Von unseren ReporterInnen – Heilbronn. Etwa 450 Männer und Frauen überwiegend kurdischer Herkunft demonstrierten am Freitagabend, 4. März, in Heilbronn gegen ein von der Stadtverwaltung erlassenes Versammlungsverbot. Aufgerufen hatte ein Bündnis zur Verteidigung der Versammlungsfreiheit aus politisch aktiven Kurdinnen und Kurden, linken und zivilgesellschaftlichen Gruppen, Parteien, Gewerkschaftgliederungen und Einzelpersonen. Die Demonstration wurde allerdings vorzeitig beendet, weil die Polizei verbotene Parolen beanstandete – offensichtlich ein willkommener Anlass, gegen die Versammlung vorzugehen.
Die Demonstration hatte das Motto „Versammlungsrecht verteidigen! Gemeinsam gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei!“. Sie war eine Reaktion darauf, dass die Heilbronner Stadtverwaltung Anfang Februar Demonstrationen, Kundgebungen und Infostände der politisch aktiven Heilbronner Kurdinnen und Kurden bis zum 13. März, dem Tag der baden-württembergischen Landtagswahl, verboten hatte (siehe „Demo gegen Demoverbot„). Als Begründung dienten dem Ordnungsamt Vorkommnisse und angebliche Verstöße gegen Auflagen bei vergangenen Demonstrationen in Heilbronn.
Die EU plant einen schmutzigen Deal
„Das Demonstrationsverbot gegen die kurdischen Vereine ist inakzeptabel in unserem Rechtsstaat“, sagte Heike Hänsel, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, bei der etwa einstündigen Auftaktkundgebung am Heilbronner Bahnhof. Protest gegen die Kriegspolitik Erdogans und gegen die Unterstützung der Bundesregierung für die türkische Politik müsse möglich sein.
Beim EU-Türkei-Gipfel am Montag sei „ein schmutziger Deal zwischen der EU und der AKP-Regierung geplant“, empörte sich Hänsel. Geld, Waffen und Wegschauen vor den Verbrechen im Südosten der Türkei sei der Preis für die Abwehr von Flüchtlingen durch Erdogan. „Wir wollen, dass Flüchtlinge nach wie vor nach Europa kommen können“, stellte Hänsel klar.
Erdogan führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung
Die Bundestagsabgeordnete war erst vor kurzem in Diyarbakir. Die Verhältnisse dort seien unvorstellbar und gespenstisch. Die Altstadt sei komplett von Soldaten abgeriegelt. Seit über neunzig Tagen gelte 24 Stunden am Tag eine Ausgangssperre. Viele seien geflohen. Die zurückgebliebenen könnten sich nicht mehr versorgen, während ihre Stadt von oben bombardiert werde: „Das ist Krieg gegen die eigene Bevölkerung.“
Das größte Massaker sei jedoch in Cizre mit über 178 Toten geschehen. Hänsel forderte eine internationale Untersuchung. Er müsse vor dem Menschenrechtsgerichtshof angeklagt werden. Bundesregierung und EU müssen endlich ihr Schweigen brechen und Druck auf die AKP-Regierung ausüben, damit die zahlreichen Ausgangssperren in den Kurdengebieten aufgehoben werden. Man lasse Erdogan jedoch machen, was er will – es gehe nur noch darum, die Flüchtlinge abzuwehren.
Nötig sei hingegen internationale Solidarität. Man müsse die Friedenskräfte und demokratischen Kräfte unterstützen – so etwa die HDP und die autonome Region Rojava, deren Gesellschaftsmodell auch als Beispiel für Syrien dienen könne. Dort scheitere Frieden auch daran, dass Erdogan weiterhin die islamistischen Terrorgruppen unterstütze. „Erdogan ist ein Terrorpate und muss gestoppt werden“, forderte Hänsel.
Kurden wollen das Schweigen Europas durchbrechen
Weitere Redebeiträge gab es von der Organisierten Linken Heilbronn (IL), von Ciwanên Azad Heilbronn und der Interventionistischen Linken Karlsruhe. Die Vertreterin des kurdischen Gesellschaftszentrums Heilbronn erinnerte an die Opfer in den Kellern von Cizre. Unter ihnen seien ein drei Monate altes Baby und ein 70-jähriger Mann gewesen. Die Soldaten der türkischen AKP-Regierung hätten die Stadt in Schutt und Asche gelegt.
Das kurdische Volk wehre sich „gegen diesen Genozid“. Auch in Europa gingen Kurden auf die Straßen, um gegen den „Besatzungs- und Vernichtungskrieg“ der Türkei zu protestieren. „Wir wollen das Schweigen Europas gegen den Völkermord durchbrechen“, rief die Rednerin aus. Dabei hoffe man auch auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs.
Bundesregierung macht sich zum verlängerten Arm Erdogans
Die Karlsruher Rechtsanwältin Brigitte Kiechle sprach von einem „schmutzigen Deal“ zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und der Bundesregierung gegen Flüchtlinge. Der Krieg der AKP-Regierung in den Kurdengebieten werde weitere Menschen zur Flucht zwingen. Kiechle kritisierte auch, dass sich die deutsche Regierung zum „verlängerten Arm Erdogans gegen die PKK“ mache, indem sie die kurdische Bevölkerung hierzulande kriminalisiere.
Das PKK-Verbot müsse aufgehoben werden, forderte sie. Ein Versammlungsverbot, wie es in Heilbronn erlassen wurde, sein ein Novum. Offenbar habe es bewirken sollen, dass die Situation in der Türkei bis zur Landtagswahl nicht thematisiert werden kann.
Polizei pocht auf Demoauflagen
Die Demonstration selbst stand von Anfang an unter starker Polizeibegleitung auch mit Pferden. Nach eigenen Angaben war die Polizei mit knapp 200 BeamtInnen im Einsatz. Sie spricht von 250 DemoteilnehmerInnen. Träfe diese Zahl zu, wären auf fünf DemonstrantInnen vier Polizisten gekommen.
Mehrfach forderte die Polizei über Lautsprecher aus dazu auf, das Rufen verbotener Parolen zu unterlassen. Ein befragter Anti-Konflikt-Beamter konnte uns keine Auskunft geben, was für Parolen genau gemeint waren. Es handle sich um eine Anweisung des Staatsschutzes. Vermutlich geht es um Forderungen, die den inhaftierten Chef der kurdischen PKK-Chef Abdullah Öcalan betreffen.
Organisierte Linke: Polizei versucht, Demo zu kriminalisieren
Nach dem Eindruck der Organisierten Linken Heilbronn versuchte die Polizei von Anfang an, die Demonstration zu kriminalisieren. Schon nach etwa hundert Metern wurde sie das erste Mal gestoppt, was sich noch mehrmals wiederholte. „Die Taktik der Polizei für diesen Abend war offensichtlich und simpel“, hieß es im Anschluss in einer Erklärung: „Die Niederlage durch die Aufhebung des Versammlungsverbots sollte durch die Kriminalisierung in der Öffentlichkeit kompensiert werden – die Demonstration darf nicht so laufen wie angemeldet.“
Als die Demonstration die Kaiserstraße entlang zog, erklärte die Polizei kurz vor der Allee als Querstraße, die Route werde abgekürzt, da sich die TeilnehmerInnen nicht an die Demoauflagen hielten und weiterhin verbotene Parolen skandierten. Doch nur ein kleiner Teil der DemonstrantInnen folgte der Aufforderung der Polizei, ihrem Einsatzfahrzeug hinterher zu laufen. Die meisten blieben auf der Kreuzung stehen.
Die Polizei geleitete den einen Teil auf den Platz vor der Harmonie. Die anderen zogen nach einigen Minuten weiter und fanden sich ebenfalls dort ein. Eine Zeitlang wurde zu kurdischer Musik getanzt. Dann wurde die Versammlung ohne die vorgesehene Schlusskundgebung beendet. Der Versammlungsleiter äußerte Bedauern, dass es Leute gebe, die sich nicht an die Auflagen hielten.
Als die Versammlung angemeldet wurde, hatte die Heilbronner Stadtverwaltung zunächst zwölf Auflagen erlassen. Nach Verhandlungen, zu denen die Veranstalter einen Karlsruher Rechtsanwalt Wolfram Treiber einschalteten, bleiben nur noch drei dieser Auflagen übrig. Treiber zufolge war es ungewöhnlich, dass in Heilbronn sämtliche Kurden-Demonstrationen bis zur Landtagswahl verboten werden sollten. Offensichtlich sollte so verhindert werden, dass die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei thematisiert werden.
Rechtsanwalt: Demo-Auflagen sind nur in Notfällen zulässig
Was Demoauflagen angeht, habe sich in etlichen Städten „ein gewisses Unwesen“ breit gemacht, sagte Treiber, der immer wieder mit solchen Fällen befasst ist. Dabei bedeute das Versammlungsrecht, dass sich alle Menschen friedlich und frei versammeln dürfen. Auflagen seien nur in Notfällen zulässig, wenn die innere Sicherheit gefährdet ist.
Dabei sei nicht einzusehen, weshalb das etwa der Fall sein sollte, wenn ein Transparent einige Zentimeter zu lang ist. Aus Treibers Sicht war auch die vorzeitige Beendigung der Demonstration am Freitag unverhältnismäßig – erst recht, wenn man das Skandieren von Parolen in Verhältnis zu den Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten der Türkei setzt.
Polizeikessel mit Hunden und Pferden nach der Versammlung
Weitere Störungen gab es nach Angaben der Polizei bei der Demonstration nicht, und es gab auch zunächst keine Festnahmen. Allerdings wurde im Anschluss ein Aktivist aus der Anti-AKW-Bewegung wegen eines Vorfalls bei einer Demonstration im Januar festgenommen. Außerdem seien Polizeibeamte bei einer Kontrolle nach der Demonstration von einer Teilnehmerin beleidigt worden. Ein Jugendlicher habe sich eingemischt und „Widerstand gegen Vollzugsbeamte“ geleistet. Eine weitere Person sei wegen des Verdachts, gegen das Versammlungsgesetz verstoßen zu haben, vorläufig festgenommen worden. Alle vier seien wieder auf freiem Fuß, müssten aber mit einem Straf- oder Bußgeldverfahren rechnen.
Die Organisierte Linke Heilbronn schildert den Vorfall so: „Die Muskelspiele der Polizei gingen auch im Anschluss an die Demonstration weiter. Auf der Abreise wurden drei kurdische Jugendliche ohne Begründung von Heilbronner Staatsschutzbeamten und teilweise vermummten PolizistInnen gewaltsam festgenommen und auf verschiedene Heilbronner Reviere gebracht. Im Tumult, der um die völlig übertriebenen Festnahmen entstand, setzte die Polizei Pferde und Hunde ein.“
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