassen Carré einlade, sprach Strasdeit den Versammlungsort an. Doch die Kreissparkasse sei nicht die Deutsche Bank. Verhielten sich alle Geldhäuser nach ihren Regeln, hätte es keine Finanzkrise gegeben. Eine Einrichtung wie die Sparkassen könne es durchaus auch noch im Sozialismus geben. Nach Gysis Rede gab es Brezeln und Wein – allerdings ohne den Ehrengast, der weiter nach Bad Cannstatt musste.
- Heike Hänsel, Gregor Gysi, Margrit Paal und Bernhard Strasdeit (v.l.n.r.)
- Gregor Gysi
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