Stuttgart. Die „Demo für Alle“ mit dem Slogan „Ehe und Familie vor! Stoppt Gender-Ideologie und Sexualisierung unserer Kinder“ hält ihre Mission in Baden-Württemberg offenbar vorerst für erfüllt. Schließlich kam die AfD in den Landtag, und die SPD flog zugunsten der CDU aus der Regierung. Zumindest sind keine weiteren Aufmarsch-Pläne für Stuttgart bekannt. Dem Stuttgarter Ulrich Stübler wird die letzte „Demo für Alle“ religiöser Fundamentalisten und rechtsnationaler Kreise am 28. Februar dieses Jahres jedoch in Erinnerung bleiben. Was er gegen 15 Uhr erlebte, empfand er als „Quasi-Überfall eines Zivilpolizisten“. Hier sein Bericht über einen Vorfall, den er nie für möglich gehalten hätte.
„Während die „Demo für Alle“ und die Gegendemo noch zirka 300 Meter entfernt auf dem Schiller- beziehungsweise Schlossplatz stattfinden, gehe ich auf der Hauptstätter Straße zirka auf Höhe Breuninger in Richtung Charlottenplatz.
In einer Gebäudenische steht ein Mann, der scheinbar mit sich selber redet, ohne erkennbares Mikro oder Handy. Er kommt mir seltsam vor. Ich schaue ihn an, er schaut zurück, Abstand zirka 10 Meter. Ich nehme mein Handy in die Hand. Wenige Sekunden später, ohne dass wir uns in der kurzen Zeit näher gekommen wären oder auch nur eine Silbe gewechselt hätten: Als ich mich etwas abwende, rennt er blitzartig und mit vollem Einsatz von halb hinten auf mich zu, wirft sich fast auf mich, versucht mit aller Kraft, mir das Handy zu entreißen. Vermutlich verhindern nur die aufgestellten Absperrgitter, gegen die ich gepresst werde, dass wir zu Boden gehen.
Ich halte das Handy fest, rufe anhaltend und laut um Hilfe. Nach kurzer Zeit ist eine zweite Person da, die ihn unterstützt. Erste Passanten (es sind überhaupt nur zirka alle 30 Meter jeweils ein bis zwei Menschen unterwegs) bleiben stehen. Ich schreie weiter um Hilfe, bitte sie, herzuschauen und nicht weiterzulaufen.
Einmal ruft eine Frau „wie heißt du?“ – ich antworte mit meinem Namen. Ihren zu erfahren ist mir nicht möglich, der Abstand und meine Aufregung sind zu groß. Ein oder zwei Motorradstreifen kommen hergefahren, auch zu ihnen schreie ich um Hilfe, sie kümmern sich aber nicht um mich. Zusammen schüchtern sie die wenigen umstehenden Menschen ein (die vermutlich weder mit der einen noch mit der anderen Demo zu tun haben): „weitergehen“, „mischen sie sich nicht ein“ und Ähnliches. Irgendwann (sehr spät) behauptet einer der beiden mal „wir sind Polizei“.
Sie schaffen es allmählich, die Passanten zu vertreiben.
Sie ziehen/schieben mich Richtung Süden „zur Wache“. Ich sage, dass ihr Verhalten Folgen haben dürfte, und dass ich mein Recht in Anspruch nehmen werde, mit einem Anwalt zu telefonieren.
Auch unterwegs schreie ich um Hilfe, wenn mal ein Passant in die Nähe kommt. Nach zirka 100 Metern läuft mir ein Paar über den Weg. Er versucht, die (mit dem begleitenden Motorradpolizisten drei) Personen, die mich abführen, anzusprechen, was erfolglos bleibt. Vom Motorradpolizisten wird er am Arm und im Halsbereich am Schal gepackt und mehrfach angeschrien, er solle ihn nicht angreifen – ein komplettes Verdrehen des Geschehens.
Nach kurzer Zeit werde ich in einen Gebäudeeingang bugsiert zur Wache Hauptstätterstraße. Die Treppe zum ersten Stock hoch werde ich (obwohl ich normal gehe) zum Teil schikanös hochgeschubst. Die Wache wirkt (außer einer Dame am Tresen, zu der ich auch um Hilfe rufe) ausgestorben – auch in den folgenden zirka 20 bis 30 Minuten ist sonst niemand zu hören und zu sehen.
In einem weiter hinten auf der Wache gelegenen Flur muss ich mein Handy ausliefern. Inzwischen wieder allein mit den zwei Zivilpolizisten und nach allem, was passiert war, habe ich Angst und mache dies widerstandslos. Nun kommt die Erklärung für Alles: Angeblich hätte ich Fotos von dem Einen gemacht, was ich nicht dürfe. Schätzungsweise 20 Minuten wird das Handy durchsucht, ohne dass er etwas findet.
Ich sage, dass ich weder ein Foto gemacht habe noch dies beabsichtigt hatte, aber schon berufsbedingt soviel Ahnung von Medienrecht habe, um zu wissen, dass abgesehen davon …
– ich im öffentlichen Raum fotografieren (aber selbstverständlich personenbezogene Fotos nicht beliebig veröffentlichen) darf.
– in dem gegebenen Abstand mit Handy niemals ein unzulässiges Porträt hätte entstehen können.
– er sowieso in keinster Weise als Polizist erkenntlich war.
Inzwischen hat sich seine Aggressivität etwas reduziert. Er beschuldigt mich, durch mein dauerndes Hilferufen ein merkwürdiges Verhalten an den Tag gelegt zu haben – das solle ich doch mal überdenken, ich hätte ihnen ja einfach mein Handy vor Ort zeigen sollen. Außerdem sei es richtiggehend „gefährlich“, wenn ich umstehende Personen um Hilfe gegenüber Polizisten bitten würde. Auch hätte ich Passanten zur „Gefangenenbefreiung“ aufgefordert. Nach Aufnahme meiner Personalien und (auf meine Forderung hin) des Vorzeigens seiner Identitätskarte (Vorname, Nachname, „Kriminalkommissar“) werde ich auf die Straße geführt.
Fragen an den damaligen SPD-Innenminister Reinhold Gall:
– Weshalb überhaupt der Einsatz von Zivilpolizisten? Naive Frage, ich weiß …
– Wie groß muss der gefühlte rechtsfreie Raum für mehrere Polizisten gleichzeitig sein, wenn sie selbst tagsüber neben einer stark befahrenen Straße so zulangen wie anfangs beschrieben?
– Sind für Sie solche Vorfälle „bedauerliche Einzelfälle“ oder nicht eher deren Veröffentlichung?
– und wie ist es um unsere Justiz bestellt, wenn ich nun mehrfachem, erfahrenem Rat folge, mir nicht mit einer Anzeige selber zu schaden, weil sich Polizisten ihre eigene Wahrheit basteln und sich diese vor Gericht gegenseitig bestätigen. Und weil sie halt so system(at)isch glaubwürdig sind, diese in der Regel auch im Urteil bestätigt bekommen und am Ende ich der Verurteilte bin.
Langfristig nützt der Polizei aber von der Justiz gedeckte Polizeiwillkür mit daraus resultierendem Vertrauensverlust nichts, sie erodiert das Vertrauen. Dagegen helfen auf Dauer auch keine Werbeagenturen.
(Dass ich es wenig später mit einem äußerst warmherzigen und freundlichen Verkehrspolizisten zu tun hatte, der mich als Zeuge zu einem Stadtbahnunfall befragte, ändert leider gar nichts)
Dabei schreibt die Polizei selbst zum Thema Fotografieren:
„Grundsätzlich darf ein Bürger filmen oder fotografieren, was er möchte. Rechtlich knifflig wird es für den Fall, dass das Bildmaterial veröffentlicht werden soll, etwa in der Zeitung oder im Internet“.
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