Von unseren ReporterInnen – Tuttlingen. „Nein zum Heim“, ein Nachfolger von Pegida, trommelte großspurig zu einer Kundgebung auf dem Marktplatz in Tuttlingen – und brachte dann doch nur 23 Anhänger auf die Straße. Zur Gegenveranstaltung „Für ein weltoffenes Tuttlingen – Aufstehen gegen Rassismus“, die der DGB angestoßen hatte, kamen am Sonntag, 12. Juni, einschließlich AntifaschistInnen je nach Zählung mindestens dreißig Mal so viele Menschen auf den Place de Draguignan. Sie feierten ein fröhliches Fest.
Nach Recherchen der „Schwäbischen Zeitung“ kostete der Polizeischutz für die rechte 23-„Mann“-Demo die SteuerzahlerInnen rund 120 000 Euro. Die Polizei zählte bei der Gegenkundgebung 500 Menschen aus verschiedenen Parteien und Organisationen und weitere 150 von der Antifa, die in einer Spontandemo mit Sprechchören, Trillerpfeifen und Transparenten auf den Platz kamen. Der DGB-Kreisvorsitzende Edmond Jäger sprach von fast tausend Nazi-GegnerInnen.
Polizei setzt Pfefferspray ein
Die Polizei war „aufgrund der bisherigen Erfahrungen gleicher Veranstaltungen in Villingen, Schwenningen und Donaueschingen“ – so hieß es in einer Mitteilung – mit einem großen Aufgebot vor Ort, um die TeilnehmerInnen der Kundgebung von „Nein zum Heim“ und der Gegenveranstaltung voneinander zu trennen.
Nach Angaben der Polizei versuchte „eine Gruppe aus dem linken Lager“ in der Stadtkirchstraße eine Absperrung zu entfernen. Hierbei habe sich ein Beamter eine Platzwunde zugezogen. Die Polizei setzte Pfefferspray ein. Auch seien vier Flaschen und Pyrotechnik in Richtung Marktplatz, dem Schauplatz der rechten Kundgebung, geflogen. Die Polizei habe vier Platzverweise erteilt und vier Menschen vorläufig festgenommen. Als Gründe nennt sie „Verstoß gegen das Vermummungsverbot, Körperverletzung, versuchte Gefangenenbefreiung“.
Die NPD ist in Tuttlingen Geschichte
Eine Demonstration gegen Rechts habe es zuletzt vor 29 Jahren in Tuttlingen gegeben, hob Oberbürgermeister Michael Beck in seiner Ansprache auf dem Place de Draguignan hervor – und in dieser Form und Breite noch nie. Alle Ratsfraktionen seien bei der „Kundgebung für Weltoffenheit und Solidarität“ vertreten, um sich „widerlichen Tendenzen“ entgegenzustellen.
Beck erinnerte an Zeiten, als die Stadt „in einem zweifelhaften Ruf“ stand und die NPD dem Gemeinderat angehörte. Man habe jedoch Farbe bekannt, als die NPD vor einigen Jahren in Tuttlingen eine Zentrale errichten wollte: Da sei die Bürgerschaft zusammengestanden. Auch heute wende sich die Stadt, in der Menschen aus über hundert Nationen lebten, gegen Ausgrenzung, Angst und Hass.
Keine einfache Antwort auf schwierige Fragen
„Schwarz, Rot, Gold sind unsere Farben. Wir sind hier das Volk“, stellte Beck klar. Die Welt habe sich verändert. Heute lebten 500 Flüchtlinge in Tuttlingen. Die schutzsuchenden Menschen gut aufzunehmen, sei eine „Herausforderung, wohl wahr“. Doch „auf schwierige Fragen gibt es keine einfachen Antworten“, sagte er. Man wolle das Feld nicht denen überlassen, die mit Angst operierten, gegen Menschen von anderswo hetzten und sogar Schießbefehle an den Grenzen forderten.
„Unsere Aufgabe ist es, die Flüchtlinge zu integrieren und unverhandelbare Werte vorzuleben“, sagte Beck. „Diese Aufgabe braucht Zeit, Mut und Kraft.“ Die Menschenwürde gelte für alle, nicht nur für Deutsche.
Polizei mit starker Präsenz
Auch Edmond Jäger vom DGB, der Initiator der Gegenkundgebung, freute sich „über das bunte Bild aus unterschiedlichen Parteien und Teilen der Zivilgesellschaft.“ Neben Jungen und Alten hob er aber auch gezielt Auswärtige hervor, die extra gekommen seien, um gegen „Nein zum Heim“ zu protestieren.
Eine Gruppe aus dem linken Lager skandierte mit Trillerpfeifen und Sprechchören lautstark gegen die „Nein zum Heim“ Veranstaltung und versuchte in der Stadtkirchstraße eine Absperrung zu entfernen. Hierbei erlitt ein eingesetzter Beamter eine Platzwunde. In der Folge flogen auch vier Flaschen und Pyrotechnik in Richtung des Marktplatzes. Nach dem Ende der genehmigten Kundgebungen lösten sich die einzelnen Gruppierungen auf.
„Nein zum Heim“ für Pegida zu weit rechts
Die Gruppierung sei eine Nachfolgeorganisation der Pegida, trete aber nicht mehr unter diesem Label auf, weil sie sich zu weit nach rechts entwickelt habe. So war nach unseren Beobachtungen etwa NPD-Mann Tim Belz mit seinem charakteristischen, in die Augenbraue rasierten Strich vor Ort.
Die Zahlenverhältnisse zeigten, dass „Nein zum Heim“ nicht für die schweigende Mehrheit spreche, sage Edmond Jäger. Die Parolen der Rechten bestünden nur aus Angst, Wut und Hass. Sie schimpften auf Ausländer, auf Fußball-Nationalspieler mit ausländischen Wurzeln, Flüchtlinge oder den Islam. „Was nimmt es jemandem weg, wenn hier ein islamisches Gotteshaus entsteht?“, fragte Jäger. Wer überhaupt habe in Tuttlingen der Flüchtlinge wegen etwas verloren – etwa seine Wohnung oder seinen Arbeitsplatz?
Gefährliche Spaltung der Gesellschaft
Allerdings: Aus Sicht des DGB-Vorsitzenden kommt es nicht von ungefähr, dass Menschen Angst vor dem sozialen Abstieg haben. Dinge wie Hartz IV hätten die Gesellschaft gespalten – aber auch aktuell dass Vorhaben, Flüchtlinge in Ein-Euro-Jobs mit 80 Cent pro Stunde abzuspeisen. „Da ist ein kritisches Wort erlaubt. Das prangert der DGB an“, stellte Jäger klar.
Die Stimmung gegenüber den Neonazis rund um „Nein zum Heim“ war stellenweise aufgeheizt. Einige GegendemonstrantInnen versuchten, zum Marktplatz durchzudringen, scheiterten aber vor den Hamburger Gittern der Polizei. Auch ein Block von Türken mit Nationalfahnen erzeugte Aufregung, als er die „Nein-zum-Heim“-Kundgebung erreichte. Merkwürdigerweise führte die Polizei auch einen festgenommenen Antifaschisten unmittelbar an der rechten Kundgebung vorbei – und schlug ihn auf den Kopf, als er erwartungsgemäß protestierte.
23 Neonazis wollen „das Volk“ sein
Die kleine Gruppe von „Nein zum Heim“ skandierte immer wieder lautstark „wir sind das Volk“. Die Antwort der GegendemonstrantInnen auf diese Anmaßung kam postwendend: „Ihr habt den Krieg verloren, ihr habt den Krieg verloren“ und „ohne Polizei, wär Tuttlingen längst nazifrei“.
Unter dem Schutz der Polizei kommt es immer wieder zu Aufforderungen durch die Neonazis, die ihre Gegnerschaft mit den Worten „kommt doch her“ provozieren. Die Beamten lassen es zu, dass die rechten Provokateure nur wenige Meter von den AntifaschistInnen ihre Provokationen aufführen.
Zum Abschluss der rechtsradikalen Kundgebung erklang dann noch über Lautsprecher das Deutschlandlied. Unter „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“ fand die Demonstration ihr Ende. Unter massivem Polizeischutz wurden die Neonazis zu ihren Autos geführt.
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