Von unseren ReporterInnen – Stuttgart. Tolle Stimmung bei Musik von Irie Revoltés auf dem Schlossplatz, bei einer weiteren Kundgebung oberhalb und dem Kulturfest „Shakespeare in Love“ vor der Stuttgarter Oper: Am bunten, kreativen und zum Teil auch entschlossenen Protest gegen die reaktionäre „Demo für Alle“ beteiligten sich am Sonntag, 28. Februar, weit über 3000 Menschen. Der Tag wurde dadurch getrübt, dass die Polizei offensichtlich nicht mit dem Auftrag der Deeskalation in die Stuttgarter Innenstadt gekommen war. Ihr hartes Vorgehen und ihre nachträglichen Rechtfertigungsversuche boten in der vergangenen Woche Diskussionsstoff (siehe auch unten den Kommentar „Armutszeugnis für einen Rechtsstaat“).
Die Reiterstaffel ging besonders rücksichtslos gegen die zum Teil sehr jungen DemonstrantInnen vor, die zivilen Ungehorsam zeigen und sich der „Demo für Alle“ in den Weg stellen wollten. Zu dem im Umfeld der AfD organisierten neunten Aufmarsch christlicher Fundamentalisten, Konservativer und offen Rechtsradikaler – offiziell gegen den Bildungsplan der grün-roten Landesregierung – kamen etwa 4500 Menschen. Das waren weniger als beim letzten Mal.
Unter ihnen waren erneut viele Eltern, die ihre Kinder mitbrachten, um gegen angeblich drohende „Frühsexualisierung“ zu protestieren, und sie rosa oder blaue Plakate und Anstecker spazierentragen ließen. Die „Demo für Alle“ hielt eine Kundgebung auf dem Schillerplatz ab und zog dann eine kurze Strecke die Stadtautobahn entlang zurück zum Ausgangsort. An den Zugängen zum Schillerplatz und auf der Demoroute gab es Protest.
Demo-Sanitätsdienst behandelte 107 Verletzte
Die Polizei war nach eigenen Angaben mit 500 Beamten vor Ort. Sie berichtete in einer ersten Pressemitteilung noch am frühen Sonntagabend von drei verletzten Beamten, von denen sich einer mehrfache Fingerbrüche zugezogen hatte. Auch 15 DemonstrantInnen seien durch den Einsatz von Schlagstock und Pfefferspray verletzt worden. Später war von sechs verletzten BeamtInnen die Rede. Polizei-Pressesprecher Olef Petersen sprach gegenüber den „Stuttgarter Nachrichten“ von einer „höheren Eskalationsstufe als je zuvor“.
Das stimmt mit unseren Beobachtungen überein – allerdings nicht in der Frage, von wem die Gewalt ausging. Die Demosanitätsgruppe Süd-West hat 107 PatientInnen behandelt. Mindestens 17 mussten zur Weiterbehandlung ins Krankenhaus. Die Diskrepanz zwischen den Zahlen dürfte vor allem dadurch zustande kommen, dass der offizielle Rettungsdienst von den meisten Opfern von Pfefferspray-Attacken nichts erfährt und die Polizei sie nicht mitzählt (Näheres siehe unten).
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Sanitäter werfen der Polizei Behinderung ihrer Arbeit vor
Die Demo-Sanitätsgruppe Süd-West warf der Polizei in einer Pressemitteilung überzogenes Vorgehen vor. Die Sanitäter berichteten auch von massiver Behinderung ihrer Arbeit durch die Polizei. Weder hätten die Sanitäter ungehindert zu Verletzen gehen können, noch konnten Hilfesuchende ungehindert zu ihnen durchdringen.
Selbst „offensichtlich verletzte Personen, die zum öffentlichen Rettungsdienst wollten, wurden von der Polizei weiter mit Pfefferspray massiv angegangen“. Später gab die Polizei den Verkehr wieder frei, obwohl sich noch Verletzte auf der Straße aufhielten und die Rettungswagen noch nicht abgefahren waren.
Polizei ermittelt gegen AktivistInnen
Laut Polizei wurde in den Tagen nach der „Demo für Alle“ eine zweistellige Zahl von Ermittlungsverfahren gegen GegendemonstrantInnen eingeleitet. Sie werte Videomaterial aus, in Betracht kämen Landfriedensbruch oder Körperverletzung.
Immer wieder drängte am Sonntag die Reiterstaffel an der Planie beim Zugang zum Schillerplatz GegendemonstrantInnen ab, wobei einzelne Beamte auch verbal provozierten. Eine Gegendemonstration am Wilhelmsplatz wurde mit Pfefferspray und Schlagstockhieben aufgelöst, ehe die „Demo für Alle“ dort auch nur angekommen war. Augenzeugen berichten, dass es zuvor auch keine Durchsagen gab. Dort gab es die meisten Verletzten. Viele Betroffene erlitten Platzwunden oder schwere Hämatome, unter denen sie noch immer leiden.
Unbekannte attackieren GegendemonstrantInnen
Einen schweren Zwischenfall hatte es schon am frühen Nachmittag noch während der Auftaktkundgebung des Aktionsbündnisses gegen die „Demo für Alle“ am Zugang vom Schlossplatz zum Schillerplatz gegeben. In dem Bogen standen zunächst wenige Beamte locker hinter Hamburger Gittern. Vor ihnen – und mit dem Rücken zu ihnen – stand eine Gruppe junger AktivistInnen, die Transparente hielten.
Wenige Augenblicke später bekamen die Polizeibeamten von Kollegen mit Helm und Schlagstock Verstärkung. Sie standen nun dicht an dicht hinter Hamburger Gittern. Aus Richtung der Buchhandlung Wittwer gingen vier zum Teil schwarz gekleidete Personen auf die AntifaschistInnen zu. Vor den Augen der PolizeibeamtInnen begannen sie ohne jedes Zögern zuzuschlagen. Ob es sich bei den ProvokateurInnen um angeblich „besorgte Bürger“, Neonazis oder eine Personengruppe im Umfeld der Polizei handelte, können wir nicht sagen.
Polizei macht den Durchgang mit Pfefferspray frei
Die Polizei machte keine Anstalten, den Schlägern Einhalt zu gebieten, sie in Gewahrsam zu nehmen oder wenigstens ihre Identität festzustellen. Sie räumte ihnen vielmehr mit dem Einsatz von Pfefferspray gegen die AntifaschistInnen den Weg frei. Die Schläger konnten unbehelligt über die aufgestellten Hamburger Gitter klettern und in der Menge der „Demo für Alle“ auf dem Schillerplatz verschwinden.
Im Polizeibericht liest sich das so: „An der Absperrung der Planie zum Schillerplatz und am Durchgang vom Schloßplatz zum Schillerplatz kam es mehrfach zu Rangeleien zwischen Personen, die die Kundgebung der Bildungsplangegner stören wollten und der Polizei. Um zu verhindern, dass diese Personen auf den Schillerplatz gelangten und Absperrgitter überstiegen, setzten Polizeibeamte gegen einzelne Personen Pfefferspray ein.“ Diese Darstellung des Vorfalls am Schlossplatz können wir in keiner Hinsicht bestätigen.
Im Vorfeld wurden auch Aufkleber beschlagnahmt
Die Kontrollen begannen schon vor der Auftaktkundgebung des Bündnisses „Keine Demo für Alle“ um die Mittagszeit. Die Polizei hielt den Aktivisten auf, der das Benzin für den Generator des Bühnenwagens transportierte, erteilte ihm einen Platzverweis und beschlagnahmte den Kanister. Nur mit viel Mühe und gutem Zureden ließen sich die Beamten überzeugen, dass ein Generator Kraftstoff braucht. Schließlich hoben sie den Platzverweis auf und brachten den Kanister eigenhändig zum Schlossplatz.
Eine junge Demonstrantin konnte es kaum fassen, dass ihr die Polizei 28 Aufkleber abnahm – nicht etwa wegen eines womöglich unzulässigen Inhalts der Aufschriften, sondern weil angeblich schon so viele hingen. Abends um 20 Uhr hätte sie das Material wieder abholen dürfen. Andere mussten ihre Fahnen abgeben, weil sie als Schlagwerkzeug eingesetzt werden könnten. Dagegen konnten die Teilnehmer der „Demo für Alle“ völlig ungehindert mit Plakaten auf Dachlatten hantieren.
Reden von Rosa Opossum und Alfonso Pantisano
Musik des Sängers Mal Elevé von Irie Revoltés prägte die Atmosphäre bei der Auftaktkundgebung mit über tausend Menschen auf dem Schlossplatz.
Dort gab es eine Rede des veranstaltenden Aktionsbündnisses gegen die „Demo für Alle“. Sie sei Teil des Rechtsrucks und die Verbindung der AfD mit religiösen Fundamentalisten und dem baden-württembergischen Neonazi-Potenzial.
Eine viel beachtete Ansprache hielt auch Rosa Opossum (siehe unten im Wortlaut) aus Darmstadt. Der/die AktivistIn schilderte, wie es war, als im Juni erstmals eine kleine Gruppe aus Hessen zur „Demo für Alle“ kam: „Das was wir da erlebt haben, hat uns nachhaltig beeindruckt. 4000 religiöse Fundis und Ultrakonservative, die ihre Kinder mitbringen, um mit Nazis Hand in Hand durch die Stadt zu spazieren und uns ungehindert als Kranke, Pädophile, Kriminelle oder Ausgeburten des Teufels zu diffamieren.“ Am Sonntag kamen an die hundert AktivistInnen aus Darmstadt und Frankfurt nach Stuttgart.
Bei einer Kundgebung auf dem Kleinen Schlossplatz mit bis zu 500 Menschen sprach unter anderem Alfonso Pantisano von der Initiative „Enough is enough“ aus Berlin.
Erneut viele Kinder bei Demo gegen „Frühsexualisierung“
Auf dem Schillerplatz gab es währenddessen verstörende Redebeiträge gegen Homosexuelle und die grün-rote Landesregierung. So sprachen etwa der Generalsekretär der Evangelischen Allianz Deutschland Hartmut Steeb, aber auch der Vizepräsident der Initiative „La Manif Pour Tous“, des Vorbilds der „Demo für Alle“, aus Paris, ebenso der Salzburger Weihbischof Andreas Laun und die Demo-Organisatorin Hedwig von Beverfoerde.
Die Piratenpartei hatte Wahlplakate mit der Aufschrift „Vater Vater Kind“ auf dem Schillerplatz aufgehängt. Mehrere wurden entfernt, zugehängt oder mit Aufklebern überdeckt, berichten die Piraten in einer Pressemitteilung. Die Polizei nahm in diesem Zusammenhang eine Anzeige auf. Der Vorwurf lautete politisch motivierte Straftat.
Polizei behindert Journalisten
Auch unsere Fotografen wurden am Sonntag mehrfach von der Polizei behindert. Am stärksten traf es einen, den ein Beamter am Wilhelmsplatz durch Sprühen von Pfefferspray direkt in die Augen vom Fotografieren abzuhalten versuchte. Eine Kollegin wurde zusammen mit Mitgliedern einer Samba-Gruppe zu Fall gebracht und mit Pfefferspray bedroht. Der Beamte ließ erst von ihr ab, als sie ihren Presseausweis zeigte. In der Klinik wurden ein Schleudertrauma, ein Hämatom am Knie, ein weiteres von 20 Zentimetern Durchmessern am anderen Oberschenkel und Prellungen an einem Ellenbogen und am Arm aufwärts festgestellt.
Eine Journalistin und zwei unserer Fotografen wurden trotz Vorzeigens ihres Presseausweises daran gehindert, durch eine lose Polizeikette etwa fünf Meter weit zu einem Standort zu gehen, wo sich schon andere Berichterstatter aufhielten. Stattdessen sollten sie einen zeitraubenden Umweg in Kauf nehmen. Eine Begründung für diese Schikane eines Beamten, der seinen Namen nicht nennen wollte, gab es nicht. Dafür ein bemerkenswertes Statement von Polizei-Pressesprecher Olef Petersen, dem offensichtlich das Erscheinungsbild eines unserer Fotografen missfiel: „Schauen Sie sich doch an. So wie Sie aussehen, müssen Sie sich schon Fragen gefallen lassen.“
Verbaler Schlagabtausch nach der Demo
„Unverhältnismäßig und oft ohne ersichtlichen Grund“ sei die Polizei am Wilhelmsplatz gegen die GegendemonstrantInnen vorgegangen, warfen die Demosanitäter der Behörde vor. In einem solchen Tohuwabohu könne es zwar vorkommen, „dass jemanden der Schlagstock am Kopf trifft, statt an Händen oder Füßen“, räumte Pressesprecher Petersen gegenüber den „Stuttgarter Nachrichten“ ein. Doch 107 Verletzte – das sei „völlig aus der Luft gegriffen“.
Diesen Vorwurf wies die Sanitätsgruppe in einer weiteren Pressemitteilung zurück. Jede/r ihrer Einsatzkräfte habe seine Behandlungen genau dokumentiert: „Wenn die Polizei über Minuten immer wieder Pfefferspray in eine Menschenmenge sprüht und im Anschluss davon ausgeht, dabei niemanden geschädigt zu haben, dann ist das im besten Fall realitätsfern, im schlimmsten Fall eine bewusste Fehlinformation.“ Das Gefahrenpotenzial dieses von der Polizei immer wieder exzessiv eingesetzten Kampfstoffs sei groß. Auch am Sonntag habe man einen Patienten mit Krampfanfall nach Pfeffersprayeinwirkung behandelt.
Angaben über die Zahl der Verletzten gegen auseinander
Im Zug der Gegenproteste ab 12.30 Uhr versorgte die Sanitätsgruppe Süd-West allein 81 Betroffene „des großzügigen Pfeffersprayeinsatzes der Polizei“. Sie versorgte überdies 16 Kopfplatzwunden und behandelte zwei Patienten mit Verdacht auf Knochenbrüche der Extremitäten. Vier Patienten erlitten nach ihren Angaben vermutlich eine Gehirnerschütterung, vier weitere hatten kleinere chirurgische Wunden. Nur ein Teil der Verletzten sei dem öffentlichen Rettungsdienst übergeben, andere – etwa mit nähbedürftigen Kopfplatzwunden – in Begleitung von Freunden selbstständig in die Klinik geschickt worden.
Ein Demosanitäter erklärte die Diskrepanz der Zahlen so: „In der Regel sieht der öffentliche Rettungsdienst die vielen Verletzten durch Pfeffersprayeinwirkung gar nicht, da er außerhalb des durch die Polizei festgelegten Gefahrenbereichs bleibt und damit fernab der Patienten. Kommt es nicht zu allergischen Reaktionen, Krampfanfällen oder ähnlichem, so besteht die Behandlung im Wesentlichen aus der Spülung der Augen, die durch uns oder in Eigenregie vor Ort durchgeführt wird.“
Polizisten in Kampfmontur mischen sich unter Kundgebungsteilnehmer
Als die „Demo für Alle“ beendet war, ließ die Polizei die teilnehmenden Männer, Frauen und Kinder unmittelbar an der Schlusskundgebung des Aktionsbündnisses auf dem Schlossplatz vorbei abziehen. Sie verhinderte auch nicht, dass einzelne Teilnehmer der „Demo für Alle“ mit Beleidigungen provozierten.
Stattdessen drängte sich eine Gruppe von sechs vermummten BeamtInnen in Einsatzmontur auf den Kundgebungsplatz des Aktionsbündnisses. Scheinbar zufällig rempelten sie AktivistInnen an und versuchten, sich unter die Teilnehmer zu mischen – was nach einem vom DGB erstrittenen Urteil des Verwaltungsgerichts München rechtswidrig ist: Die Polizei ist kein Bestandteil einer Demonstration und hat sich außerhalb aufzuhalten.
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Festnahmen auf dem Bahnsteig
Nach den Kundgebungen gab es noch einzelne Auseinandersetzungen zwischen abziehenden Teilnehmern. Die Polizei nahm auf einem Bahnsteig AntifaschistInnen fest, die Neonazis mit Pfefferspray angegriffen haben sollen. Kuriosum am Rande: Die Polizei entdeckte in der Klett-Passage am Zugang einer Rolltreppe zur U-Bahn eine herrenlose Sporttasche. Sie riegelte den Bereich ab. Nach geraumer Zeit fand sich ein mutiger Beamter, der es wagte, die Tasche zunächst mit dem Schuh anzustoßen und dann den Reißverschluss zu öffnen. Der Inhalt erwies sich als harmlos. Medienberichten zufolge sollen Scheiben von drei Reisebussen, mit denen TeilnehmerInnen der „Demo für Alle“ unterwegs waren, eingeworfen worden sein.
Kommentar von Anne Hilger, Beobachter News:
Armutszeugnis für einen Rechtsstaat
Ein Sonntag in Stuttgart zwei Wochen vor der Landtagswahl. Eine gezielt auf diesen Termin gelegte „Demo für Alle“ zieht mit wirren, beleidigenden Parolen durch die Stadt – eine Ansammlung von aus dem ganzen Südwesten herangekarrten Homophoben, religiösen Fundamentalisten und Rechtsextremisten. Klar, dass jede Eskalation des Gegenprotests zu diesem Zeitpunkt der AfD in die Hände spielen würde. Da war zu befürchten, dass sich Provokateure unter die Protestierenden mischen.
Doch statt die angespannte Stimmung zu beruhigen, provozierte die Polizei – mit Beleidigungen und Drohungen, mit Anrempeln, mit Fäusten, mit dem Schlagstock und exzessiv mit Pfefferspray. Eine Vielzahl von Verletzten war die Folge. „Sie wollten dieses Mal keine Festnahmen, sondern aufs Maul geben“, schilderte ein Kollege seinen Eindruck.
Am Durchgang vom Schlossplatz zum Schillerplatz schützte die Polizei mit Pfefferspray Schläger, die junge AntifachistInnen angegriffen hatten, und ließ sie über ihre Hamburger Gitter zur „Demo für Alle“. Dabei konnten die Polizisten doch eigentlich gar nicht wissen, wen sie da vor sich hatten. Die spätere Pressemitteilung hatte in diesem Punkt mit der Realität nichts zu tun. Überhaupt muss man sich fragen, wie es um die Seriosität der Öffentlichkeitsarbeit einer Behörde steht, deren Pressesprecher persönliches Befinden nicht beiseite lassen kann und einen Pressefotografen wegen seiner Frisur abkanzelt wie einst der Feldwebel die Rekruten beim Kommiss.
Es versteht sich, dass das Gewaltmonopol des Staates gilt. Doch dann müssen sich seine BürgerInnen auch darauf verlassen können, dass er sie schützt und ihre Rechte wahrt. Dass sich seine Repräsentanten auch dann angemessen verhalten, wenn sie der politischen Richtung ihres Gegenübers fernstehen, wie es bei der Polizei im Fall von Linken und Antifaschisten die Regel sein dürfte. Von angemessenem Verhalten konnte am Sonntag keine Rede sein. Einzelne Beamte, denen die Vorfälle peinlich zu sein schienen, waren offenbar zu stark im Korpsgeist und im System von Befehl und Gehorsam verfangen, um sich abzugrenzen.
Vermutlich verstehen es viele Polizisten als Freibrief, dass die grün-rote Landesregierung ihr Versprechen gebrochen hat, die anonyme Kennzeichnungspflicht einzuführen. Ein Erfolg von SPD-Innenminister Reinhold Gall und anderen Polizei-Lobbyisten. Doch dem Vertrauen in den Rechtsstaat schadet das nur.
Wir erfuhren in dieser Woche von mehreren Verletzten, die sich juristisch gegen Übergriffe von Polizisten zur Wehr setzen, Anzeige erstatten oder Dienstaufsichtsbeschwerde einlegen wollten. Anwälte rieten ihnen dringend ab – selbst bei noch so eindeutigem Sachverhalt. Auf Anzeigen gegen Polizisten folgen grundsätzlich postwendend Gegenanzeigen wegen angeblichen Widerstands. Irgendwelche „Zeugen“ finden sich immer. Die Taz hat dazu vor kurzem eindrückliche Zahlen aus dem Jahr 2014 veröffentlicht. Das Verfahren wollen sich die Betroffenen dann doch lieber ersparen. Für einen Rechtsstaat ist das ein Armutszeugnis.
Die Rede von Rosa Opossum aus Darmstadt im Wortlaut:
Am 28. Februar haben sich 80 Menschen aus Darmstadt, Frankfurt und Wiesbaden zusammengetan und sind zusammen als Reisegruppe nach Stuttgart gefahren um den Widerstand gegen die mittlerweile 9. so genannte „Demo für Alle“ zu unterstützen. Stellvertretend für meine supergeilen Verein vielbunt e.V. durfte ich eine kleine Ansprache auf der Gegenkundgebung des Aktionsbündnisses „Keine Demo für Alle“ halten. Ich habe mich darüber sehr gefreut. Da ich sehr schnell rede und nicht jede_r stenografieren kann, ist nun der Text hier online.
Eins noch: Wir waren etwa 1000 Gegendemonstrierende. Es gab durchaus vielfältige Aktionen. Von Theater, Musik und Reden bis hin zu Blockaden und anderen kreativen Protestformen. Wir kämpfen da gegen etwa 4000 Homophobe. Es wird wieder eine sogenannte „Demo für Alle“ geben. Wir brauchen mehr Menschen die dagegen halten. Darum habe ich heute erklärt:
Hallo liebe Menschen,
mein Name ist Rosa Opossum, ich bin heute mit ein paar Freund_innen aus Darmstadt angereist. Ich möchte mich zu allererst bedanken, dass ich vertretend für meinen Verein vielbunt e.V. hier sprechen darf. Und ich möchte mich auch beim Aktionsbündnis dafür bedanken, dass es hier seit dem ersten Aufmarsch der sogenannten „Demo für Alle“ gegenhält und unsere Rechte und Würde verteidigt.
Wir erleben in Darmstadt homophobe oder transphobe Bewegungen nicht hautnah. Bei uns gibt es keine Demonstrationen von besorgten Eltern und glücklicherweise auch keine PEGIDA. Wir bekommen nur die Berichte davon mit.
Aufmärsche wie der heutige da drüben finden einfach irgendwo statt und wir vertrauen darauf, dass da wo sich menschenfeindliche Aufläufe bilden, auch immer ausreichend Gegenwind bläst, sodass sich diese Besorgnis erregenden Bündnisse schnell wieder zerstreuen. Weil wir uns sicher sind: Uns gibt es überall und wo queere Menschen sind, werden sie sich den Homophoben und Transphoben in den Weg stellen und die Straßen frei zu halten von rechten Parolen, Beleidigungen und Schmähungen.
Jedoch: Aus der Ferne haben wir beobachtet, dass die sogenannte „Demo für Alle“ immer größer wurde und der Protest gerade von Lesben, Schwulen, Bi und Trans* sich in Grenzen hielt. Deshalb hat sich im letzten Jahr im Juni eine kleine Gruppe von uns auf den Weg gemacht, um sich dem Widerstand vor Ort anzuschließen. Das was wir da erlebt haben, hat uns nachhaltig beeindruckt. 4000 religiöse Fundis und Ultrakonservative, die ihre Kinder mitbringen, um mit Nazis Hand in Hand durch die Stadt zu spazieren und uns ungehindert als Kranke, Pädophile, Kriminelle oder Ausgeburten des Teufels zu diffamieren.
Ich bin es nicht gewohnt, bei einer Demonstration in der Minderheit zu sein. Es war wirklich frustrierend. Auch weil wir das Gefühl hatten, dass keine queeren Organisationen sich am Gegenprotest beteiligten. Aus diesem Grund haben wir über den Sommer mobilisiert, andere LGBT-Vereinigungen angesprochen und sind im Oktober wieder gekommen. Mit einem Reisebus voller Menschen.
Und weil das immer noch nicht genug war, sind wir heute mit zwei Reisebussen da. Und falls nötig kommen wir auch noch mal. So lange, bis die so genannte „Demo für Alle“ Geschichte ist.
Ich will euch erzählen, warum heute 80 Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Alliierte aus Darmstadt sich auf den Weg gemacht haben, um mit euch allen gemeinsam hier zu sein. Das was heute hier stattfindet, geht nicht nur die Menschen in Stuttgart etwas an, nicht nur die Leute in Baden-Württemberg sondern uns alle. Und wir sind heute hier, weil wir verstanden haben, dass wir unsere Rechte verteidigen müssen. Wir haben verstanden, dass die Rechte die wir haben, uns auch wieder genommen werden können. Als gesellschaftliche Minderheit ist man dem Gutdünken der Mehrheit ausgeliefert. So schnell wie die Kriminalisierung von schwulem Sex aufgehoben wurde, kann sie wieder eingeführt werden. Ich möchte daran erinnern, dass die Männer die nach 1945 bis in die 60er Jahre wegen ihrer Homosexualität verurteilt wurden, bis heute nicht rehabilitiert und schon gar nicht entschädigt wurden. Viele von ihnen sind bereits gestorben, ohne dass eine Regierung das Unrecht das ihnen angetan wurde, anerkannt hat.
Wir müssen unsere Rechte verteidigen, und wenn das hier in Stuttgart auf dem Schloßplatz stattfinden muss, dann ist das eben hier gerade der Ort dafür. Vielleicht genauso wie vor knapp 50 Jahren eine kleine Bar in New York der Ort war an dem nach einem dreitägigen Kampf der Grundstein für ein weltweites Gay Rights Movement gelegt wurde.
Ich kann heute hier stehen, weil Generationen von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Trans* dafür gekämpft haben, weil sie nicht den Kopf eingezogen haben, sondern den Mund aufgemacht haben.
Wir sind dankbar und es denen, die vor uns da waren schuldig, nicht tatenlos zuzusehen wie andere an unserer Würde und an dem was unsere Vorkämpfer_innen erreicht haben, zu kratzen versuchen. Es reicht nicht aus, sich zuhause auf dem Sofa den Arsch platt zu sitzen und Online-Petitionen bei Facebook zu teilen. Es reicht nicht aus, einmal im Jahr auf dem CSD zu marschieren. Wir sind heute hier her gekommen, weil wir klar machen wollen, dass wir solche rechten Aufmärsche nicht dulden. Das sind auch unsere Straßen und wir sind entschlossen!
Ich bin heute auch hier, um klarzumachen in welcher Welt ich eigentlich leben will.
Ich will nicht in einer Welt leben, in der man gegen Minderheiten auf die Straße gehen kann. Die da drüben behaupten gerne, es ginge ihnen um Erziehung und Bildung, um den Schutz der Ehe und christliche Werte. Was sie aber eigentlich antreibt, ist der Hass auf alle, die anders sind als sie. Und gekonnt verstecken sie ihre Homophobie hinter Glauben und begründen ihre ach so christliche Hetze gegen uns mit Meinungsfreiheit. Ich will nicht in einer Welt leben, in der über Menschenrechte einfach so abstimmen kann. Für mich ist der Schutz von Minderheiten der Grundstein einer Demokratie. Gleichberechtigung und die Tatsache, dass es keine Menschen zweiter Klasse gibt, sollten die Ausgangsposition sein, nicht ein Verhandlungspunkt auf einer politischen Agenda.
Ich will nicht in einer Welt leben, in der rechte Rattenfänger_innen mit Lügen, Hetze und Panikmache gutgläubige Schafe auf die Straße treiben, um den Hass gegen sexuelle Minderheiten zu befeuern.
Nach wie vor leiden junge Homosexuelle, Bisexuelle und Trans* unter der Diskriminierung. Nach wie vor ist das der Grund warum viele Jugendliche verzweifeln und sich das Leben nehmen.
Weil sie sich alleine auf der Welt fühlen,
weil ihnen überkommene Moralvorstellungen sagen, sie seien schlechter als andere,
weil Rechte, Religiöse, Konservative in Talkshows, Interviews, von Bühnen herunter und auch auf der Straße ihnen sagen, dass sie pervers und minderwertig seien.
Diese verdammten Hetzer_innen die sich selbst „Familienschützer“ nennen, machen sich mit schuldig an dem Leid das junge Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans* durchleben und leider oft auch nicht überleben.
Ich will in einer Welt leben, in der dies nicht geschieht.
Mit der Akzeptanz von Vielfalt in der Gesellschaft, und damit meine ich heute an diesem Tag vor allem Sexuelle Vielfalt, wird niemandem etwas weggenommen. Mit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, wird keine heterosexuelle Ehe geschieden. Und mit der institutionellen Aufklärung von Kindern über die unbestreitbare Existenz von Bisexualität, Homosexualität, Transsexualität, Zwischengeschlechtlichkeit und sexueller Selbstbestimmung wird kein Schüler schwul gemacht und schon gar nicht traumatisiert. Traumatisierend ist vielmehr die aufgezwungene Heteronormativität und Menschenfeindlichkeit, die die da drüben propagieren. Diskriminierung und Ausgrenzung von Homosexuellen und Bisexuellen, die Pathologisierung von Trans* und Inter*; DAS ist traumatisierend. Eine breite Aufklärung, Toleranzerziehung und Information über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sind nicht dazu da, denen da drüben ans Bein zu pinkeln, sondern sie schützen unsere Gesellschaft vor dem hässlichen Gesicht der Menschenverachtung und Gewalt gegen Minderheiten.
Wir haben zu lange zugesehen, wie sich rechte Kräfte formieren, wir haben zu selten widersprochen, wenn wir diskreditiert und beleidigt wurden. Unsere Gegner_innen werden immer mutiger und ihre Rhetorik wird immer drastischer. Gestern haben wir noch über sie gelacht, heute bringen sie die Bildungspolitik ins Stocken und morgen wollen sie Homosexualität unter Strafe stellen.
Wir müssen da, wo gegen Minderheiten gehetzt wird, aufstehen und ganz laut „Nein!“ sagen. Wir müssen da, wo Fascho-Aufmärsche auf uns herumtrampeln wollen, Blockaden errichten und denen zeigen, dass da wo wir sind, sie keine Chance haben.
Die sogenannte „Demo für Alle“ hat hier nichts zu suchen. Nicht in Stuttgart, nicht in Deutschland und auch sonst nirgendwo. Solange sie es versuchen, werden wir uns ihnen entgegenstellen.
Ruht euch nicht aus! Steht auf! Wehrt euch! Lasst euch nicht unterkriegen, haltet zusammen! Tretet Homophobie und Transphobie in den Arsch!
Stonewall was a riot – Nazis raus! – Danke
Statement von Mal Élevé von Irie Révoltés zur Demo für Alle
„Demo für alle“ in Bewegung
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