Von Meide Wolt und Gül Güzel – Stuttgart. Vor dem Justizministerium in Stuttgart versammelten sich am Donnerstag, 24. März, etwa 90 Menschen, um für die Freilassung politischer Gefangener in der BRD zu demonstrieren. Zu der Kundgebung hatte das Demokratische Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland (NAV-DEM) aufgerufen. Ähnliche Forderungen waren bereits am 18. März zum „Tag der Politischen Gefangenen“ auf einer Kundgebung des „AK Solid“ und der Roten Hilfe Stuttgart auf dem Schlossplatz erhoben worden.
Derzeit befinden sich in Deutschland aufgrund der Paragrafen 129, 129 a und 129 b zehn AktivistInnen der Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATiK) und acht kurdische Aktivisten in Haft.
Durch Masken mit den Gesichtern der Aktivisten trugen die DemonstrantInnen am 24. März die Erinnerung an die Gefangenen vor das Justizministerium auf den Schillerplatz in Stuttgart. Eine Sprecherin von AZADI (kurdisch Freiheit) brachte das EU-Abkommen mit der türkischen Regierung in Zusammenhang mit den Gefangenen in der BRD: „Seit dem PKK-Betätigungsverbot von 1993 haben sich bisher allerdings alle Bundesregierungen Zugeständnisse der Türkei dadurch erkauft, im Gegenzug noch härter gegen die PKK in Deutschland vorzugehen.“
Durch die 129er Paragrafen („Bildung krimineller Vereinigungen“) ist eine Verfolgung von AktivistInnen auch ohne Straftat möglich. Dazu AZADI: „Sie werden als angebliche Regional- oder Gebietsleiter der PKK in Deutschland für alle Aktivitäten und militärische Auseinandersetzungen der Guerilla in der Türkei und Kurdistan in Haftung genommen.“
Elf ATIK-Mitglieder zeitgleich in vier Ländern festgenommen
Auch bei der Kundgebung zum „Tag der Politischen Gefangenen“ am 18. März ging es um inhaftierte Kurden. Es wurden Info-Blätter an Passanten verteilt. Viele zeigten sich überrascht, dass es so viele politische Gefangenen gibt. Auf Grundlage der 129er-Paragraphen seien angebliche Mitglieder der PKK, der türkischen Revolutionäre Volksbefreiungspartei DHKP-C und des türkischen Exilverbands ATIK in Haft. In den letzten Jahren habe es eine Vielzahl von Verfahren gegeben – bis hin zu Großverfahren, in denen angebliche Mitglieder der Organisationen als Unterstützer eine terroristischen Vereinigung verurteilt werden.
So seien am 15. April zeitgleich elf ATIK- Mitglieder in Deutschland, Griechenland, Frankreich und der Schweiz festgenommen worden. Ihnen werde die Unterstützung der türkischen TKP-ML(Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch) vorgeworfen. Am 13. Mai 2016 soll vor dem Oberlandesgericht in München der Prozess wegen „Unterstützung eine terroristischen Vereinigung im Ausland“ gemacht werden.
Kurden in Deutschland werden als Gebietsleiter der PKK verdächtigt
Während selbst in deutschen Regierungskreisen erstmals die Option einer Wiederzulassung der PKK diskutiert werde, habe am 1. Dezember in Stuttgart wieder ein Verfahren gegen einen vermeintlichen PKK-Gebietsverantwortlichen angefangen. Ali Ö. wird zur Last gelegt, Gebietsleiter verschiedener Regionen in Deutschland gewesen zu sein und Spenden eingesammelt zu haben. Erst im Juli 2015 endete ein 129b-Verfahren gegen vier mutmaßliche Mitglieder der türkischen DHKP-C vor dem OLG Stuttgart mit mehrjährigen Haftstrafen für die Angeklagten.
Bei der Kundgebung am Schlossplatz wurden auch Unterschriften gesammelt für die Freiheit der Gefangenen und gegen die Kriminalisierung politisch aktiver Migranten und Migrantenvereine gesammelt. Die Bundesbehörden müssten aufhören, von reaktionären und faschistischen Diktaturen ausgestellte Dokumente als Grundlage der Strafverfolgung zu nutzen.
Die Rede von AZADI am 24. März im Wortlaut:
Freiheit für alle politischen Gefangenen!
Unter der Führung von Präsident Recep Tayyip Erdoǧan führt das AKP-Regime in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei einen brutalen Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Kritiker*innen der autoritären Politik des Regimes werden mundtot und demokratische Bestrebungen rücksichtslos zunichte gemacht. Über 6 000 Oppositionelle sind bislang festgenommen worden, viele davon Mitglieder und Politiker*innen der „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP).
Die türkische Armee überschreitet Grenzen – mit Panzern nach Syrien gegen das kurdische Selbstverwaltungsprojekt Rojava, mit Kampfflugzeugen in den Nordirak gegen Stellungen der PKK-Guerilla. Nach wie vor unterstützt das NATO-Land die Terrormilizen des IS mit Geld, Waffen und offenen Grenzen.
Um vor Krieg und Zerstörung fliehende Menschen an einer Weiterreise nach Europa zu hindern, hat die EU – insbesondere die Bundesregierung – ausgerechnet das AKP-Regime zum Hauptakteur erkoren. Die derzeitigen Verhandlungen mit der Türkei über den Austausch von Flüchtlingen sind unmenschlich und rechtlich fragwürdig. Der Preis für diese Kollaboration sind Geldforderungen, Reiseerleichterungen, ist ein beschleunigtes EU-Aufnahmeverfahren, und vor allem Schweigen zum staatlichen Terror.
Bisher haben sich seit dem PKK-Betätigungsverbot von 1993 allerdings alle Bundesregierungen Zugeständnisse der Türkei dadurch erkauft, im Gegenzug (noch) härter gegen die PKK in Deutschland vorzugehen. Im Oktober 2010 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, auch die PKK als „terroristische Vereinigung im Ausland“ nach §129b StGB einzustufen. Der politische Charakter dieses Paragrafen zeichnet sich dadurch aus, dass für Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft eine Ermächtigung des Bundesjustizministeriums erforderlich ist. Diese ministeriellen Entscheidungen müssen aber weder begründet noch kann gegen sie geklagt werden. Sie folgen einzig außenpolitischen Opportunitätserwägungen.
Allein im vergangenen Jahr wurden fünf kurdische Aktivisten festgenommen.
Derzeit befinden sich in U- bzw. Strafhaft:
Kenan BAȘTU, Ahmet ÇELIK, Mustafa ÇELIK, Mehmet DEMIR, Bedrettin KAVAK, Muhlis KAYA und Ali ÖZEL.
Keinem der Angeklagten oder Verurteilten werden individuelle Straftaten vorgeworfen. Sie wurden/werden als angebliche Regional- oder Gebietsleiter der PKK in Deutschland für alle Aktivitäten und militärische Auseinandersetzungen der Guerilla in Türkei/Kurdistan in Haftung genommen, für die nach deutscher politischer und juristischer Lesart allein die PKK verantwortlich sei.
Die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen des türkischen Regimes spielen in den §129b-Verfahren eine nur untergeordnete Rolle. Eine derartig einäugige Politik muss endlich beendet werden.
Deshalb fordert AZADÎ
• Rücknahme der Verfolgungsermächtigungen nach § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB
• die Einstellung aller §129b-Verfahren
• die Freilassung aller kurdischen politischen Gefangenen
• die Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots
• ein Ende der Komplizenschaft mit dem türkischen Regime
• den Stopp jeglicher Waffenlieferungen an die Türkei
AZADÎ e.V.
Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden
in Deutschland, Köln
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