Von Pejo Berber und Matthias Jakoby – Berlin. Stuttgart-21-Gegner protestierten während der Bilanzpressekonferenz der Deutschen Bahn am Mittwoch, 16.März, vor dem Kongresszentrum nahe dem Alexanderplatz in Berlin gegen das verfehlte Projekt. Ein Ausstieg sei aus Gründen der Wirtschaftlichkeit zwingend nötig und auch möglich. Es sprachen Dr. Bernhard Knieriem von „Bahn für alle“, Dr. Eisenhart von Loeper, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, und der Berliner Regisseur Volker Lösch.
Die Redner bezogen sich auf aktuelle Gutachten der Verkehrsexperten des Büros Vieregg-Rössler. Sie erwarten eine weitere drastische Kostenexplosion von 6,5 auf 9,8 Milliarden Euro für das Bahnprojekt Stuttgart 21. Vor allem kommt das Büro Vieregg-Rössler zu dem Ergebnis, dass selbst jetzt noch ein Baustopp und ein Ausstieg aus Stuttgart 21 möglich und auch wirtschaftlich sinnvoll wäre. Der Ausbau bestehender Strecken und des bestehenden Kopfbahnhofs käme die Steuerzahler 5,9 Milliarden Euro billiger.
Druck aus dem Kanzleramt auf den Bahnvorstand
Vieregg-Rössler aus München hatten schon die letzte Kostenexplosion von 4,5 auf 5,6 Milliarden Euro exakt vorausberechnet. Die Bahnverantwortlichen mussten ihre Prognose vor drei Jahren kleinlaut bestätigen, nachdem sie zuvor mehrfach zurückgewiesen worden war. Anschließend wurde ein neuer Kostenrahmen in Höhe von 6,5 Milliarden Euro bewilligt – schon damals unter Missachtung grundlegender Wirtschaftlichkeitsprinzipien und von Zusagen, die es beim Volksentscheid gegeben worden waren. Offensichtlich wurde – inzwischen aktenkundig – damals massiver Druck aus der Politik, insbesondere vom Kanzleramt, ausgeübt.
Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 hat im Februar die Aufsichtsräte und den Vorstand der Deutschen Bahn schriftlich über die neue Studie informiert. Das Bündnis drohte Klagen wegen „strafbarer Untreue“ an, falls Stuttgart 21 trotz der ermittelten Mehrkosten weiterverfolgt werde. Ein erneutes Durchwinken wäre eine bewusste „treuepflichtwidrige Schädigung des anvertrauten Gesellschaftervermögens“ .
Die Aufseher reagieren zunehmend nervös, geht es doch bei einer solchen Klage um die eigene Haut. Das 20-köpfige Kontrollgremium beschloss nach Angaben der Stuttgarter Zeitung deshalb am Dienstag, die Kosten von Stuttgart 21 und eigene Haftungsrisiken erneut extern überprüfen zu lassen.
Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sich selbst
Juristisch spielt sich eine Groteske ab. Die Berliner Staatsanwaltschaft hatte schon im Juni 2015 für die Entscheidungen vor drei Jahren den Tatbestand der Untreue festgestellt. Sie schlug das Verfahren aber nieder, da kein Vorsatz der Aufseher nachweisbar sei. Nun hat sich die Staatsanwaltschaft selbst korrigiert und ermittelt gegen eigene Kollegen wegen Strafvereitelung.
Es bleibt spannend. Aus Sicht der Projektgegner ist es offenkundig: „Das Projekt muss als einer der größten wissenschaftlich-technischen Betrugsfälle der Nachkriegsgeschichte gesehen werden“. Plakativ zeigten sie in Berlin den Bahnmanagern, dass ihnen der Knast droht, wenn sie so weiter machen.
Milliardengrab Stuttgart 21 verhindert attraktive Bahn
Stuttgart 21 ist das Symbol einer Politik, die prestigeträchtige Projekte im Interesse einer Elite durchdrückt – auf Kosten einer verlässlichen, komfortablen, leistungsfähigen und umweltfreundlichen Bahn für die breite Bevölkerung. Die in Stuttgart vergrabenen Milliarden fehlen im bundesweiten Gesamtsystem Bahn. Statt die Verluste aus dem Tiefbahnhof- und Immobilienprojekt endlich abzustellen, wird überall gespart. Unter anderem werde weitere Strecken, Nachtzüge und Güterbahnhöfe abgebaut.
„Alles, was seit Jahren zu massiven Reputationsschäden der DB führt, hängt mit falschem Ressourceneinsatz zusammen, für den Stuttgart 21 steht: die notorisch gewordene Unpünktlichkeit, vernachlässigte Investitionen in die Infrastruktur, angefangen von Funktionsmängeln in Stellwerken bis hin zur Vielzahl von Löchern im Notruf-Funknetz, wie sie jetzt im Zusammenhang mit der Katastrophe von Bad Aibling bekannt wurden, hunderte Kilometer eingleisiger und immer noch nicht elektrifizierter Strecken und vieles mehr.“
Das Projekt Stuttgart 21 erinnert nicht nur der Kosten, sondern auch einer Kette von Pleiten, Pech und Pannen wegen an den Bau des Berliner Flughafens. Vom Bundesamt für Eisenbahn werden so gut wie alle Absurditäten durchgewunken, kritisieren die Stuttgart-21-Gegner: „ein bahnregelwidriger Höhenunterschied von sechs Metern zwischen Bahnsteiganfang und -ende, die Erlaubnis, Hochgeschwindigkeitszüge durch engere S-Bahn Tunnel fahren zu lassen, die Genehmigung eines Brandschutzkonzepts, von dem selbst die Bahn sich wegen zu hoher Risiken wieder verabschiedet hat“ und ein „Baufortschritt von gerade mal 12 bis 13 Prozent nach sieben Jahren „forcierter Bauumsetzung“.
Jahrelange Staus durch unnötige Baustelle in Stuttgart
Volker Lösch wies in seiner Rede darauf hin, dass das Vorgehen der regierenden Parteien die Politikverdrossenheit ins Unerträgliche treibe – Wasser auf die Mühlen einer AFD. Doch im Wahlkreis Stuttgart-Mitte, dem durch Stuttgart 21 verwandelten „Tal der Tränen“, erzielte die Linke – trotz vieler taktischer Stimmen für die Grünen – mit dem S 21-Aktivisten Hannes Rockenbauch als parteilosem Kandidaten mit 7,6 Prozent noch vor der AFD ihr bestes Ergebnis in Baden Württemberg.
Gut möglich, dass das Projekt Stuttgart 21 für die Elite doch noch zum sprichwörtlichen Ritt auf der Rasierklinge wird, dass die Rechnung auf das kurze Gedächtnis der Menschen nicht aufgeht und sich ihre Wut – angesichts jahrelanger Staus durch eine „unnötige Baustelle“ – nicht gegen Flüchtlinge oder gegen Sitzblockaden auf Kreuzungen lenken lässt. Und dass der Kampf gegen die eigentlichen Verursacher wieder konkret aufgenommen wird.
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