Von unseren ReporterInnen – Stuttgart. In Stuttgart riefen am 10. April 17 Zivilorganisationen, zusammengefasst als Demokratische Einheitskräfte, zu einer Kundgebung gegen Rassismus und Faschismus am Rotebühlplatz auf. Anlass war eine Demonstration türkischer Nationalisten „für einen Frieden in der Türkei“. Sinn und Zweck der koordinierten Aufmärsche war aus Sicht der AntifaschistInnen, Stimmung gegen die kurdische Befreiungsbewegung zu erzeugen und damit der Kriegspolitik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan den Rücken zu stärken. Es versammelten sich 500 bis 600 GegendemonstrantInnen, und es wurde auch getanzt. Die Polizei berichtete am Ende des Tages, die Auseinandersetzungen zwischen nationalistischen Türken und meist kurdischen GegendemonstrantInnen seien „aus dem Ruder gelaufen“.
Obwohl die Polizei nach eigenen Angaben insgesamt 800 Beamte im Dienst hatte und mit 700 Einsatzkräften vor Ort in der Innenstadt war, seien über 50 BeamtInnen verletzt worden. Die meisten hätten Knalltraumata durch Böller erlitten, einige seien getreten oder von Steinen getroffen worden. Man habe „für Stuttgart bisher kaum gekannte Aggressionen und Gewalttätigkeiten der beteiligten Parteien untereinander, aber auch massive und so in der Landeshauptstadt nicht da gewesene Angriffe gegen die Polizei“ erlebt.
Viele Verletzte und Festgenommene
Es gab auch auf Seiten der GegendemonstrantInnen zahlreiche Verletzte und Festgenommene. Der Polizei wurden zehn Verletzte gemeldet. Drei Personen wurden nach unseren Informationen ins Krankenhaus gebracht. Augenzeugen zufolge nahm die Polizei „mit viel Gewalt“ 39 Kurdischen Mädchen und Jungen fest. Laut Polizeibericht wurden „insgesamt 26 Personen, zumeist kurdischer Abstammung, im Zuge der Ausschreitungen am Schillerplatz und in der Folge im Innenstadtbereich wegen Raubstraftaten, Verdacht des Landfriedensbruchs, Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen und Verstößen gegen das Versammlungsgesetzt vorläufig festgenommen“.
Die Kundgebung der AntifaschistInnen begann um 15 Uhr auf dem Rotebühlplatz und endete mit einer Spontandemonstration. Sie stand unter dem Motto „Kein Fußbreit den türkischen Faschisten!, Kein Platz für rechte Hetze – türkischen Faschisten Entgegentreten!“. Dabei waren Deutsche etwa von der Linken, Kurden, Türken, Alewiten oder Arbeiter Föderationen wie Young Struggle, NAV-DEM, AGIF, AABF, ADHF, ATIF, SYKP oder YXK.
Auf dem Rotebühlplatz gab es mehrere Redebeiträge. Die Stimmung der 500 bis 600 TeilnehmerInnen war gut, es wurde Musik gemacht und getanzt.
Türkische Nationalisten mit Wolfszeichen und „Allaha Akbar“-Rufen
Etwa 400 türkische Nationalisten sammelten sich ab 15 Uhr in der Lautenschlagerstraße und liefen unter dem Transparent „Frieden in der Türkei. Gib Terror keine Chance“ über die Schillerstraße auf die Konrad-Adenauerstraße. Dabei machten einige das Wolfszeichen und riefen wiederholt „Allahu akbar“ (Gott ist groß). Bei dem Aufmarsch wurde vor allem Stimmung gegen die kurdischen Befreiungsbewegungen erzeugt und damit der Kriegspolitik des türkischen Präsident Erdogan den Rücken gestärkt. Auf der Höhe der Staatsgalerie wurde die Demonstration von hinten mit Böllern angegriffen. Die Polizei reagierte überrascht und dementsprechend verzögert, sodass die AngreiferInnen sich wieder zurückziehen konnten. Unter weiteren Angriffen, zum Teil durch Gruppen oder auch durch einzelne Personen, setzte sich die Demonstration über die Dorotheenstraße bis zum Schillerplatz fort.
Heftiger Polizeiangriff auf GegendemonstrantInnen und Pressevertreter
Auf dem Schloßplatz griff die Polizei mehrfach besonders heftig GegendemonstrantInnen an. Zweimal rannten etwa 80 Beamte sowie einige berittene Beamte in einer breiter Reihe unter Schlagstockeinsatz in die Menge. Dabei wurden auch Pressevertreter trotz lautstarken Rufens „Presse“ gezielt angegriffen. Einer wurde in den Brunnen gestoßen, einem zweiten versucht eine Kamera zu entreißen, wobei Teile des Equipments zu Bruch gingen. Ein anderer Pressevertreter wurde am Nord-Östlichen Zugang zum Schillerplatz mit Pfefferspray angegriffen, als er versuchte verletzte DemonstrantInnen zu fotografieren.
Auch auf dem Schillerplatz wurden die NationalistInnen von mehreren Seiten angegriffen. Es flogen mehrere Böller, sowie vereinzelt Gegenstände vom Schillerplatz in Richtung der GegendemonstrantInnen. Die Polizei griff daraufhin die GegendemonstrantInnen an und begann mit der Festnahme mehrere Dutzend TeilnehmerInnen. Dabei wurden mehrere Menschen verletzt, drei von ihnen mussten in ein Krankenhaus gebracht werden. Ein Polizeibeamter riss eine junge Frau brutal zu Boden, fixierte ihr Genick und ihre Hände. Ein 72-Jähriger Zeuge der Aktion schrie dem Polizeibeamten entgegen: „Das hatten Nazisten damals mit uns gemacht und uns verhaftet. Was ihr macht ist Nazipackt!“ Daraufhin wurde auch er festgenommen, später allerdings wieder freigelassen.
Aus Richtung der Kirchstraße griffen etwa 200 Menschen mit massiven Steinwürfen die dortige Polizeiabsperrung an. Dabei wurden sie, von zugezogenen Polizeikräften auf den Marktplatz gedrängt, wo sie sich verstreuten.
Viele Festnahmen am Ende der Versammlung
Gegen 19 Uhr löste sich die Versammlung nach der erfolgten Abschlusskundgebung auf dem Schillerplatz allmählich auf. Eine Sprecherin bedankte sich bei den OrdnerInnen der Demonstration: „Ich möchte mich bedanken, bei allen die die Krawallmacher gestoppt haben“. Beim Verlassen des Platzes wurden zahlreiche TeilnehmerInnen angegriffen und zum Teil verletzt. Insgesamt kam es zu über 40 Festnahmen von GegendemonstrantInnen und einer Festnahme eines Teilnehmers des nationalistischen Aufmarsches.
Auch an der Demonstration völlig unbeteiligte wurden von GegendemonstrantInnen angegriffen, weil sie als TürkInnen erkannt wurden. Die sichtlich überforderten Polizeikräfte eskortieren die Unbeteiligten daraufhin zur Abschlusskundgebung auf den Schillerplatz, auf welche diese überhaupt nicht wollten.
In ihrem Bericht spricht die Polizei von 26 in der Umgebung des Schillerplatzes vorläufig festgenommenen Personen „meist kurdischer Abstammung“. Zwei Personen seien bis 24 Uhr festgehalten worden. Auch seien fünfzig Beamte durch Böller, Steinwürfe und Tritte verletzt worden, wobei sie Knalltraumata, Prellungen und Hämatome (Prellungen) erlitten haben sollen. Einem Beamten soll der Polizeischlagstock weggenommen worden sein. Die Polizei will den mutmaßlichen Räuber später in der Ostendstraße festgenommen haben.
Rassistische Entgleisungen
Auf der Königsstraße, Ecke Johannes-Benz-Platz, wurden zwei Menschen festgenommen, weil sie einen Teilnehmer der Demonstration auf dem Nachhauseweg angegriffen haben sollen. Der Teilnehmer gab gegenüber der Polizei an, dass sie ihn zuvor gefragt hätten, ob er Türke oder Kurde sei. Einige GegendemonstrantInnen reagierten mit rassistischen Zuschreibungen auf die Demonstration der türkischen Nationalisten. Ein Demonstrant rief einer Gruppe von DemonstrationsteilnehmerInnen, neben zahlreichen Beleidigungen zu: „Warum lebst du nicht in deinem Land, wenn du so stolz auf dein Land bist?“ Zum Vergleich: Ein deutscher Passant hatte die Demonstration der türkischen Nationalisten kommentiert mit: „Was wollen die alle hier, die sollen nach Hause gehen“. Auch „Scheiß Türken“ oder „Intikam“ (Rache) war öfters von einigen GegendemonstrantInnen zu hören.
Geschichten von verschleppten Kindern und der „Lügenpresse“
Eine Rednerin gab auf der Abschlusskundgebung an, die PKK würde Kinder in die Berge verschleppen und dort zu Terroristen ausbilden. Anwesende Journalisten wurden als „Lügenpresse“ betitelt und damit daran gehindert weiter Interviews zu halten. Ein Sprecher der Nationalisten bezeichnete das Programm der PKK als „heiße Luft“, die von den meisten Kurden nicht unterstützt würde. Um das zu beweisen erklärte er, „das haben wir auch bei den Wahlen in der Türkei gesehen, sehr viele Kurden haben die HDP nicht gewählt“. Weiter rief er die Menge dazu auf, man müsse „endlich lernen eine Einheit zu bilden“. Er wolle dabei keiner Partei den Vorzug geben, solange sie seinem Land diene. Er erklärte, die PKK sei keine Arbeiterpartei. Bei einem offenen Mikrofon beklagte ein Teilnehmer, dass die eigenen Soldaten hungern würden, während Abdullah Öcalan (der seit 1999 in der Türkei im Gefängnis sitzt) ihr Brot essen würde.
Zwei Frauen bedauerten entgegen ihrer ursprünglichen Vermutung, nicht auf einer Demonstration für den Frieden zu sein. „Der Aufruf war aalglatt. Wir haben noch geschaut, dass die Personen keiner Organisation angehören.“ Sie trugen ein Schild auf dem sie sich zu Kemal Atatürk bekennen. Sie forderten Frieden in der Türkei durch die Trennung von Staat und Kirche. „Erdogan strebt ein Präsidialregime an und lässt die Presse wegsperren. Er spaltet die Menschen in ihre Herkunft und Religion.“ Zu den GegendemonstrantInnen wollten sie sich nicht stellen, weil sie die PKK für terroristisch halten. Für sie sei nicht klar, wer im Osten der Türkei die Städte kaputt mache.
Weitere Bilder des Tages
Folge uns!