Kommentar von Carmen Pinellar – Stuttgart. Gewalttätige Polizisten können in Baden-Württemberg nach Demonstrationen und ähnlichen Anlässen auch weiterhin in der Regel nicht belangt werden. Zumindest dann nicht, wenn sich ihre Kollegen leider, leider mal wieder so gar nicht daran erinnern, welcher bis unter die Augen vermummte Beamte mit einer Anzeige gemeint sein könnte. Die von Grün-Rot schon vor fünf Jahren versprochene anonyme Kennzeichnungspflicht wird auch in den nächsten fünf Jahren nicht eingeführt. Das verkündete der CDU-Landesvorsitzende Thomas Strobl als eines der ersten Ergebnisse der grün-schwarzen Koalitionsverhandlungen – ein Skandal.
Damit zerstreute Strobl auch noch die letzten Befürchtungen schwarzer Schafe unter den so genannten Ordnungshütern. Sie können sich auch künftig auf die Frage nach ihrer Identität mit einem hämischen „mein Name ist Hase, ich weiß von nichts“ oder mit einem unter dem Kinnschutz ihres Helms hervorgebellten „Müller“, „Maier“ oder „Schmidt“ herausreden. Bürgerinnen und Bürger, die ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen, stehen auch weiterhin einer anonymen Masse meist vermummter Einsatzkräfte gegenüber – in einem Rechtsstaat eine unerträgliche Situation.
Um die Verhältnisse klarzustellen: Im Jahr 2014 wurden bundesweit 2138 Polizisten wegen Gewalttätigkeit von Bürgern angezeigt. Nur 33 wurden angeklagt – das entspricht 1,5 Prozent. Wie viele verurteilt wurden, ist unbekannt. Die weit verbreitete Straflosigkeit dürfte auch damit zusammenhängen, dass stets Polizisten gegen ihresgleichen, also gegen Kollegen ermitteln – eine Praxis, die neben Amnesty international auch der Menschenrechtsrat der UNO kritisiert. Als Mindeststandard gelten unabhängige Ermittler und Beschwerdestellen. Im Jahr 2013 gab es nach Ermittlungen gegen 4500 Polizisten weniger als 50 Anklagen.
Ein „Bürgerbeauftragter“ soll es richten
Ernsthaft befürchtet hatte die baden-württembergische Polizei die Einführung der Kennzeichnungspflicht wohl ohnehin nicht. Schließlich hatte bereits die grün-rote Vorgängerregierung auf Drängen der SPD und ihres Innenministers Reinhold Gall die Kennzeichnungspflicht ad acta gelegt. Unmittelbar vorausgegangen war ein Gewerkschaftstag der Polizei – ausgerechnet am selben Wochenende wie der NPD-Parteitag in Weinheim mit einem stellenweise mehr als fragwürdigen Polizeieinsatz, den die Behörde mit Übergriffen rechtfertigte.
Stattdessen versprach die grün-rote Koalition, einen „Bürgerbeauftragten“ einzusetzen – ein Ansinnen, dem nach anfänglichem Murren auch der neue Koalitionspartner von Ministerpräsident Winfried Kretschmann folgt. Warum auch nicht – ein dermaßen stumpfes Schwert muss kein noch so leidenschaftlicher Law-and-order-Polizist fürchten. Wir sind gespannt, welche „unabhängige Persönlichkeit“ sich für diese Aufgabe hergibt. Und ebenso gespannt auf die Abwiegel-Briefe, wenn wir ihm oder ihr vortragen, wie schikanös oder aggressiv manche Polizisten bei Anlässen wie rechten Aufmärschen gegenüber Medienvertretern vorzugehen pflegen. Ganz zu schweigen von der Antwort, die DemonstrantInnen zu erwarten haben, wenn sie sich über Übergriffe beschweren.
Anzeigeerstattern drohen Gegenanzeigen
Es wird sie also routinemäßig weiterhin geben – den exzessiven Einsatz von Pfefferspray, die Platzwunden durch Schlagstöcke, die blauen Flecke durch Tritte oder Fausthiebe – nach unserer Erfahrung nicht nur gegen „gewaltbereite Demonstranten“, sondern auch gegen couragierte BürgerInnen, die sich Neonazis friedlich in den Weg stellen oder an Sitzblockaden teilnehmen. Aus Sicht der Einsatzkräfte das Schönste daran: Auch künftig wird sich kaum ein Polizist persönlich für Übergriffe verantworten müssen – da ist der berühmte Korpsgeist der Truppe vor.
Ihr werden von den künftigen Koalitionspartnern auch noch Bodycams in Aussicht gestellt. Sie halten selbstverständlich keinesfalls ganze Einsätze fest, sondern nur einzelne Szenen auf Knopfdruck. Schlagstockgebrauch wurde leider, leider nicht dokumentiert, werden Anzeigeerstatter künftig mit schönster Regelmäßigkeit erfahren. Das kennen sie schon – auf dem Videomaterial, das die Polizei routinemäßig und exzessiv von jedem Großeinsatz auch dann herstellt, wenn der vom Gesetzgeber geforderte konkrete Anlass fehlt, sind Polizeiübergriffe ebenfalls nahezu nie festgehalten. Zumindest nicht erkennbar für die Öffentlichkeit.
Polizei will in Stuttgart wieder Wasserwerfer einsetzen
Es wird alles bleiben wie bisher: Wer rabiate Polizisten anzeigt, muss umgehend mit einer Gegenanzeige wegen angeblichen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechnen. Und zu einer Verurteilung von Polizisten kommt es so gut wie nie. Dafür soll es wieder mehr Beamte geben. Und nach dem überwiegend kurdischen Protest gegen eine Demonstration türkischer Nationalisten in Stuttgart, von dessen Vehemenz sich die mit 700 Einsatzkräften angerückte, aber angeblich ahnungslose Polizei völlig verblüfft zeigte, sollen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt wohl auch wieder Wasserwerfer eingesetzt werden – wie zuletzt am „Schwarzen Donnerstag“ im September 2010 zur Räumung des Stuttgarter Schlossparks im Zug von Stuttgart 21. Damals glaubte man, die Politik hätte aus den schrecklichen Folgen gelernt.
Siehe auch:
Petition „Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte“
Polizei darf Presse nicht attackieren
Schwarzer Donnerstag muss Folgen haben
Folge uns!